Erstes Kapitel.

[20] Der Arm des Comersees, der sich gegen Süden durch zwei ununterbrochene Bergketten hinzieht und, je nachdem diese hervortreten oder zurückweichen, eine Menge von Buchten und Busen bildet, verengt sich plötzlich und nimmt zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einem gegenüberliegenden weiten Gestade den Lauf und die Gestalt eines Flusses an. Die Brücke, die daselbst beide Ufer verbindet, scheint diese Umwandlung dem Auge noch sichtbarer zu machen und bezeichnet den Punkt, wo der See aufhört und die Adda beginnt. Eine Strecke weiter entfernen sich jedoch die beiden Ufer aufs neue von einander, die Wasserfläche wird breiter und die Adda verwandelt sich wieder in einen See, der in neue Buchten und Busen verläuft. Das Uferland, durch die Anschwemmung dreier großer Gewässer gebildet, senkt sich allmählich und lehnt sich an zwei zusammenhängende Berge, von denen der eine der Sankt Martinsberg, der andere in lombardischer Mundart il Resegone, die große Säge, genannt wird, von seinen vielen emporragenden Spitzen, die ihm in der That das Ansehen einer Säge geben. Wer ihn daher von dem rechten Punkte, wie z.B. von Mailands Basteien aus, die ihm im Norden gerade gegenüber liegen, erblickt, unterscheidet ihn in der langen, ausgedehnten Gebirgskette leicht an diesem einfachen Merkmal, das ihn vor allen übrigen, weniger bekannten und hervorragenden Bergen auszeichnet. Eine gute Strecke weit steigt das Uferland allmählich bergan; dann aber zertheilt es sich in Hügel und Thalschluchten, in Anhöhen und Ebenen, den Felsenmassen der beiden Berge gemäß und dem Bette, das sich die Fluten gewühlt haben.[20] Der äußerste Rand, von den Buchten der Gewässer durchschnitten, besteht fast nur aus Kiessand und Kieselgestein; weiter hinaus sind Felder und Weinberge, einzelne Landgüter mit Wohnhäusern und Gehöften; auch Gebüsche ziehen sich hin und wieder den Berg hinauf. Lecco, die vorzüglichste dieser Ortschaften, die dem ganzen Gebiete den Namen giebt, liegt unfern der Brücke, am Ufer des Sees, und befindet sich sogar zum Theil im See selbst, wenn dieser anschwillt; heutzutage ein ansehnlicher Flecken, der auf dem Wege ist, eine Stadt zu werden. Zu der Zeit nun, als die Begebenheiten sich ereigneten, die wir erzählen wollen, war dieser ansehnliche Flecken auch eine Festung, hatte die Ehre, einen Befehlshaber zu beherbergen, und genoß den Vortheil, eine stehende Besatzung spanischer Soldaten zu besitzen, welche die Frauen und Jungfrauen des Landes Sittsamkeit lehrten, dann und wann einem und dem andern Ehemann oder Vater hülfreich zur Seite standen und am Ende des Sommers niemals ermangelten, sich in die Weinberge zu zerstreuen, um die Trauben zu pflücken und den Landleuten die schwere Mühe der Weinlese zu erleichtern. Von einem Acker zum andern, von der Anhöhe zum Ufer hernieder, von Hügel zu Hügel liefen und laufen noch heute große und kleine Fußwege, mehr oder weniger steil, oder eben; oft durchschneiden sie alte, aus Felsengestein gebildete Mauern, die von Epheu umschlungen über und über grün sind, und wo der erhobene Blick durch die überhangenden Felsen nichts als einen Streifen Himmel oder irgend eine Bergspitze entdeckt; zuweilen ziehen sie sich über offene Hochebenen hin, und von hier aus eröffnet sich dem Blick eine mehr oder weniger weite Aussicht, die aber immer neue Abwechselungen gewährt, je nachdem die verschiedenen Gesichtspunkte einen größern oder kleinern Theil der Gegend umfassen und je nachdem diese oder jene Landschaft hervortritt oder sich verbirgt: überall, wohin man blickt, der reichste Wechsel von Mannigfaltigkeit. Hier erscheint in weiter Ausdehnung der farbenschillernde Spiegel des Sees, der sich dort in weiter Ferne schließt, oder vielmehr sich in irgend einem Irrgange des Gebirges verliert; nach und nach breitet er sich zwischen andern Bergen wieder aus, die einer nach dem andern vor den Blicken auftauchen, und die der See, mit den[21] kleinen Dorfschaften des Gestades in umgekehrtem Bilde zurückwirft. Auf jener Seite zeigt sich der Arm eines Flusses, dann ein See, dann wieder ein Fluß, der in leuchtender Schlangenwindung sich zwischen den Bergen verliert, die ihn begleiten und die, stufenweise sich senkend, gleichsam wie in blauer nebelhafter Ferne am Horizonte verschwinden. Der Ort, von welchem aus der Wanderer diese mannigfaltigen Schauspiele überschaut, bietet selbst immer neue Schauspiele dar; der Berg, an dessen Abhang man hinwandelt, wechselt fast bei jedem Schritte mit seinen Gipfeln und Gründen; was eben noch eine einzige Bergspitze schien, verwandelt sich unvermuthet in eine Bergkette, und was erst sich auf der Anhöhe darstellte, erscheint plötzlich auf ihrem Gipfel; der anmuthige und heimische Eindruck dieser Abhänge mildert so freundlich den Ausdruck des Wilden und schmückt umsomehr die Pracht der übrigen Aussichten.

Durch einen dieser schmalen Fußwege kehrte gegen Abend des 7. Novembers 1628 Don Abbondio **, Pfarrer einer der schon bezeichneten Ortschaften, langsamen Schrittes von einem Spaziergang nach Hause zurück; der Name der Ortschaft wie der Geschlechtsname des Mannes ist in unserm Manuskripte nirgends aufzufinden. Ruhig betete er sein Brevier und schloß zuweilen das Gebetbuch zwischen dem einen und dem andern Psalm, den Zeigefinger der rechten Hand als Merkzeichen dazwischen legend, faltete dann die Hände auf dem Rücken in einander und schritt zur Erde blickend weiter, mit dem Fuße die Steine gegen die Mauer werfend, die ihn auf seinem Wege hinderten.

Endlich erhob er den Blick und heftete ihn auf die Seite eines Gebirges, wo das Licht der schon gesunkenen Sonne durch die Spalten des gegenüberliegenden Berges brach und sich hie und da wie breite ungleiche Purpurstreifen an den hervorragenden Massen abmalte. Nachdem er das Brevier wieder aufgeschlagen und ein anderes Stück gebetet hatte, kam er an eine Krümmung des Weges, wo er stets die Augen vom Buche zu erheben und sich umzuschauen pflegte, wie er es auch heute that. Nach dieser Krümmung ging der Weg etwa sechzig Schritt gerade aus; dann theilte er sich in zwei schmale Wege in Gestalt eines Ypsilons. Der zur[22] Rechten führte den Berg herauf zu der Pfarrwohnung; der linke senkte sich abwärts ins Thal hinab bis zu einem wilden Bache, wo die Mauern dem Wanderer nur bis an die Hüften reichten. Am Ende dieses Pfades befand sich eine kleine Kapelle, an der ziegelfarbig auf grauem Grunde lange, geschlängelte, zugespitzte Figuren gemalt waren, die nach der Absicht des Künstlers und in den Augen der dortigen Bewohner Flammen bedeuteten; diese wechselten wieder ab mit andern unbeschreibbaren Figuren, welche die Seelen im Fegefeuer vorstellen sollten.

Der Pfarrer wandte sich auf seinem Wege um und, indem er den Blick wie gewöhnlich auf die kleine Kapelle richtete, sah er Etwas, das er nicht erwartet hatte und das er lieber nicht gesehen hätte. Zwei Männer standen sich am Zusammenfluß der beiden Fußwege, wenn man so sagen darf, gegenüber: der Eine von ihnen rittlings auf der kleinen, niedrigen Mauer, das eine Bein nach außen hin baumeln lassend, während der andere Fuß auf dem Boden des Weges ruhte; sein Gefährte lehnte stehend gegen die Mauer, die Arme über der Brust gekreuzt.

Haltung, Kleidung und was sonst der Pfarrer von ihrem Aeußern aus der Entfernung erkennen konnte, ließ keinen Zweifel zu über den Stand, dem sie angehörten. Beide hatten auf dem Kopfe ein grünes Netz, aus dem auf der Stirn ein ungeheurer Haarbüschel hervorkam und dessen Ende mit einer großen Quaste auf der linken Schulter herabhing; lange gekräuselte Schnauzbärte, einen glänzenden ledernen Gürtel, in dem zwei Pistolen befestigt waren; ein kleines, gefülltes Pulverhorn an einem Halsband vor der Brust hängend; aus der Tasche der weiten, faltigen Hose sah der Griff eines Messers hervor; einen Degen, in dessen glänzend polirter Messingscheide Namenszüge eingezeichnet waren: auf den ersten Blick erkannte man sie für Bravi.

Diese Gattung von Menschen, welche jetzt ganz verschwunden ist, stand damals in der Lombardei in ihrer Blüthe und war schon sehr alt. Für den, welcher keine Vorstellung von ihr hat, mögen hier einige glaubwürdige Angaben über ihren eigenthümlichen Charakter, über die gemachten Anstrengungen, sie zu vertilgen, und über ihre rauhe, zähe Lebenskraft folgen.[23]

Am 8. April des Jahres 1583 hatte Don Carlos von Aragonien, Fürst von Castelvetrano, Herzog von Terranuova, Marquis von Avola, Graf von Burgeto, Großadmiral und Feldherr von Sicilien, Statthalter von Mailand und Generalkapitän Seiner katholischen Majestät in Italien, »völlig unterrichtet von dem unerträglichen Elend, in welchem die Stadt Mailand wegen der Bravi und Vagabonden lebt und gelebt hat«, eine öffentliche Landesverweisung gegen sie erlassen. Er erklärte und bestimmte darin, »daß alle diejenigen für Bravi und Vagabonden gehalten werden sollen, Fremde oder Einheimische, welche kein Gewerbe haben, oder wenn sie es haben, es nicht treiben, die mit oder ohne Besoldung irgend einem Ritter oder Edelmann, Beamten oder Kaufmann durch Dienstleistungen beistehn, um, wie man es sicher voraussetzen kann, Andern Fallen zu stellen. Allen diesen gebietet er, binnen sechs Tagen das Land zu verlassen, kündigt den Widerspenstigen die Galeerenstrafe an und gestattet allen Gerichtsbeamten die härtesten und unbeschränktesten Gewaltmittel zur Ausübung dieses Befehls.«

Aber schon im Jahre darauf mußte der genannte Herr wahrnehmen, daß die ganze Stadt nach wie vor mit Bravi überfüllt war, die ihr gewöhnliches Leben fortführten, die weder ihre Sitten verändert noch an Zahl abgenommen hatten, und er erließ daher am 12. April einen zweiten, noch schärferen öffentlichen Aufruf, in welchem er unter andern Befehlen vorschreibt: Daß Jeder, wer er auch sei, Bürger oder Fremder, von welchem es durch zwei Zeugen angegeben wird, daß er in der öffentlichen Meinung für einen Bravo gilt, auch wenn ihm kein Verbrechen nachgewiesen werden kann, nur auf den bloßen Verdacht hin, ohne weitere Beweise von jedem Richter auf die Folter gebracht werden kann, um den Proceß gegen ihn einzuleiten, und daß er darnach, ohne irgend ein Verbrechen eingestanden zu haben, nur wegen des Rufes und Namens eines Bravo zu dreijähriger Galeerenstrafe verurtheilt werden kann. Alles dies und noch mehreres (was hier übergangen wird) soll streng befolgt werden, weil »Seine Excellenz fest auf den Gehorsam eines Jeden besteht.«

Man sollte wohl glauben, daß schon der bloße Wiederhall[24] eines so kräftigen, nachdrücklichen Machtwortes alle Bravi hätte für immer verschwinden lassen; aber das Edikt eines nicht weniger mächtigen und berühmten Herrn überzeugt uns vom Gegentheil.

Juan Fernandez von Velasco, Connetabel von Castilien, Oberkammerherr Seiner Majestät, Herzog der Stadt Frias, Graf von Haro und Castelnovo, Herr der Stadt Velasco und der der sieben Infanten von Lara, Statthalter des Mailändischen Staates u.s.w., »auch völlig unterrichtet von dem schädlichen und verderblichen Einfluß, den die Bravi und Vagabonden auf die Wohlfahrt und Sicherheit des Publikums haben, indem die Gerechtigkeit hintergangen wird«, kündigt ihnen am 5. Juni 1593 aufs neue an, daß sie binnen sechs Tagen das Land zu räumen haben und wiederholt ihnen dabei ausdrücklich die Vorschriften und Drohungen seines Vorgängers. Bald darauf aber muß er zu seinem großen Aerger und Schmerz erfahren, »daß die Bravi und Vagabonden sich täglich in der Stadt und im Staate vermehren, daß sie Tag und Nacht Verbrechen aller Art, Raub und Mord ausüben, denen sie sich um so leichter ergeben können, als sie von ihren Häuptern und Helfershelfern in Schutz genommen werden«, und wie man es bei hartnäckigen Krankheiten zu thun pflegt, so wurden auch hier die nämlichen Mittel in verstärkter Dosis verordnet. »Jedermann vermeide durchaus diesen Befehlen entgegen zu handeln«, schließt der Aufruf, »denn Seine Excellenz würde mit unbarmherziger Strenge verfahren, weil sie fest und bestimmt beschlossen hat, daß dies die letzte Warnung sei.«

Sein Nachfolger, Don Pedro Enriquez von Acevedo, Graf von Fuentes, Hauptmann und Statthalter von Mailand, war jedoch aus guten Gründen anderer Meinung; »auch völlig unterrichtet von dem Elende, welches durch die große Anzahl der Bravi über die Mailändischen Staaten hereingebrochen«, ist er entschlossen, dieses verderbliche Volk gänzlich auszurotten, und erläßt am 5. Dezember 1600 einen neuen Aufruf voll ernstester Bedrohungen und fester Vorsätze, »die mit aller Strenge ohne Hoffnung auf Nachsicht buchstäblich ausgeführt werden sollen.«

Man muß jedoch annehmen, daß er sich ihnen nicht mit all dem guten Willen entgegen stellte, den er anzuwenden wußte, um[25] Kabalen zu spinnen und seinem großen Feinde Heinrich IV. Feinde zu erzeugen; denn es gelang ihm, wie die Geschichte beweist, den Herzog von Savoyen gegen den König zu bewaffnen, welcher durch ihn mehr als eine Stadt verlor, und wie gut verstand er es, den Herzog Biron in eine Verschwörung zu verwickeln, durch welche dieser seinen Kopf verlor. Was aber das verderbliche Geschlecht der Bravi betrifft, so vermehrte sich dasselbe bis zum 22. September 1612 unaufhörlich. An diesem Tage dachte Don Giovanni von Mendoza, Markgraf von Hynojosa, Statthalter u.s.w., ernstlich daran, sie auszurotten, und sendete auch wirklich an die königlichen Drucker Pandolfo und Marco Tullio Malatesti die gewöhnliche Verordnung ab, verbessert und vermehrt, damit sie zur Vertilgung der Bravi gedruckt wurde. Dieselben lebten aber ungestört fort, und Don Gomez Suarez von Figueroa, Herzog von Feria, Statthalter u.s.w., erließ am 24. Dezember 1618 die nämlichen, noch stärkeren Drohungen an sie. Sie wurden aber auch hierdurch nicht vernichtet, und Don Gonzalo Fernandez von Cordova, unter dessen Regierung Don Abbondio seinen Spaziergang machte, sah sich gezwungen, am 5. Oktober 1627, also ein Jahr, einen Monat und zwei Tage vor jenem gedachten Ereigniß, die gewöhnlichen Aufrufe gegen die Bravi wieder bekannt zu machen.

Es war dies nicht die letzte Bekanntmachung; wir erwähnen aber der nachherigen hier nicht mehr, weil sie über die Zeit, in der unsre Geschichte sich zutrug, hinausgehen. Nur einer gedenken wir noch, vom 13. Februar 1632, in welcher der Herzog von Feria, zum zweiten Male Statthalter, uns verkündet, »daß die allerschlimmsten Schandthaten von den Bravi ausgehen«. Dies genügt, um zu wissen, daß es in der Zeit, in der wir uns bewegen, immer noch Bravi gab.

Daß die zwei vorher beschriebenen hier Jemand erwarteten, war nur allzu klar; was aber Don Abbondio dabei sehr mißfiel, war, daß er aus gewissen Bewegungen bemerken mußte, er sei der Erwartete. Denn bei seinem Erscheinen hatten Beide schnell den Kopf erhoben, sich einander angesehen, als sagten sie Beide auf einmal zugleich: Er ist es. Der, welcher rittlings saß, hatte sich[26] erhoben, indem er das Bein nach dem Wege herüberzog; der andere trat von der Mauer zurück und Beide schritten ihm entgegen. Der Pfarrer hatte sein Brevier geöffnet und that als ob er läse, blickte aber heimlich darüber hin, um ihre Bewegungen zu beobachten, und da er sie grade auf sich zukommen sah, bestürmten ihn plötzlich tausend Gedanken. Er fragte sich schnell, ob zwischen den Bravi und ihm nicht rechts oder links noch ein Ausweg wäre, aber eben so schnell erinnerte er sich, daß keiner war; rasch prüfte er sich dann, ob er sich vielleicht gegen irgend einen Mächtigen oder einen Rachsüchtigen vergangen habe, doch sein gutes Gewissen beruhigte und tröstete ihn in dieser Qual. Die beiden Bravi kamen indessen immer näher, indem sie ihn scharf beobachteten. Er steckte den Zeige- und Mittelfinger der linken Hand in seinen Halskragen, als wollte er ihn zurecht rücken, und indem er dabei das Gesicht umwandte, schielte er, so weit er konnte, hinter sich, ob vielleicht Jemand des Weges käme; aber er sah Niemand. Er warf einen Blick über die kleine Mauer nach den Feldern: auch hier zeigte sich Niemand. Schüchtern wagte er es, grade aus zu sehen, doch nichts zeigte sich seinen Blicken als die beiden Bravi. Was thun? Umkehren? Davonlaufen? Dazu war keine Zeit mehr; auch hieße es ihnen zurufen: verfolgt mich, und das wäre noch schlimmer. Da er der Gefahr nicht ausweichen konnte, so lief er ihr entgegen, denn die Augenblicke der Ungewißheit wurden so peinigend für ihn, daß er nichts mehr wünschte, als sie abzukürzen. Er beeilte daher seine Schritte, betete mit lauterer Stimme einen kleinen Vers her und zwang seinem Gesicht so viel Ruhe und Heiterkeit auf, als er nur irgend konnte. Als er sich gleich darauf den rechtschaffenen Männern dicht gegenüber befand, sagte er in Gedanken: da sind wir, und blieb lächelnd stehen. »Herr Pfarrer«, sagte einer der Beiden und durchbohrte ihn mit den Augen.

»Was befehlen Sie?« antwortete schnell Don Abbondio, indem er die Augen von dem Buche erhob, welches er aufgeschlagen immer vor sich hinhielt. »Sie haben den Vorsatz«, fuhr der Andere drohend und zornig fort, als ob er einen Untergebenen auf einer Schelmerei ertappe, »Sie haben die Absicht, Renzo Tramaglino[27] und Lucia Mondella morgen zu trauen.« »So ist es«, antwortete mit zitternder Stimme Don Abbondio: »so ist es. Sie sind Weltmänner, meine Herren, und wissen sehr gut, wie es mit solchen Dingen geht. Der arme Pfarrer wird so mit hineingezogen; sie machen ihre Geschäfte unter sich ab, und dann .... und dann kommen sie zu uns, um den Schaden wieder gut zu machen; und wir ... wir sind die Diener der Gemeinde.«

»Wohlan«, sagte der Bravo leise, aber im festen, befehlenden Ton, »diese Ehe wird nicht geschlossen werden, weder morgen, noch jemals.«

»Aber, meine Herren«, erwiederte Don Abbondio so sanftmüthig und höflich wie Jemand, der einen Ungeduldigen überzeugen will, »aber, meine Herren, versetzen Sie sich doch einmal in meine Stelle .... wenn die Sache von mir abhinge ... Sie sehen wohl, daß ich nichts davon habe ...«

»Ei was«, unterbrach ihn der Bravo, »wenn die Sache mit Geschwätz abgemacht wäre, so würden Sie uns bald in die Tasche stecken. Wir verstehen nichts davon und wollen auch nichts mehr davon wissen. Sie sind gewarnt ... Sie verstehen uns.«

»Aber die Herren sind viel zu gerecht, viel zu vernünftig ....«

»Aber«, entgegnete diesmal der andere Geselle, der bis jetzt noch nicht gesprochen hatte, »aber aus der Ehe wird nichts, oder ....« hier folgte ein derber Fluch, »oder wer sie abschließt, der wird es nicht bereuen, weil er keine Zeit dazu haben wird und ....« abermals ein Fluch.

»Still, still!« fing der erste Sprecher wieder an, »der Herr Pfarrer kennt die Welt; und wir sind rechtschaffene Leute, die ihm nichts Uebles zufügen wollen, wenn er Vernunft annimmt. Herr Pfarrer! der gnädige Herr, Don Rodrigo, unser Gebieter, läßt Sie freundlich grüßen.«

Dieser Name wirkte in Don Abbondio's Seele wie ein Blitzstrahl, der bei einem nächtlichen Sturmgewitter plötzlich die Gegenstände auf einen Augenblick beleuchtet und den Schrecken erhöht. Unwillkürlich machte er eine tiefe Verbeugung und sagte: »Wenn Sie mir nur beibringen könnten ...« »Oho! Ihnen was beibringen, der sehr gut Latein versteht«, unterbrach ihn der Bravo[28] mit einem groben, wüthenden Gelächter. »An Ihnen ist die Reihe. Und vor Allem lassen Sie sich kein Wort entschlüpfen über den Wink, den wir Ihnen zu Ihrem Besten gegeben haben; sonst ..... eh ..... würde Ihnen dasselbe geschehen, als wenn Sie die Ehe schließen. Wohlan, was sollen wir in Ihrem Namen dem gnädigen Herrn Don Rodrigo sagen?«

»Daß ich ehrerbietig ...«

»Erklären Sie sich deutlicher!«

»Bereit ... bereit bin, ihm zu gehorchen.«

Indem er diese Worte aussprach, wußte er eigentlich nicht, ob er ein Versprechen von sich gab oder nur eine Höflichkeitsbezeigung. Die Bravi aber stellten sich, als ob sie solche in ernsterem Sinne nähmen.

»Sehr wohl, Herr Pfarrer, gute Nacht«, sagte der Eine, im Begriff sich mit seinem Gefährten zu entfernen. Don Abbondio, der wenige Augenblicke vorher eines seiner Augen darum gegeben haben würde, ihnen zu entkommen, hätte jetzt gern die Unterhaltung und die Unterhandlung verlängert. »Meine Herren«, hub er an, indem er das Gebetbuch mit beiden Händen schloß; diese aber hörten ihn nicht weiter an, sondern schlugen den Weg ein, auf dem sie gekommen waren, und entfernten sich, ein Liedchen singend, das ich nicht beschreiben will. – Der arme Don Abbondio blieb einen Augenblick mit offenem Munde wie verzaubert stehen; dann schlug er den der beiden Wege ein, welcher nach seinem Hause führte, nur mühsam seine Beine, die ihm wie gelähmt schienen, vorwärts bringend. Man wird seinen Gemüthszustand besser verstehen, wenn wir Einiges über die Verhältnisse und die Zeiten, in denen er lebte, mitgetheilt haben werden.

Don Abbondio, der Leser wird es schon wahrgenommen haben, war nicht mit dem Herzen eines Löwen auf die Welt gekommen. Von seinen frühsten Jahren an hatte er erfahren müssen, daß der schlimmste Stand der eines Thieres ohne Klauen und ohne Zähne ist, welches nicht zugleich auch die Neigung, sich verschlingen zu lassen, in sich fühlt. Die gesetzliche Macht beschützte einen ruhigen, friedlichen Menschen in keiner Weise. Nicht,[29] daß es an Gesetzen und Strafen gegen Gewaltthaten gefehlt hätte; sie regneten vielmehr hernieder; die Verbrechen waren aufgezählt und mit ängstlicher Weitschweifigkeit beschrieben; die thöricht übertriebenen Strafen wurden fast bei jedem einzelnen Falle nach der Willkür des Gesetzgebers oder der hundert Vollzieher noch vergrößert, und das ganze Verfahren zielte nur darauf hin, den Richter von Allem zu entbinden, was ihm bei einer Verurtheilung hinderlich sein konnte. Die Stellen, welche wir aus den Verordnungen gegen die Bravi angeführt haben, sind ein kleiner, aber treffender Beweis davon.

Trotzdem, vielleicht grade aus diesem Grunde dienten die immer wiederholten und verstärkten Verordnungen unter den verschiedenen Regierungen nur dazu, die Ohnmacht ihrer Erlasser zu bekunden; oder, wenn sie wirklich einigen Erfolg hervorbrachten, so war es nur der, daß sie die Bedrückungen, welche die Friedsamen und Schwachen schon genug von den Ruhestörern zu erdulden hatten, noch vermehrten. Die Straflosigkeit war so ausgebildet, daß sie Wurzeln hatte, welche die öffentlichen Aufrufe weder fassen, noch ausreißen konnten. Derartig waren auch die Zufluchtstätten und die Vorrechte einiger Stände, welche die gesetzliche Macht theils anerkannte, theils mit grollendem Stillschweigen duldete, oder mit vergeblichen Einsprüchen angriff, die aber von jenen Ständen mit Eifersucht auf ihren Vortheil und auf ihre Ehre behauptet und beschützt wurden. Diese Straflosigkeit, jetzt bedroht und beschimpft, aber durch keine Verordnung zerstört, mußte natürlich, bedroht und angegriffen, immer neue Kräfte und neue Erfindungen anwenden, um sich zu erhalten. So geschah es denn auch in der That; beim Erscheinen der Verordnungen, um die Gewaltthätigen zu unterdrücken, suchten diese in ihrer wirklichen Kraft neue bequemere Mittel, um das, was jene untersagt hatten, fortsetzen zu können. Sie durften freilich den Arglosen, der ohne eigene Kraft und ohne Schutz war, bei jedem Schritte festnehmen und ängstigen; denn dazu hatten sie Jedermann an der Hand, und um Verbrechen zu verhüten oder zu bestrafen, unterwarfen sie jede Bewegung des Privatmannes dem willkürlichen Ausspruch von Gesetzesvollziehern jeder Art.[30]

Wer aber, ehe er ein Verbrechen beging, seine Maßregeln getroffen hatte, sich bei Zeiten in ein Kloster oder in einen Palast zu flüchten, wohin die Schergen niemals gewagt haben würden, den Fuß zu setzen; wer, ohne andere Versicherungen, eine Livree trug, die zu vertheidigen die Eitelkeit und der Vortheil, eine mächtige Familie, einen ganzen Stand verpflichtete, der war in seinen Handlungen frei und konnte über die Menge von Verordnungen sich lustig machen. Selbst von denen, die angestellt waren, die selben vollziehen zu lassen, gehörten Einige durch Geburt der bevorrechteten Partei an, der sich Andre des Schutzes wegen unterwarfen; diese wie jene hielten durch Erziehung, Vortheil, Gewohnheit und durch Nachahmung an den gefaßten Grundsätzen fest, und sie würden sich wohl gehütet haben, aus Liebe für ein an die Ecken ausgehängtes Stück Papier dieselben zu verletzen. Wenn auch die mit der unmittelbaren Ausführung beauftragten Menschen unternehmend wie Helden, gehorsam wie Mönche und opferfähig wie Märtyrer gewesen wären, sie würden damit nichts erreicht haben, denn sie waren nicht nur an Anzahl geringer als die, mit denen sie in den Kampf traten, sie hatten auch noch die herrliche Aussicht, von dem verlassen zu werden, der ihnen zu handeln gebot. Ueberdies waren dieselben im Allgemeinen die verworfensten und ruchlosesten Subjekte ihrer Zeit; ihr Amt ward sogar von denen für verächtlich gehalten, welche sich davor fürchteten, und ihr Titel galt für eine Beschimpfung. Es war daher wohl natürlich, daß sie, anstatt ihr Leben aufs Spiel zu setzen und an ein verzweifeltes Unternehmen wegzuwerfen, ihre Unthätigkeit oder vielmehr ihre Nachsicht an die Mächtigen verkauften und sich vorbehielten, ihr verabscheutes Amt und die Macht, welche sie noch hatten, bei gefahrlosen Gelegenheiten, bei Bedrückung friedlicher und wehrloser Menschen auszuüben.

Wer beleidigen will, oder jeden Augenblick fürchtet, beleidigt zu werden, sucht natürlicherweise Verbündete und Gefährten. Daher war in jenen Zeiten das Bestreben der Einzelnen, nach Ständen zusammenzuhalten, immer neue Bundesgenossen anzuwerben und ihnen die größte Macht zu verschaffen, auf die höchste Spitze getrieben. Die Geistlichkeit überwachte ihre Freiheiten,[31] um sie zu behaupten und zu erweitern, der Adel seine Vorrechte, der Kriegsmann seine Begünstigungen. Die Kaufleute und die Handwerker waren in Zünfte und Brüderschaften eingeschrieben. Die Rechtsgelehrten schlossen ein Bündniß und selbst die Aerzte bildeten eine Körperschaft. Jede dieser kleinen Verbindungen hatte ihre eigene besondere Gewalt, wodurch der Einzelne den Vortheil erlangte, nach seiner Geschicklichkeit und nach seinem Ansehn die verbundenen Kräfte Vieler für sich zu verwenden. Die Redlichen benutzten diesen Vortheil zu ihrer Vertheidigung; die Schlauen und Ruchlosen, um Schurkenstreiche auszuführen, zu denen ihre persönlichen Mittel nicht ausreichend gewesen sein würden, und um sich vor Bestrafung sicher zu stellen. Die Kräfte dieser verschiedenen Verbindungen waren jedoch sehr ungleich; besonders auf dem Lande übte der reiche und mächtige Edelmann, von einer Schaar Bravi und dem Bauernvolke umgeben, die durch angestammte Rechte oder durch Eigennutz und Zwang sich fast wie Untergebene und Soldaten der Herrn betrachteten, eine Macht aus, der schwerlich irgend eine andere Verbindung hätte widerstehen können.

Unser Abbondio, weder adelig noch reich, am wenigsten aber beherzt, hatte gleich bei seinem Austritt aus den Kinderjahren wahrgenommen, daß er unter diesen Zuständen wie ein Gefäß von gebrannter Erde sei, das in Gesellschaft vieler eiserner Gefäße gezwungen sei, mitzuwandern. Er war darum auch dem Willen seiner Eltern, die ihn zum Priester bestimmten, durch Gehorsam entgegengekommen, ohne daß er, um die Wahrheit zu sagen, viel über die Pflichten und die edle Bestimmung des Amtes, dem er sich widmete, nachgedacht hätte. Sich einen behaglichen Lebensunterhalt zu sichern und in einen begünstigten, mächtigen Stand einzutreten, diese beiden Gründe schienen ihm mehr als ausreichend für seine Wahl. Aber welcher Stand es auch war, er beschützte und sicherte den Einzelnen doch nur bis auf einen gewissen Grad, keinem erließ er die Pflicht, nach einem gewissen System zu handeln. Don Abbondio, unaufhörlich von Gedanken für seine eigene Sicherheit und Ruhe erfüllt, kümmerte sich nicht um jene Vortheile, denn um sie zu erlangen, hätte er sich sehr bemühen oder[32] doch Etwas wagen müssen. Sein System bestand vorzüglich darin, alle Händel zu vermeiden oder, wenn er dies nicht konnte, nachzugeben. Neutralität entwaffnete alle Kriege um ihn herum, die aus den äußerst häufigen Streitigkeiten zwischen der Geistlichkeit und der weltlichen Macht, zwischen dem Militär und den Bürgerlichen und den Edelleuten unter sich entsprangen, bis zu den Zänkereien zweier Landleute herab, die, durch ein Wort erzeugt, mit Faustschlägen oder Messerstichen entschieden wurden. Wenn er durchaus gezwungen war, zwischen zwei Kämpfenden Partei zu nehmen, so hielt er es mit dem Stärkeren, indem er sich bestrebte, den andern merken zu lassen, daß er nur sehr ungern sein Feind sei; er schien ihm zu sagen: warum habt ihr es nicht verstanden, der Stärkere zu sein –, ich würde mich auf eure Seite gestellt haben. Von den Uebermächtigen hielt er sich fern; und indem er sich stellte, als merke er ihre vorübergehenden, launenhaften Beleidigungen nicht, begegnete er den Kränkungen, die aus ernsterer, wohl überlegter Absicht hervorgingen, mit Bücklingen und ergötzlicher Unterwürfigkeit, wodurch er sogar den Trotzigsten und Grämlichsten ein Lächeln abzwang, wenn sie ihm unterwegs begegneten. So war es dem armen Manne gelungen, ohne Stürme sechzig Jahre zurückzulegen.

Es ist damit aber nicht gesagt, daß er nicht auch sein Theil Galle im Leibe gehabt hätte; diese unaufhörliche Uebung im Erdulden, das öftere Rechtgeben, die vielen stillschweigend heruntergeschluckten bitteren Pillen hatten sie ihm dermaßen erregt, daß, wenn er ihr nicht von Zeit zu Zeit hätte Luft machen können, seine Gesundheit ganz gewiß darunter gelitten haben würde. Aber wie überhaupt in der Welt, so gab es auch in seiner Nähe Menschen, die er für durchaus unfähig erkannt hatte, Böses zu thun; an diesen konnte er öfters seine lang zurückgehaltene übele Laune auslassen, ohne daß er Grund und Recht hatte, zu schelten. Er war denen, die nicht nach seinem Sinne lebten, ein strenger Sittenrichter, wenn er dies Amt ohne Gefahr ausüben konnte. Der Geschlagene war zum allerwenigsten ein unkluger, der Ermordete war immer ein störriger Mensch gewesen. Wer seine Rechte gegen einen Mächtigen behaupten wollte und einen[33] zerschlagenen Kopf davon trug, dem wußte Don Abbondio immer Unrecht zu geben, was nicht schwer ist, da Recht und Unrecht sich nicht so genau sondern und unterscheiden lassen, daß ein Theil nur das Eine von beiden hätte. Vor Allem aber eiferte er gegen seine Mitbrüder, welche auf ihre Gefahr hin Partei nahmen für einen Schwachen gegen einen übermüthigen Unterdrücker. Dies nannte er mit Gewalt Händel suchen und den Hunden in den Weg laufen und sagte sehr ernst, daß diese Einmischung in weltliche Dinge der Würde des heiligen Amtes schade. Gegen diese predigte er, wenn auch nur unter vier Augen oder in einem ganz kleinen Plauderkreise, mit um so größerer Hitze, je mehr er von ihnen wußte, daß sie über Dinge, die sie persönlich betrafen, keinen Unwillen äußerten. Er hatte dann eine Lieblingsredensart, mit welcher er immer Gespräche über diese Gegenstände besiegelte: daß ein Ehrenmann, der auf sich und auf seinen Stand halte, niemals in schlechte Händel gerathe.

Meine fünfundzwanzig Leser können sich nun denken, welchen Eindruck die schon erwähnte Begegnung auf das Gemüth des Aermsten machen mußte. Der Schrecken über jene unheimlichen Gesichter und jene schlimmen Reden, die Drohung eines Herrn, von dem es bekannt war, daß er nicht vergebens drohte, das System eines ruhigen Lebens, das so viele Jahre des Studiums und der Geduld gekostet hatte, zerstört zu sehen in einem Augenblick, mit einem Schritte, bei dem man den Ausgang nicht absehen konnte: alle diese Gedanken summten wild durcheinander in dem schwachen Kopfe Don Abbondio's.

Wenn Renzo sich mit einem einfachen Nein zufriedenstellen ließe, wohlan; aber er wird Gründe verlangen und was, um's Himmels willen kann ich ihm antworten? Ei, ei, ei, er hat auch seinen Verstand; ein Lamm, wenn ihn keiner anrührt – aber wenn ihm einer widersprechen will .... ih! und dann, dann Lucia aufgeben, in die er verliebt ist wie .... lose Buben, die sich verlieben, weil sie nicht wissen, was sie anfangen sollen, dann heirathen wollen, ohne an etwas Anderes zu denken. Sie machen sich kein Gewissen über den Kummer, den sie über einen armen, ehrlichen Mann bringen.[34]

O ich Armer! warum mußten grade diese beiden Schreckgestalten mir in den Weg treten und mit mir anbinden! Was geht's mich an? Will ich mich verheirathen? Warum wendeten sie sich nicht lieber an ... O laßt uns einmal bedenken ... es ist mein Schicksal, daß mir die klugen Gedanken immer erst einfallen, wenn ich sie nicht mehr benutzen kann. Wenn man daran gedacht hätte, ihnen beizubringen, daß sie ihren Auftrag .... – aber in diesem Augenblick fiel ihm ein, daß es doch zu gottlos wäre, wenn er bereute, die Bosheit durch seinen Rath nicht unterstützt zu haben, und all sein Ingrimm richtete sich nun gegen jenen Andern, der ihm so seine Ruhe genommen hatte. Er kannte Don Rodrigo nur von Ansehen und vom Rufe, er hatte niemals etwas anderes mit ihm zu schaffen gehabt, als daß er die wenigen Male, wo er ihm begegnet war, sich so tief vor ihm verbeugt hatte, daß die Spitze seines Hutes fast die Erde berührte. Er hatte bei mehr als einer Gelegenheit den Ruf dieses Herrn gegen diejenigen vertheidigt, die, leise seufzend und die Augen gen Himmel gerichtet, irgend eine seiner Handlungen verwünschten; er hatte hundertmal gesagt er sei ein ehrenwerther Cavalier. Aber in diesem Augenblick gab er ihm in seinem Herzen alle die Titel, die er ihm niemals von Andern hatte beilegen hören, ohne eiligst mit einem, o bewahre! dazwischen zu fahren.

In dem Sturm dieser Gedanken langte er an der Thür seines Hauses an, das im Hintergrund des Dörfchens stand, steckte eiligst den Schlüssel, den er schon in der Hand hielt, in das Schloß, öffnete, trat ein, schloß vorsichtig wieder zu und rief ängstlich nach seiner treuen Gefährtin: »Perpetua! Perpetua!« indem er auf den kleinen Saal zuschritt, wo sie ganz gewiß sein mußte, um das Abendessen anzurichten.

Perpetua war, wie Jeder merkt, die Dienerin Don Abbondio's, eine treu ergebene Dienerin, die nach Umständen zu gehorchen und zu gebieten wußte und es zu rechter Zeit verstand, das Gebrumme und die Launen ihres Gebieters zu ertragen, wofür er die ihrigen nicht minder erdulden mußte, die von Tag zu Tag häufiger wurden, da sie das sehr mündige Alter der Vierziger überschritten hatte und ledig geblieben war, weil sie alle Heirathsanträge,[35] die ihr gemacht waren, ausgeschlagen hatte, wie sie sagte, oder weil sich auch nicht einmal ein Hund, wie ihre Freundinnen sagten, gefunden hatte, der sie wollte.

»Ich komme«, antwortete sie, indem sie sich langsam in Bewegung setzte und das Fläschchen mit dem Lieblingsweine Don Abbondio's an den gewohnten Ort auf den kleinen Tisch stellte; sie hatte aber die Schwelle des Zimmers noch nicht berührt, als er schon eintrat mit so hastigem Schritt, so scheuem Blick und so verstörtem Angesichte, daß es nicht einmal der geübten Augen Perpetua's bedurfte, um auf den ersten Blick zu erkennen, daß ihm wirklich etwas ganz Außerordentliches widerfahren sei.

»Barmherzigkeit! was ist Ihnen, theurer Herr?«

»Nichts, nichts«, erwiederte Don Abbondio und ließ sich ganz erschöpft in seinen großen Lehnstuhl nieder.

»Wie, nichts? Das wollen Sie mir einreden? Das ist schändlich! Irgend ein großes Ereigniß ist vorgefallen.«

»O um des Himmels willen! wenn ich sage nichts, so ist es nichts, oder es ist etwas, das ich nicht sagen kann.«

»Das Sie auch mir nicht sagen können? Wer wird für Ihre Gesundheit Sorge tragen? Wer wird Ihnen einen Rath geben?«

»Weh mir! Schweig und gieb mir weiter nichts als ein Glas von meinem Wein.«

»Und Sie wollen behaupten, daß Ihnen nichts ist?« sagte Perpetua, indem sie das Glas füllte und in der Hand behielt, als ob sie es ihm nur als Belohnung des Vertrauens geben wollte, auf das er sie so sehr warten ließ.

»Gieb her, gieb her!« rief Don Abbondio, das Glas mit zitternder Hand ergreifend und es so schnell leerend, als ob es eine Arzenei wäre.

»Sie wollen mich also zwingen, daß ich überall herum frage, was meinem Herrn zugestoßen ist?« fragte ihn Perpetua, dicht vor ihm stehend; die Hände in die Seiten gestützt, die spitzen Ellenbogen voraus, blickte sie ihn fest an, als wollte sie ihm gleichsam das Geheimniß aus den Augen saugen.

»Um des Himmels willen! mach mir keine Klatschereien, mach mir keinen Lärm; es gilt ... es gilt das Leben!«[36]

»Das Leben!«

»Das Leben.«

»Sie wissen recht gut, daß ich, so oft Sie mir etwas im Vertrauen sagten, daß ich niemals ...«

»Großsprecherei! wie oft ...«

Perpetua fühlte, daß sie eine falsche Saite angeschlagen hatte; darum änderte sie schnell den Ton und sagte mit bewegter rührender Stimme: »Lieber Herr, ich bin Ihnen immer ergeben gewesen, und wenn ich jetzt wissen möchte, was Sie quält, so geschieht es aus Eifer, weil ich Ihnen durch guten Rath beistehen und Ihr Herz erleichtern möchte ....«

Die Thatsache steht fest, daß Don Abbondio vielleicht ebenso viel Lust hatte, sich seines schmerzlichen Geheimnisses zu entledigen, als Perpetua, es zu kennen; nachdem er also immer schwächer ihr wieder holtes stürmisches Eindringen zurückgewiesen, nachdem er sie mehr als einmal hatte schwören lassen, mit keinem Athemzuge davon etwas zu verrathen, erzählte er endlich, oftmals durch Ach und Weh unterbrochen, die unglückliche Begebenheit. Als er auf den schrecklichen Namen des Anstifters kam, mußte Perpetua einen neuen, noch feierlicheren Schwur ablegen, und nachdem Don Abbondio den Namen ausgesprochen, warf er sich tief und schwer seufzend in seinen Stuhl zurück, erhob die Hände wie befehlend und bittend zugleich, indem er sagte: »Um des Himmels willen!«

»All ihr Heiligen!« schrie Perpetua. »O welch ein Schurke, welch ein Wüstling! welch ein gottloser Mensch!«

»Willst du schweigen? oder willst du mich ganz verderben?«

»O, wir sind hier allein, es hört uns hier Niemand. Aber wie werden Sie es nun machen, armer, lieber Herr?«

»O seht mir doch«, sprach Don Abbondio mit zorniger Stimme, »seht, was für einen schönen Rath mir Die zu geben weiß! Fragt mich, was ich machen werde, was ich machen werde, grade als ob sie in der Verlegenheit steckte und es an mir wäre, sie herauszureißen.«

»O, ich würde Ihnen wohl meinen einfältigen Rath geben können, aber dann ...«

»Aber dann ...! Laß hören.«[37]

»Mein Rath wäre, da doch alle sagen, daß unser Erzbischof ein heiliger, beherzter Mann ist, der Niemand fürchtet und der sich eine große Freude daraus machen wird, einen Pfarrer gegen einen so mächtigen Schelm zu beschützen, daß Sie ihm einen schönen Brief schreiben und ihm darin Alles kund thun, wie ...«

»Willst du schweigen? willst du schweigen? Sind das Rathschläge, wie man sie einem armen Manne giebt? Wenn mich eine Flintenkugel in den Rücken träfe, Gott helfe mir! würde sie mir der Erzbischof wieder herausziehen?«

»Ei, die Flintenkugeln theilt man nicht wie Zuckerwerk aus! und wehe uns, wenn die Hunde allemal beißen wollten, wenn sie bellen. Ich habe immer bemerkt, daß man vor dem Achtung hat, der die Zähne zu zeigen weiß, und grade, weil Sie niemals für Ihr Recht sprechen wollten, ist es so weit mit uns gekommen, daß alle, mit Erlaubniß ....«

»Willst du schweigen?«

»Ich schweige gleich, aber es ist doch wahr, daß, wenn die Welt merkt, daß Einer bei jeder Gelegenheit bereit ist, die Segel ....«

»Willst du schweigen? Ist es jetzt an der Zeit, solche Dummheiten zu reden?«

»Genug; Sie werden in der Nacht darüber nachdenken; aber fangen Sie nicht an, sich selbst zu quälen, damit Sie Ihre Gesundheit nicht zu Grunde richten; essen Sie einen Bissen.«

»Ich werde darüber nachdenken«, brummte Don Abbondio, »gewiß, ich werde darüber nachdenken, ich muß darüber nachdenken«, und er erhob sich, fortfahrend: »ich will nichts genießen, nichts; ich habe kein Verlangen darnach, ich weiß wohl selbst, daß jetzt die Reihe an mir ist, nachzudenken. Aber mußte es denn grade mir begegnen!«

»Trinken Sie nur wenigstens dies Tröpfchen noch«, sagte Perpetua einschenkend, »Sie wissen, daß Ihnen das den Magen immer wieder herstellt.«

»Ach! der braucht ein anderes Mittel, ein anderes Mittel.«

So sprechend, nahm er das Licht und brummte vor sich hin: »eine erbärmliche Schurkerei! einem rechtschaffenen Manne wie[38] ich! und wie wird es morgen ablaufen?« Unter andern gleichen Wehklagen brach er auf, um nach seinem Zimmer zu gehen. Auf der Schwelle angelangt, wendete er sich nach Perpetua um, legte den Zeigefinger auf den Mund, sagte mit langsamem, feierlichem Ton: »Um des Himmels willen!« und verschwand.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 1, S. 20-39.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten. Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert
Die Verlobten: Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert (insel taschenbuch)
Die Verlobten: Eine Mailändische Geschichte aus dem Siebzehnten Jahrhundert

Buchempfehlung

Anonym

Schau-Platz der Betrieger. Entworffen in vielen List- und Lustigen Welt-Händeln

Schau-Platz der Betrieger. Entworffen in vielen List- und Lustigen Welt-Händeln

Ohnerachtet Schande und Laster an ihnen selber verächtlich / findet man doch sehr viel Menschen von so gar ungebundener Unarth / daß sie denenselben offenbar obliegen / und sich deren als einer sonderbahre Tugend rühmen: Wer seinem Nächsten durch List etwas abzwacken kan / den preisen sie / als einen listig-klugen Menschen / und dahero ist der unverschämte Diebstahl / überlistige und lose Räncke / ja gar Meuchelmord und andere grobe Laster im solchem Uberfluß eingerissen / daß man nicht Gefängnüsse genug vor solche Leute haben mag.

310 Seiten, 17.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon