|
[203] Eine Nacht, gegen Ende August, gerade als die Pest am heftigsten wüthete, kehrte Don Rodrigo nach seinem Hause in Mailand zurück; ihn begleitete der treue Graue, einer von den dreien oder vieren, die ihm von der ganzen Dienerschaft am Leben geblieben waren. Er kam aus einer Gesellschaft von Freunden, die sich gewöhnlich zu Schwelgereien versammelten, um die traurigen Zeiten zu vergessen; jedesmal fanden sich neue Freunde ein, jedesmal vermißte man alte. An diesem Tage war Don Rodrigo einer der lustigsten gewesen und hatte unter andern mit einer Art von lobpreisender Leichenrede auf den Grafen Attilio, der zwei Tage vorher von der Pest hinweggerafft worden war, die Gesellschaft tüchtig ins Lachen gebracht.
Indem er vorwärts schritt, empfand er jedoch eine Uebelkeit, eine Abspannung, eine Schwäche in den Beinen, eine Beschwerde beim Athemholen, eine innere Hitze, die er gern nur dem Weine, der durchwachten Nacht, der Jahreszeit zugeschrieben hätte. Er sprach auf dem ganzen Wege kein Wort; zu Hause angelangt, war sein erstes Wort, daß er dem Grauen befahl, Licht anzuzünden, um ihn in das Schlafzimmer zu geleiten. Als sie eingetreten waren, betrachtete der Graue das Gesicht seines Herrn; es war verzerrt, erhitzt, die Augen waren hervorgetreten und gläsern; er hielt sich von ihm fern, denn in solchen Umgebungen[203] hatte jeder gemeine Knecht sich, wie man sagt, einen ärztlichen Blick anschaffen müssen.
»Ich bin gesund, wie du siehst«, sagte Don Rodrigo, der in dem Benehmen des Grauen den Gedanken las, der ihm durch den Sinn ging, »ich bin ganz gesund, aber ich habe getrunken, ich habe vielleicht zu viel getrunken. Der Wein war zu stark .... ein tüchtiger Schlaf macht alles wieder gut. Ich bin sehr müde .... stelle mir das Licht ein wenig zurück, es blendet mich .... ich kann's nicht ertragen ....«
»Das sind die Streiche des starken Weines«, sagte der Graue und hielt sich immer zurück. »Gehen Sie nur schnell zu Bett, der Schlaf wird Ihnen gut thun.«
»Du hast Recht; wenn ich schlafen kann .... Uebrigens .... bin ich gesund. Stell nur die Klingel hierher, im Fall ich diese Nacht etwas nöthig habe; und sei bereit, wenn du schellen hörst. Aber ich werde nichts nöthig haben .... Nimm mir das verwünschte Licht da weg«, rief er, während der Graue den Befehl vollzog und so wenig als möglich ihm nahe kam. »Weiß der Teufel, warum es mir so zuwider ist!«
Der Graue nahm das Licht, wünschte seinem Herrn gute Nacht und während dieser sich zudeckte, ging er schnell hinaus.
Aber die Decke dünkte ihm ein Berg. Er warf sie weg und krümmte sich, um einzuschlafen, denn er war wirklich todt müde. Aber kaum hatte er die Augen geschlossen, so erwachte er mit einem Ruck wieder, als habe ihm einer zum Trotz einen Stoß gegeben; er fühlte, daß die Hitze, die innere Unruhe sich vermehrte. Er hätte so gern der Jahreszeit, dem starken Wein, der Ausschweifung die Schuld gegeben; aber zu diesen Vorstellungen gesellte sich immer wieder jene andere, die damals mit allen verbunden war, die, so zu sagen, sich aller Sinne bemächtigt hatte, die sich in alle Gespräche der Schwelgerei mit eindrängte, denn es war noch leichter es im Scherze mit ihr aufzunehmen, als sie mit Stillschweigen zu übergehen – die Vorstellung der Pest.
Nach langem Kampfe schlief er endlich ein, und die häßlichsten und verwirrtesten Träume von der Welt stellten sich ein. Von einem Traum in den andern, schien er sich in einer großen[204] Kirche zu befinden, vorwärts und immer vorwärts, mitten in einer Menschenmenge; er befand sich hier, ohne daß er wußte, wie er hinein gerathen und wie ihm, besonders zu dieser Zeit, der Gedanke gekommen wäre; er war wüthend darüber. Er blickte die Umstehenden an; sie hatten alle bleiche, verstörte Gesichter, mit starren, erloschenen Augen, mit erschlafften Lippen; lauter Leute in gewissen Kleidern, die in Fetzen herunterhingen, und durch die zerrissenen Kleider sah man Pestflecken und Beulen. »Platz da, Gesindel!« meinte er zu rufen, indem er nach der Thür blickte, die so fern, so fern war, und den Ruf mit drohender Miene begleitete, ohne sich jedoch zu bewegen, sogar sich zusammenziehend, um diese garstigen Leiber nicht zu berühren, die sich ihm schon allzu sehr von allen Seiten näherten. Aber keiner von diesen Seelenlosen schien sich rühren zu wollen, schien ihn verstanden zu haben. Sie rückten ihm sogar noch näher, und vor Allen war es ihm, als ob Einer von ihnen mit dem Ellenbogen oder sonst ihm in die linke Seite zwischen Herz und Achselgrube drückte, wo er einen stechenden, drückenden Schmerz empfand. Drehte er sich, um sich davon zu befreien, so stellte sich an derselben Stelle sogleich ein neuer stechender Schmerz ein. Wüthend wollte er die Hand ans Schwert legen, und da kam es ihm vor, daß dieses sich im Gedränge heraufgeschoben und daß der Knopf es wäre, der ihn an jener Stelle drückte, aber mit der Hand hinfahrend, fand er nicht das Schwert und fühlte statt dessen einen noch heftigern Stich. Jetzt tobte er, ganz außer Athem und wollte noch lauter schreien; da schien es ihm, als ob alle die Gesichter sich nach einer Seite hinwandten. Auch er blickte hin, sah eine Kanzel und über der Brustwehr derselben etwas Rundes, Glattes, Glänzendes zum Vorschein kommen; dann erschien deutlicher ein geschorner Kopf, dann ein Paar Augen, ein Gesicht, ein langer, weißer Bart, ein aufrechtstehender Mönch bis zum Gürtel sichtbar, Bruder Cristoforo. Dieser warf einen Blick durch die ganze Versammlung, und es schien Don Rodrigo, als heftete er ihn auf sein Gesicht, indem er zugleich die Hand erhob gerade in der Stellung, die er in jenem Saale im Erdgeschosse seines Schlosses angenommen hatte. Darauf erhob auch er wüthend die Hand und machte eine[205] Anstrengung, als wollte er sich ihm entgegenwerfen, jenen erhobenen Arm zu packen; ein Schrei, der ihm dumpf in der Kehle saß, brach als ein lautes Geheul hervor; und er erwachte. Er ließ den Arm sinken, den er wirklich erhoben hatte, bemühte sich eine Weile wieder zu sich zu kommen und die Augen aufzuschlagen, denn das schon helle Tageslicht that ihm ebenso weh, als das Licht der Kerze am Abend vorher; er erkannte sein Bett, sein Zimmer, begriff, daß alles ein Traum gewesen war; die Kirche, das Volk, der Mönch, alles war verschwunden; alles weg außer Eins, dem Schmerze an der linken Seite. Zugleich fühlte er im Herzen ein schnelleres, ängstliches Klopfen, ein Sausen und beständiges Zischen vor den Ohren, ein Feuer im Innern, eine Schwere in allen Gliedern, schlimmer als da er zu Bett gegangen war. Er zauderte einige Augenblicke, ehe er nach der schmerzenden Stelle sah; endlich deckte er sie auf, blickte ängstlich hin und sah eine ekelhafte, schwarzblaue Pestbeule.
Der Mann sah sich verloren; der Schrecken des Todes überfiel ihn, und mit einer vielleicht noch heftigeren Empfindung der Schrecken, eine Beute der Monatti zu werden, fortgeschleppt und ins Lazareth geworfen zu werden. Indem er überlegte, wie er diesem entsetzlichen Schicksal entgehen könnte, fühlte er, wie seine Gedanken sich verwirrten und verfinsterten, fühlte er, wie der Augenblick nahte, der ihm nur so viel Bewußtsein lassen würde, als hinreichte, um zu verzweifeln. Er faßte die Klingel und schellte heftig. Sogleich erschien der Graue, der auf der Lauer stand. Er blieb in einer gewissen Entfernung vom Bette stehen, betrachtete aufmerksam den Herrn und war dessen gewiß, was er am Abend vorher vermuthet hatte.
»Grauer!« sagte Don Rodrigo, indem er sich mit Mühe zum Sitzen aufrichtete, »du bist immer mein Getreuer gewesen.«
»Ja, Herr.«
»Ich habe dir immer Gutes gethan.«
»Durch Ihre Güte.«
»Dir kann ich mich vertrauen.«
»Hol' mich der Teufel!«
»Es steht schlecht mit mir, Grauer.«[206]
»Ich hatt' es gemerkt.«
»Wenn ich durchkomme, so will ich dir noch mehr Gutes thun, als ich dir jemals gethan habe.«
Der Graue antwortete nichts und stand voll Erwartung, wohin diese Vorrede führen werde.
»Ich will mich keinem Andern anvertrauen als dir«, nahm Don Rodrigo das Wort, »thu' mir einen Gefallen, Grauer.«
»Befehlen Sie«, sagte dieser mit der gewohnten Redensart auf jene ungewohnte antwortend.
»Weißt du, wo der Wundarzt Chiodo wohnt?«
»Das weiß ich sehr wohl.«
»Er ist ein rechtlicher Mann, der die Kranken verhehlt, wenn man ihn gut bezahlt. Geh und hole ihn; sage ihm, daß ich ihm vier, sechs Scudi für jeden Besuch gebe und mehr, wenn er mehr verlangt; aber er soll auf der Stelle kommen; mache die Sache klug, daß Niemand etwas davon merkt.«
»Seien Sie unbesorgt«, sagte der Graue, »ich gehe und kehre gleich zurück.«
»Höre, Grauer! gieb mir erst ein wenig Wasser. Ich brenne vor Durst, daß ich's nicht mehr aushalten kann.«
»Nein Herr«, antwortete der Graue, »nichts ohne das Gutachten des Arztes. Das sind hartnäckige Uebel; hier ist keine Zeit zu verlieren. Seien Sie ruhig; eins zwei drei bin ich mit dem Chiodo hier.«
Mit diesen Worten ging er hinaus und schlug die Thür zu.
Don Rodrigo kroch wieder unter die Decke und begleitete ihn in Gedanken nach dem Hause des Chiodo, zählte die Schritte, berechnete die Zeit. Jedesmal wenn er nach seiner Pestbeule sehen wollte, wandte er mit Abscheu das Gesicht nach der andern Seite. Nach einiger Zeit begann er aufzuhorchen, ob der Wundarzt käme, und diese angestrengte Aufmerksamkeit zog ihn von der Empfindung des Uebels ab und hielt seine Gedanken beisammen. Plötzlich hört er einen fernen Klang, aber er scheint ihm weder aus dem Zimmer, noch von der Straße herzukommen; er horcht aufmerksamer auf, hört ihn stärker, wiederholter und zugleich ein Scharren mit den Füßen; ein schrecklicher Argwohn fährt ihm[207] durch den Sinn. Er richtet sich auf und horcht noch aufmerksamer hin; er hört ein dumpfes Geräusch in dem nächsten Zimmer, wie wenn eine Last behutsam niedergesetzt wird; er wirft die Beine aus dem Bett, als wollte er aufstehen, starrt nach der Thür, sieht sie aufgehen, sieht zwei zerrissene, schmutzige, rothe Röcke erscheinen, zwei scheußliche Gesichter, mit einem Worte zwei Monatti; sieht halb und halb das Gesicht des Grauen, der hinter einem angelehnten Thürflügel verborgen stehen bleibt, um zu lauschen.
»Ha, schändlicher Verräther! .... Fort, Gesindel, Biondino! Carlotto! Hülfe! Meuchelmörder!« schreit Don Rodrigo, fährt mit der einen Hand unter das Kopfkissen, um eine Pistole zu suchen; ergreift sie, zieht sie hervor; aber bei seinem ersten Schrei waren die Monatti schon nach dem Bett hingestürzt; der schnellste fällt über ihn her, ehe er noch etwas thun kann; reißt ihm die Pistole aus der Hand, schleudert sie fort, drückt ihn nieder, indem er vor Wuth und Hohn schäumend ausruft: »Ha Schurke! gegen die Monatti! gegen die Diener der Behörde! gegen die Leute, welche Thaten der Barmherzigkeit ausüben!«
»Halte ihn wohl fest, bis wir ihn fortschaffen«, sagte der Gefährte und ging auf ein Schubkästchen zu. In diesem Moment trat der Graue ein und machte sich mit ihm daran, das Schloß zu erbrechen.
»Verruchter!« brüllte Don Rodrigo, sah unter dem andern, der ihn festhielt, nach jenem hin, indem er sich unter den nervigen Armen wand und krümmte. »Laßt mich den Niederträchtigen morden«, sagte er darauf zu den Monatti, »und dann macht mit mir, was ihr wollt.« Dann schrie er wieder, so laut er konnte, nach seinen andern Dienern; aber es war vergebens, denn der verruchte Graue hatte sie durch erlogene Befehle des Gebieters weit fortgeschickt, ehe er zu den Monatti gegangen war, um ihnen den Vorschlag zu dieser Fortschaffung und zur Theilung des Raubes zu machen.
»Seid ruhig, seid ruhig«, sagte zu dem unglückseligen Rodrigo der Schreckensmann, der ihn fest aufs Bett gedrückt hielt. Dann wandte er das Gesicht nach den beiden Räubern und rief: »Handelt wie ehrliche Leute.«[208]
»Du! du!« brüllte Don Rodrigo dem Grauen zu, den er geschäftig aufbrechen, Geld und Sachen herausnehmen und theilen sah. »Du! nachdem .... Ha Höllenhund! ich kann noch wieder aufkommen, kann wieder aufkommen!« Der Graue muckste nicht und wandte sich nach der Seite, woher diese Worte kamen, nicht einmal hin.
»Halt ihn ordentlich fest«, sagte der andere Monatto, »er ist toll.« Und er war es jetzt wirklich. Nach einem fürchterlichen Gebrüll, nach einem letzten verzweifelten Versuche, sich loszuwinden, sank er plötzlich mit einem Mal erschöpft und stumpf zusammen, blickte dann noch starr vor sich hin, fuhr von Zeit zu Zeit zusammen, oder stöhnte.
Die Monatti packten ihn, der eine bei den Füßen, der andere bei den Schultern und legten ihn auf eine Bahre, die sie in dem Nebenzimmer gelassen hatten, dann ging der eine zurück, um die Beute zu holen; zuletzt hoben sie die bejammernswerthe Last auf und schleppten sie fort.
Der Graue blieb zurück und raffte eilig zusammen, was ihm am meisten anstand, machte aus allem ein Bündel und ging ab. Er hatte sich wohl gehütet, mit den Monatti in Berührung zu kommen; bei dem letzten Zusammenraffen aber hatte er die Kleider des Gebieters genommen, die in der Nähe des Bettes lagen, und sie geschüttelt, ohne sich etwas dabei zu denken, nur um zu sehen, ob Geld darin wäre. Er sollte jedoch am nächsten Tage daran denken; denn während er es sich in einer Schenke wohl sein ließ, ergriff ihn mit einem Male ein kalter Schauder, es wurde ihm schwarz vor den Augen, die Kräfte schwanden ihm und er fiel um. Von den Gefährten verlassen, fiel er in die Hände der Monatti, die ihm abnahmen, was er Brauchbares bei sich hatte, und ihn auf einen Karren warfen; auf diesem verschied er, ehe er in dem Krankenhause ankam, wohin sein Gebieter gebracht worden war.
Indem wir diesen jetzt in dem Aufenthalt des Jammers lassen, müssen wir einen Andern aufsuchen, dessen Geschichte mit der seinigen niemals verwickelt worden wäre, wenn er es nicht selbst mit Gewalt gewollt hätte; man kann sogar für gewiß sagen,[209] daß weder der eine noch der andere eine Geschichte gehabt haben würde. Renzo meine ich, den wir in der neuen Spinnmühle unter dem Namen Antonio Rivolta verlassen haben. Er hatte sich ungefähr fünf oder sechs Monate daselbst aufgehalten, als die Feindschaft zwischen der Republik und dem Könige von Spanien erklärt und dadurch alle Furcht vor Anfechtungen und Schwierigkeiten von dieser Seite gehoben war; Bartolo hatte sich eilig aufgemacht ihn abzuholen und wieder mit sich zu nehmen, weil er ihm wohl wollte und weil Renzo von Natur sich gut anließ, in seinem Handwerk geschickt und in einer Fabrik dem Factotum von großer Hülfe war, ohne daß er jemals hoffen konnte, dieses selbst zu werden, weil er zum Unglück nicht mit der Feder umzugehen wußte. Da auch dieser Grund ihn einigermaßen mit dazu bestimmt hatte, so haben wir ihn andeuten müssen. Vielleicht wäre euch ein idealerer Bartolo lieber gewesen; ich kann nichts dazu sagen als: macht euch einen. Dieser war so.
Renzo war darauf immer bei ihm geblieben, um zu arbeiten. Mehr als einmal und besonders nachdem er einige der verwünschten Briefe von Seiten Agnesens erhalten hatte, war ihm der Gedanke durch den Kopf gefahren, Soldat zu werden und dem Dinge ein Ende zu machen; an Gelegenheiten fehlte es nicht; denn gerade in der Zwischenzeit hatte die Republik mehrere Male Leute anwerben müssen. Die Versuchung war zuweilen für Renzo um so stärker gewesen, da man auch davon gesprochen hatte, in das Mailändische einzufallen; natürlich schien es ihm eine schöne Sache zu sein, als Sieger nach Hause zurückzukehren, Lucia wieder zu sehen und sich einmal mit ihr auszusprechen. Aber Bartolo hatte ihn stets mit guter Art von dem Entschlusse abzubringen gewußt.
»Wenn sie dort hinziehen müssen«, sagte er zu ihm, »so werden sie ohne dich hinziehen, und du kannst dann nach deiner Bequemlichkeit ihnen folgen; wenn sie mit zerschlagenen Köpfen zurückkehren, wird's nicht besser sein zu Hause geblieben zu sein? An tollen Kerlen, die den Weg bahnen wollen, wird's nicht fehlen; und ehe sie den Fuß hinein ....! Ich für mein Theil bin ein Ketzer; jene bellen; aber der mailänder Staat ist kein Bissen, den man so leicht hinunter schluckt. Man hat es mit Spanien zu[210] thun, mein lieber Sohn; weißt du, was das heißt, mit Spanien? Sanct Marcus ist stark bei sich zu Hause; aber hier gehört mehr dazu. Habe Geduld; geht es dir nicht gut hier? .... Ich weiß, was du mir sagen willst; aber wenn es dort oben bestimmt ist, daß aus der Sache was wird, sei gewiß, daß sie ohne Verrücktheiten noch besser zu Stande kommt. Irgend ein Heiliger wird dir beistehen. Glaube nur, das ist kein Handwerk für dich. Meinst du, daß es recht ist, die Seidenspule zu verlassen und auf Todschlag auszugehen? Was willst du unter jener Race von Menschen anfangen? Dazu gehören Kerle, die dafür geschaffen sind.«
Andere Male beschloß Renzo heimlich, verkleidet und unter falschem Namen hinzugehen. Aber auch davon wußte Bartolo ihn jedes Mal mit nur zu leicht zu errathenden Gründen abzubringen.
Als darauf die Pest im Mailändischen und auch, wie wir gesagt haben, an der bergamaskischen Grenze ausgebrochen war, dauerte es gar nicht lange, daß sie diese überschritt, und .... man erschrecke nicht, denn ich habe nicht vor, auch die Geschichte von dieser zu erzählen; sollte sie Jemand verlangen, so ist sie hier in öffentlichem Auftrage von einem gewissen Lorenzo Ghirardelli geschrieben; jedoch ein seltenes und ungekanntes Buch, obgleich es vielleicht mehr Dinge enthält, als alle die berühmtesten Beschreibungen der Pest zusammen; von wie vielen Dingen hängt nicht die Berühmtheit der Bücher ab! Was ich sagen wollte: auch Renzo wurde von der Pest ergriffen, er ward von selbst wieder gesund, das heißt, er that nichts dazu; er war dem Tode nahe, aber seine gute Natur überwand die Kraft des Uebels; in wenigen Tagen befand er sich außer Gefahr. Mit der Rückkehr des Lebens stellten sich heftiger wie je die Erinnerungen, die Wünsche, die Hoffnungen, die Pläne des Lebens wieder ein; das heißt, er dachte mehr als je an Lucia. Was war in der Zeit aus ihr geworden, in der es gleichsam eine Ausnahme war zu leben? Und bei so geringer Entfernung nichts von ihr erfahren zu können! Und, Gott weiß wie lange, in einer solchen Ungewißheit zu bleiben! Und wenn diese dann auch gehoben wäre, wenn er, nachdem alle Gefahr vorüber, erfahren, daß Lucia lebte, so war immer noch[211] jenes andere Geheimniß, jene Verwirrung mit dem Gelübde. – Ich gehe, ich gehe, um mit einem Male über alles klar zu wer den – sagte er sich und sagte es, ehe er noch im Stande war, sich auf den Beinen zu erhalten. – Wenn sie nur lebt! – Finden, finden werde ich sie; ich werde dann einmal von ihr selber hören, was es mit dem Versprechen ist, ich werde ihr begreiflich machen, daß es so nicht bleiben kann, und ich nehme sie mit mir, sie und die arme Agnese, wenn sie lebt! die mir immer gut gewesen ist und die mir gewiß auch noch gut ist. Der Verhaftsbefehl? eh! die noch am Leben sind, haben jetzt an andere Dinge zu denken. Es laufen jetzt auch hier gewisse Kerle sicher herum, die ihn auf dem Rücken haben .... Sollten denn nur die Schurken sicher durchkommen? Und in Mailand, sagen alle, soll noch eine schlimmere Verwirrung sein. Wenn ich mir eine so gute Gelegenheit entgehen lasse – die Pest! Seht doch einmal, wie der verwünschte Trieb, alles auf uns selbst zu beziehen und uns unterzuordnen, zuweilen die Worte uns brauchen läßt – eine ähnliche kommt mir nie wieder! –
Hoffen hilft, mein lieber Renzo.
Kaum konnte er wieder von der Stelle, so suchte er Bartolo auf, der bis jetzt von der Pest verschont geblieben und auf der Hut war. Er ging nicht zu ihm in das Haus hinein, sondern rief ihm von der Straße aus zu und ließ ihn ans Fenster treten.
»Aha«, sagte Bartolo, »du bist durchgekommen. Gut für dich!«
»Ich steh' noch ein wenig schlecht auf den Beinen, wie du siehst, aber was die Gefahr betrifft, so ist sie vorüber.«
»Eh! ich wünschte, ich stände auf deinen Füßen. Wenn man sonst sagte, es geht gut, so schien damit alles gesagt; aber jetzt gilt dies nichts; es geht besser; das ist ein schönes Wort!«
Renzo wünschte dem Vetter alles Gute und theilte ihm dann seinen Entschluß mit.
»Geh diesmal, der Himmel segne dich«, antwortete dieser, »suche der Gerechtigkeit auszuweichen, wie ich dem Contagium auszuweichen suchen werde; und wenn Gott will, daß wir beide gut davon kommen, so sehen wir uns wieder.«[212]
»O, ich kehre gewiß zurück, und wenn ich nur nicht allein zurückkehre! Genug; ich hoffe.«
»Kehre nur in Begleitung wieder; so Gott will, werden wir alle Arbeit haben und werden uns vertragen. Wenn du mich nur wieder findest, und diese verteufelte Seuche erst vorbei wäre!«
»Wir sehen uns wieder, wir sehen uns wieder; wir müssen uns wieder sehen!«
»Ich sage nochmals: Gott gebe es!«
Mehrere Tage hindurch hielt sich Renzo in Uebung, um seine Kräfte zu versuchen und zu stärken, und kaum meinte er den Weg antreten zu können, so schickte er sich an aufzubrechen. Er legte unter den Kleidern einen Gürtel an, worin jene fünfzig Scudi waren, die er noch nicht angegriffen und von denen er Niemand ein Wort gesagt hatte, nicht einmal Bartolo; er nahm auch das bischen Geld mit, das er Tag für Tag durch Sparsamkeit auf die Seite gelegt hatte, nahm unter den Arm ein kleines Bündel Kleidungsstücke, steckte in die Tasche ein schriftliches Abgangszeugniß, das er sich mit gutem Vorbedacht von seinem zweiten Herrn unter dem Namen Antonio Rivolta hatte ausstellen lassen; in die eine Hosentasche steckte er ein großes Messer, das Wenigste, was ein rechtschaffener Mann zu jenen Zeiten tragen konnte; und so machte er sich denn in den letzten Tagen des August auf den Weg, drei Tage nachdem Don Rodrigo in das Lazareth gebracht worden war. Er schlug den Weg nach Lecco ein, weil er, ehe er sich nach Mailand hinein wagte, durch sein Dorf gehen wollte, wo er hoffte, Agnese noch am Leben zu finden und von ihr einige der vielen Dinge zu erfahren, auf die er so begierig war.
Die wenigen von der Pest Genesenen waren mitten in der übrigen Bevölkerung in der That gleichsam ein bevorrechteter Stand. Ein großer Theil der übrigen Leute siechte oder starb; und die bis dahin von der Seuche noch nicht Ergriffenen lebten in unaufhörlicher Angst davor; sie gingen bedächtig, vorsichtig, mit abgemessenen Schritten, mit argwöhnischen Gesichtern eilend und zögernd zugleich; denn alles konnte gegen sie zur tödtlich verwundenden Waffe werden. Die andern hingegen, die ihrer Sache ungefähr gewiß waren, – denn zweimal von der Pest[213] ergriffen zu werden, war noch mehr ein wunderbarer als ein seltener Fall – bewegten sich frei und entschlossen mitten in dem Contagium; wie die Ritter einer Epoche des Mittelalters, ganz und gar in Eisen und auf Streitrossen, ebenso geharnischt, so weit es thunlich war, auf gut Glück herumschwärmten – woher ihre rühmliche Benennung der irrenden Ritter – unter einem armseligen gemeinen Gesindel von Bürgern und Bauern, welche, um die Streiche aufzufangen und abzuhalten, nichts als Lumpen auf dem Leibe hatten. Ein schönes, kluges und nützliches Handwerk! ein Handwerk, würdig in einer Abhandlung über die Staatswirthschaft die erste Rolle zu spielen.
Mit einer solchen Sicherheit, die jedoch von den Sorgen, welche der Leser kennt, gedämpft und von dem wiederholten Schauspiele und dem unaufhörlichen Gedanken an die allgemeine Trübsal herabgestimmt wurde, wanderte Renzo unter einem schönen Himmel, durch ein schönes Land seiner Heimat zu, indem er nach langen Strecken der traurigsten Einsamkeit nur hie und da eher einem schwankenden Schatten als einem lebenden Menschen begegnete, oder Leichen, die ohne die letzte Ehre, ohne Gesang, ohne Geleit nach der Grube getragen wurden. Um die Mittagszeit ungefähr machte er in einem Gebüsche Halt, um ein wenig Brod und Zukost zu essen, das er mitgenommen hatte. Obst stand ihm den ganzen Weg entlang, mehr als er brauchte, zu Gebote: Feigen, Pfirsiche, Pflaumen, Aepfel, so viel er gewollt hätte; er brauchte nur in die Felder zu treten und abzupflücken, oder sie unter den Bäumen aufzulesen, wo sie wie Hagel lagen, denn das Jahr war außerordentlich fruchtbar, besonders an Obst; und es war fast Niemand, der sich darum bekümmerte; auch die Trauben verdeckten fast die Weinblätter und waren der Willkür des ersten besten preisgegeben.
Gegen Abend sah er sein Dorf liegen. Obgleich darauf vorbereitet, fühlte er bei diesem Anblick, wie sein Herz sich zusammenzog, und er ward mit einem Male von einer Menge schmerzlicher Erinnerungen und schmerzlicher Vorgefühle bestürmt; es war ihm, als schlügen jene dumpfen Glockentöne an sein Ohr, die ihn bei seiner Flucht aus dem Dorfe gleichsam begleitet und[214] verfolgt hatten; zugleich vernahm er so zu sagen die Todtenstille, die gegenwärtig darin herrschte. Eine noch stärkere Unruhe empfand er, als er den Kirchhof betrat; und noch Schlimmeres erwartete er am Ziele seiner Wanderung, denn wohin er seine Schritte lenken wollte, das war jenes Haus, welches er einst gewohnt war, Lucia's Haus zu nennen. Jetzt konnte es höchstens Agnesens Haus sein; und die einzige Gnade, auf die er vom Himmel hoffte, war, sie bei Leben und Gesundheit zu finden. In diesem Hause nahm er sich vor um ein Nachtlager zu bitten, indem er vermuthete, daß das seinige nur noch eine Wohnung für Ratten und Marder sein könnte.
Da er sich nicht sehen lassen wollte, schlug er außerhalb des Dorfes einen kleinen Fußpfad ein, den nämlichen, auf welchem er in jener Nacht in guter Gesellschaft gekommen war, um den Pfarrer zu überrumpeln. Auf der Mitte des Weges ungefähr lag auf einer Seite der Weingarten, auf der andern das Häuschen Renzo's, so daß er im Vorübergehen einen Augenblick hier und dort hinein treten konnte, um einmal zu sehen, wie die Sachen dort stünden.
So weiter schreitend, blickte er umher, ängstlich und zugleich besorgt, Jemand zu sehen; nach wenigen Schritten sah er in der That einen Mann im bloßen Hemde an der Erde sitzen, den Rücken an eine Jasminhecke gelehnt, mit dem Ausdruck eines Blödsinnigen. Hieran und dann auch an den Gesichtszügen meinte er jenen armen, halb blödsinnigen Gervaso zu erkennen, der bei jenem unglücklichen Unternehmen als zweiter Zeuge mit gewesen war. Als er ihm aber näher gekommen, mußte er sich überzeugen, daß es statt dessen der so aufgeweckte Tonio war, welcher jenen damals mitgebracht hatte. Die Pest, die ihm mit der Kraft des Körpers zugleich die des Geistes entzogen, hatte in seinem Gesicht und in seinen Geberden die geringe Aehnlichkeit entwickelt, die er mit dem blödsinnigen Bruder hatte.
»O Tonio!« sagte Renzo zu ihm und blieb vor ihm stehen, »bist du es?«
Tonio schlug die Augen zu ihm auf, ohne den Kopf zu bewegen.[215]
»Tonio! kennst du mich nicht?«
»Wen es trifft, den trifft es«, antwortete Tonio und blieb darauf mit offenem Munde sitzen.
»Hast was abgekriegt, he? armer Tonio; aber kennst du mich denn nicht mehr?«
»Wen es trifft, den trifft es«, versetzte jener mit einem gewissen einfältigen Lächeln. Da Renzo sah, daß er nichts weiter aus ihm herausbringen würde, setzte er seinen Weg noch betrübter fort. Und siehe da! an einer Ecke sah er etwas Schwarzes erscheinen und näher kommen, das er sogleich für Don Abbondio erkannte. Dieser ging Schritt vor Schritt, indem er den Stock trug wie Jemand, der ihn zur Stütze braucht; und wie er nach und nach näher kam, konnte man aus seinem blassen, abgezehrten Gesicht und aus jeder Bewegung erkennen, daß auch er seine Gefahr überstanden haben mußte. Auch er blickte auf; es schien ihm und schien ihm auch nicht; er sah etwas Fremdartiges in der Tracht, etwas wie von der bergamaskischen Tracht.
– Er ist es und kein anderer! – sagte er bei sich und erhob mit einer Bewegung unwilliger Verwunderung die Hände zum Himmel, indem der Stock, den er in der Rechten hielt, in der Luft schweben blieb; und man sah die mageren Arme in den Aermeln schlottern, in denen sie sonst kaum Platz gehabt hatten. Renzo ging ihm mit eiligen Schritten entgegen und verneigte sich vor ihm; denn wenn sie auch nicht auf die beste Art, wie man weiß, von einander geschieden waren, so war er doch immer sein Pfarrer.
»Ihr seid hier, Ihr?« rief Don Abbondio aus.
»Ich bin hier, wie Sie sehen. Weiß man nichts von Lucia?«
»Was soll man von ihr wissen? Man weiß nichts von ihr. Sie ist in Mailand, wenn sie noch auf dieser Welt ist. Aber Ihr ....«
»Und Agnese, lebt sie?«
»Kann sein; aber wer soll das wissen? Sie ist nicht hier. Aber ....«
»Wo ist sie?«[216]
»Sie hat sich nach der Valsassina aufgemacht, zu ihren Verwandten, nach Pasturo, Ihr wißt wohl; denn dort, sagt man, soll die Pest nicht so wüthen wie hier. Aber Ihr, sage ich ....«
»Das verdrießt mich sehr. Und Pater Cristoforo? ....«
»Der ist schon eine ganze Weile fort. Aber ....«
»Das weiß ich; sie haben es mir schreiben lassen; ich wollte nur fragen, ob er vielleicht schon wieder zurück wäre.«
»Ei bewahre! Man hat nichts wieder von ihm gehört. Aber Ihr ....«
»Das verdrießt mich auch sehr.«
»Aber Ihr, sage ich, was um des Himmels willen, was wollt Ihr in dieser Gegend? Wißt Ihr nicht, was für ein Verhaftsbefehl ....?«
»Was liegt daran? Sie haben an andere Dinge zu denken. Ich habe auch einmal nach meinen Sachen sehen wollen. Und man weiß eigentlich nicht ....?«
»Was wollt Ihr sehen? Jetzt erst, da Niemand mehr hier ist, da nichts mehr da ist. Bei solchem Verhaftsbefehl hierher zu kommen, gerade in das Dorf, dem Wolf in den Rachen, heißt das bei Sinnen sein, frage ich? Folgt einem alten Manne, der vernünftiger sein muß als Ihr, und der Euch räth, weil er es gut mit Euch meint; bindet Euch die Schuhe fest, und ehe Euch Jemand sieht, geht wieder hin, wo Ihr hergekommen seid. Und wenn Euch schon Einer gesehen hat, so macht Euch um so schneller wieder auf den Weg. Meint Ihr denn, daß die Luft hier rein ist? Wißt Ihr nicht, daß sie gekommen sind, um Euch zu suchen, daß sie alles durchstöbert und zu unterst zu oberst gekehrt haben ....«
»Ich weiß es nur zu gut, die Schurken!«
»Also ....!«
»Aber wenn ich Ihnen sage, daß mich das nicht kümmert. Und Der – lebt er noch? ist er hier?«
»Ich sage Euch, daß Niemand hier ist; ich sage Euch, daß Ihr Euch um die Dinge hier nicht bekümmern sollt; ich sage Euch, daß ....«
»Ich frage, ob er hier ist, der ....«[217]
»O heiliger Himmel! Sprecht vernünftig. Ist es möglich, daß Ihr nach so vielen Dingen noch all das Feuer im Leibe habt!«
»Ist er hier, oder ist er nicht hier?«
»Er ist nicht hier, geht. Aber die Pest, mein Sohn, die Pest! Wer wird sich in solchen Zeiten so herumtreiben?«
»Wenn es weiter nichts auf dieser Welt gäbe als die Pest .... ich sage nur für mich; ich habe sie gehabt und bin frei davon.«
»Nun also! nun also! Sind das keine Warnungen? Wenn man einer solchen Gefahr entgangen ist, so, mein' ich, sollte man dem Himmel danken, und ....«
»Ich danke ihm sehr.«
»Und nicht auf andere ausgehen, sag' ich. Folgt meinem Rath ....«
»Sie haben sie auch gehabt, Herr Pfarrer, wenn ich nicht irre.«
»Ob ich sie gehabt habe! Hinterlistig und nichts würdig ist sie mit mir umgegangen; ich bin durch ein Wunder hier; es ist genug, wenn ich Euch sage, daß sie mich so zugerichtet hat, wie Ihr seht. Jetzt gerade hatte ich ein wenig Ruhe nöthig, um wieder zu mir selbst zu kommen; genug, ich fing schon an mich ein wenig besser zu befinden .... In des Himmels Namen, was wollt Ihr hier? Kehrt ....«
»Immer haben Sie's mit Ihrem Zurückkehren. Um zurück zu kehren, brauchte ich mich nicht erst auf den Weg zu machen. Sie sagen: was wollt Ihr? was wollt Ihr? O schön! ich will auch endlich in mein Haus zurückkehren.«
»Nach eurem Hause ....«
»Sagen Sie mir, sind viele hier daran gestorben? ....«
»Eh, eh!« rief Don Abbondio, und indem er bei Perpetua anfing, zählte er eine ganze Reihe von Personen und ganzen Familien auf. Renzo hatte dergleichen nur zu sehr erwartet; da er aber so viele Namen von Bekannten, Freunden, Verwandten hörte, stand er voll Schmerz, mit gesenktem Kopfe da und rief[218] einmal über das andere aus: »der Aermste! die Aermste! die Aermsten!«
»Seht Ihr!« fuhr Don Abbondio fort, »und sie ist noch nicht vorbei. Wenn die Uebriggebliebenen jetzt nicht Vernunft annehmen und sich alle Grillen aus dem Kopfe schlagen, so steht das Ende der Welt bevor.«
»Fürchten Sie nichts; ich denke noch gar nicht daran hier zu bleiben.«
»Ach! dem Himmel sei Dank, der Euch das eingegeben hat! Und Ihr denkt auf die Rückkehr ins Bergamaskische.«
»Darüber machen Sie sich keine Sorgen.«
»Was! Ihr wollt mir doch nicht etwa noch einen schlimmern Streich als diesen spielen?«
»Sorgen Sie sich darum nicht, sage ich; ich weiß, was ich thue, ich bin kein Kind mehr. Ich hoffe übrigens, Sie werden Niemandem sagen, daß Sie mich gesehen haben. Sie sind Priester; ich bin eines Ihrer Schafe; Sie werden mich nicht verrathen wollen.«
»Ich verstehe«, sagte Don Abbondio und seufzte ärgerlich, »ich verstehe. Ihr wollt Euch und mich zu Grunde richten. Ihr habt an dem noch nicht genug, was Ihr ausgestanden habt, und meint, ich hätte auch noch nicht genug ausgestanden. Ich verstehe, ich verstehe.« Und indem er diese letzten Worte zwischen den Zähnen murmelte, machte er sich wieder auf den Weg.
Renzo blieb traurig und mißvergnügt stehen und dachte nach, wo er wohl übernachten könnte. In der Todtenliste, die ihm Don Abbondio mitgetheilt, war eine ganze Bauernfamilie von dem Contagium hingerafft worden, außer einem jungen Burschen, ungefähr in Renzo's Alter, und der von Kindheit auf sein Gefährte gewesen war; das Haus lag wenige Schritte außer dem Dorfe. Dahin dachte er zu gehen.
Indem er weiter schritt, kam er an seinen Weingarten, und schon von außen konnte er abnehmen, in welchem Zustande er wäre. Kein Wipfelchen, kein Zweig eines Baumes von allen denen, die er daselbst verlassen hatte, blickte über die Mauer;[219] wenn etwas sich sehen ließ, so waren es Dinge, die in seiner Abwesenheit hingekommen. Er trat an den Eingang, – von dem Gitter war nichts mehr zu sehen – er warf einen Blick ringsumher: armer Weingarten! Zwei Winter hindurch waren die Leute aus dem Dorfe hingegangen Holz zu fällen, »an Stelle des Aermsten«, wie sie sagten. Weinstöcke, Maulbeerbäume, Obstbäume aller Art, alles war schonungslos herausgerissen, oder an der Wurzel abgeschnitten. Man sah jedoch noch die Spuren des alten Anbaues: junge Reben in unterbrochenen Reihen, die aber die Spur der zerstörten Gewächsreihen noch bezeichneten; hin und wieder Schößlinge und Nachwuchs von Maulbeeren, Feigen, Pfirsichen, Kirschen und Pflaumen; aber auch diese vereinzelt und erstickt, mitten in einem neuen, mannigfachen, dichtgedrängten Nachwuchs, ohne menschliches Zuthun entstanden und aufgeschossen. Es war ein Durcheinander von Nesseln, Farrenkraut, Lolch, Quecken, von Mehlkraut, wildem Hafer, grünem Tausendschön, Salatkräutern, Sauerklee, Hirsegras und von anderen ähnlichen Pflanzen; von denen nämlich, welche der Bauer aller Länder auf seine Art in eine große Klasse gebracht hat, indem er sie Unkraut nennt. Es war ein Mischmasch von Stengeln, die um die Wette einander in der Luft überragten, oder ebenso sich am Boden eines über das andere hinzogen, kurz die sich einander auf alle Weise zu verdrängen suchten; ein Durcheinander von Blättern, Blumen, Früchten, von hunderterlei Farben, hunderterlei Formen, hunderterlei Größen; kleine Aehren, Kolben, Büschel, Dolden, Krönchen, weiß, roth, gelb, blau.
Aus diesem Mischmasch von Pflanzen stachen einige doch größtentheils nicht edlere Pflanzen größer und schöner hervor, der türkische Wein ragte über alle andern mit seinen ausgebreiteten röthlichen Ranken und seinen prächtigen, dunkelgrünen Blättern, einige schon purpurn gesäumt, mit seinen gebogenen Reben, unten mit dunkeln Beeren, weiter hinauf mit hellrothen, dann mit grünen und an der Spitze mit weißlichen Blüthen besetzt; das Wollkraut mit seinen großen filzigen Blättern am Boden, dem gerade aufstrebenden Stengel und den langen einzelnen Aehren, mit hellen gelben Blumen wie besternt; Disteln mit[220] stacheligen Stengeln, Blättern und Köpfen, aus denen weiße oder purpurne Blüthenfädchen herausstehen oder silberfarbige, leichte Federbüschelchen sich loslösen, die vom Winde entführt werden. Hier eine Menge Feldwinden, die sich an den neuen Schößlingen eines Maulbeerbaumes emporgerankt hatten, sie umschlangen und alle mit ihren herabhängenden Blättern bedeckten, während von den Spitzen der Schößlinge ihre weißen, weichen Glöckchen herabhingen; dort hatte sich eine wilde Kürbiß mit ihren korallenfarbigen Beeren um die jungen Reben eines Weinstocks gewunden, der, vergebens nach einem festen Anhalt suchend, seine Gäbelchen gleichfalls um sie geschlungen hatte; indem ihre schwachen Stengel und ihre wenig verschiedenen Blätter sich mischten, zogen sie sich gegenseitig nieder, wie es den Schwachen oftmals geschieht, von denen sich einer auf den andern stützt. Brombeergesträuch war überall, zog sich von einer Pflanze zur andern auf und nieder, drängte seine Zweige zusammen, oder breitete sie aus, wie es ging, und indem es sich auch über den Eingang hinzog, schien es, als stände es hier, um sogar dem Gebieter den Eintritt zu wehren.
Aber er dachte nicht daran, in einen solchen Weingarten einzutreten, und vielleicht betrachtete er ihn nicht einmal so lange, als wir brauchten, um diese kleine Schilderung davon zu machen. Er wandte sich weg; unfern davon lag sein Haus; er schritt mitten durch den Küchengarten, indem er bis über die Kniee zwischen Unkraut ging, von welchem er bewachsen und bedeckt war, wie der Weingarten. Er setzte den Fuß auf die Schwelle einer der beiden Stuben, die zur ebenen Erde waren; bei dem Geräusch seiner Tritte, bei seinem Erscheinen ein Aufstören, ein sich durchkreuzendes Davonlaufen von Ratten, ein sich Verkriechen in den Unrath, der den ganzen Fußboden bedeckte; es war noch die Streu der Lanzknechte. Er warf einen Blick nach den Wänden: abgestoßen, beschmutzt, verräuchert. Er erhob die Augen zu der Decke: ein Schmuck von Spinneweben. Sonst war nichts da. Er entfernte sich auch von hier, indem er mit den Händen in die Haare fuhr, und kehrte auf den nämlichen Fußpfad zurück, den er sich erst vor einem Augenblick selbst gebahnt; nach einigen[221] Schritten schlug er einen andern Weg zur Linken ein, der in die Felder führte; und ohne ein lebendes Wesen zu sehen oder zu hören, kam er bei dem Häuschen an, wo er um ein Nachtlager einsprechen wollte. Es fing schon an dunkel zu werden. Der Freund saß vor der Hausthüre auf einer kleinen hölzernen Bank, die Arme über die Brust gekreuzt, die Augen starr gen Himmel gerichtet, wie ein vom Unglück betäubter und in der Einsamkeit verwilderter Mensch. Als er Fußtritte hörte, wandte er sich, um zu sehen wer käme; indem er so in dem Halbdunkel zwischen Laub und Zweigen Jemand zu sehen meinte, richtete er sich hoch auf, erhob die Hände und sagte mit lauter Stimme: »Giebts Keinen als mich? Habe ich gestern nicht genug gethan? Laßt mich ein wenig ausruhen, denn das ist auch ein barmherziges Werk.«
Da Renzo nicht wußte, was das heißen sollte, so antwortete er, indem er ihn beim Namen rief.
»Renzo ....« rief jener in fragendem Tone aus.
»Der bin ich«, sagte Renzo und beide liefen auf einander zu.
»Bist du es wirklich«, sagte der Freund, als sie sich nahe waren. »O wie freue ich mich, dich zu sehen! Wer hätte das gedacht? Ich hatte dich für Paolin, den Todtengräber, gehalten, der immer kommt und mich quält, ich solle ihm helfen begraben. Weißt du, daß ich allein übrig geblieben bin? allein! allein wie ein Einsiedler!«
»Ich weiß es nur zu wohl«, sagte Renzo. Indem sie so Grüße, Fragen und Antworten durcheinander austauschten, traten sie zusammen in das Häuschen. Und hier, ohne die Gespräche zu unterbrechen, bemühte sich der Freund, Renzo so viel Ehre anzuthun, als er, so unvorbereitet und zu solcher Zeit, im Stande war. Er setzte Wasser an das Feuer und fing an, die Polenta zu bereiten; händigte aber dann Renzo das Rührholz ein, damit er sie umrühre, und ging mit den Worten weg: »Ich habe Niemand mehr, ich habe Niemand mehr!«
Er kehrte mit einem kleinen Eimer voll Milch, mit etwas gesalzenem Fleisch, mit einem Paar frischen Ziegenkäsen, mit Feigen und Pfirsichen zurück; und nachdem alles fertig und die[222] Polenta in die hölzerne Schüssel gethan war, setzten sie sich zusammen zu Tisch und bedankten sich gegenseitig, der eine für den Besuch, der andere für die Aufnahme. Nach einer Trennung von vielleicht zwei Jahren fanden sie auf einmal, daß sie weit engere Freunde waren, als sie jemals geglaubt hatten zu der Zeit zu sein, da sie sich fast täglich sahen; denn Beide, sagt hier das Manuscript, waren von Dingen betroffen worden, die erkennen lassen, welch ein Balsam das Wohlwollen für die Seele ist, sowohl das, was man selbst empfindet, als das, was man bei andern antrifft.
Gewiß konnte Niemand bei Renzo Agnesens Stelle ersetzen, noch ihn über ihre Abwesenheit trösten, nicht allein wegen jener alten und besondern Zuneigung, sondern auch weil unter den Dingen, die er sich so gern hätte erklären lassen, eines war, zu welchem sie nur allein den Schlüssel hatte. Er schwankte einen Augenblick, ob er seine Reise fortsetzen, oder erst Agnese aufsuchen sollte, da sie nicht weit entfernt war; indem er aber überlegte, daß Agnese über Lucia's Ergehen auch nichts wissen würde, blieb er bei seinem ersten Vorsatz, gerade Wegs zu ihr hinzugehen, um diese Zweifel zu lösen, ihren Ausspruch zu hören und dann der Mutter die Neuigkeiten zu überbringen. Jedoch auch von dem Freunde erfuhr er viele Dinge, die er noch nicht wußte, und erhielt über manches Licht, was er nicht genau wußte, sowohl über Lucia als über die Verfolgungen, die man gegen ihn angestellt hatte; wie Don Rodrigo wie ein begossener Hund abgezogen sei und sich nicht wieder in der Gegend hatte sehen lassen; kurz über die ganze Verwickelung der Dinge. Er hörte auch – und dies war für Renzo eine Kenntniß von nicht geringer Wichtigkeit – den Familiennamen Don Ferrante's richtig aussprechen; denn Agnese hatte ihm denselben wohl von ihrem Schreiber schreiben lassen; aber weiß der Himmel wie er geschrieben stand; der bergamaskische Dolmetscher hatte ein so eigenes Wort daraus gemacht, als er ihm den Brief gelesen, daß, wenn Renzo damit nach Mailand gegangen wäre, um das Haus zu erfragen, er wahrscheinlich Niemand gefunden hätte, der errathen, wen er gemeint; und dennoch war dieser Faden der einzige, der ihn zu Lucia hinführen[223] konnte. Was die Gerechtigkeit anlangte, so konnte er sich immer mehr darin bestärken, daß die Gefahr hinlänglich entfernt war, um sich keine großen Sorgen zu machen; der Herr Bürgermeister war an der Pest gestorben; wer weiß, wann man einen andern einsetzen würde; auch die Häscherschaar war größtentheils darauf gegangen; die, welche übriggeblieben, hatten an ganz etwas Anderes, als an so alte Geschichten zu denken.
Auch er erzählte dem Freunde seine Erlebnisse und erhielt dafür hundert Geschichten zurück, von dem Durchmarsch der Truppen, von der Pest, von Salbern, von Wundern. »Das sind schlimme Dinge«, sagte der Freund, indem er Renzo in eine Kammer führte, welche durch das Contagium ihre Bewohner verloren hatte; »Dinge, die man niemals geglaubt hätte zu erleben, Dinge, um einem für das ganze Leben die Fröhlichkeit zu nehmen; aber dennoch ist es ein Trost, mit Freunden darüber zu sprechen.«
Mit dem Anbruch des Tages befanden sich beide in der Küche; Renzo reisefertig, seinen Gürtel unter der Jacke verborgen und das große Messer in der Hosentasche; das Bündelchen ließ er, um leichter zu gehen, bei seinem Wirth in Verwahrung. »Wenn es mir gut geht«, sagte er zu ihm, »wenn ich sie am Leben finde, wenn .... genug .... so komme ich wieder hierher; laufe nach Pasturo, um die gute Nachricht der armen Agnese zu bringen, und dann, und dann .... Aber wenn zum Unglück, zum Unglück, das Gott verhüte .... dann, weiß ich nicht, was ich thun werde, wo ich hingehe; in dieser Gegend seht Ihr mich gewiß nicht wieder.« Bei diesen Worten stand er auf der Schwelle der Hausthür und betrachtete, den Kopf erhoben, mit einem Gemisch von Rührung und Betrübniß die Morgenröthe seiner Heimat, die er seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Der Freund sprach ihm Muth zu; er wollte, daß er noch etwas zu essen mitnähme, begleitete ihn eine Strecke Weges und verließ ihn dann mit neuen Glückwünschen.
Renzo schritt rüstig vorwärts; es war ihm genug an diesem Tage in die Nähe Mailands zu kommen, um den folgenden bei Zeiten hinein zu gehen und sogleich seine Nachforschungen anzustellen. Die Reise war ohne Unfälle und außer dem gewöhnlichen[224] Elend und Jammer war nichts, was Renzo's Gedanken hätte zerstreuen können. Wie er es am Tage vorher gethan, so machte er, als es Zeit war, in einem Gebüsche Halt, um einen Bissen zu essen und auszuruhen. Als er durch Monza vor einem offenen Laden vorbeikam, wo Brode ausgestellt waren, forderte er deren zwei, um auf jeden Fall nicht unversorgt zu sein. Der Bäcker bedeutete ihn nicht hereinzutreten und schob ihm auf einer kleinen Schüppe ein Näpfchen mit Wasser und Essig zu, indem er sagte, er möchte das Geld nur da hineinfallen lassen; nachdem dies geschehen, reichte er ihm mit einer gewissen Zange die beiden Brode, eines nach dem andern hin, die Renzo jedes in eine Tasche steckte.
Gegen Abend kam er in Greco an, ohne jedoch den Namen davon zu wissen; da ihm aber die Gegend von der früheren Reise her ein wenig in der Erinnerung geblieben war und er den Weg berechnete, den er von Monza bis hierher zurückgelegt, so schloß er, daß er nicht mehr weit von der Stadt entfernt sein müsse; er ging daher von der Landstraße ab, um sich auf den Feldern irgend eine Erntehütte aufzusuchen, wo er die Nacht zubrächte, denn auf Wirthshäuser wollte er sich nicht einlassen. Es traf sich besser, als er dachte; er sah den Eingang eines Zaunes offen, der den Hof einer Melkerei umgab; aufs Gerathewohl trat er hinein. Es war Niemand darin; auf der einen Seite sah er eine große Halle, mit darunter aufgespeichertem Heu und eine Sprossenleiter daran gelehnt; er sah sich überall um, stieg dann auf gut Glück hinauf, machte sich's zum Schlafen bequem und schlief wirklich sogleich ein, um erst mit der Morgendämmerung wieder zu erwachen. Alsdann kroch er auf allen Vieren an den Rand des großen Bettes, reckte den Kopf hinaus, und da er Niemand sah, stieg er wieder hinunter, wo er heraufgekommen war, ging da wieder hinaus, wo er hereingekommen, wanderte auf Nebenwegen weiter, indem er den Dom als seinen Polarstern im Auge behielt. Nach einer sehr kurzen Wanderung befand er sich unter den Mauern von Mailand zwischen der Porta Orientale und der Porta Nuova, dieser jedoch näher als jener.[225]
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
|
Buchempfehlung
Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro