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[220] Die riesigen grünen Schirme des Taxus waren eine vortreffliche Schutzmauer gegen die Sonne, den Wind, welcher seit kurzem ziemlich heftig über den weiten Kiesplatz fegte – und gegen strafende Blicke, die möglicherweise aus dem Gartenhause herüberfliegen konnten ... Felicitas kannte das Gesicht des Professors viel zu gut, um nicht zu wissen, daß er vorhin ärgerlich und gereizt, nicht aber zerstreut gewesen war; sie meinte sogar auch den Grund seines Unmuts zu kennen. Er verlangte bezüglich seiner ärztlichen Maßregeln stets einen unbedingten Gehorsam, und nach allem, was Rosa über seine Bonner Praxis erzählt hatte, war er gewohnt, seinen Wunsch und Willen stets streng respektiert zu sehen – er hatte Felicitas mehrmals, zuletzt sogar mit großer Ungeduld das Tragen Aennchens untersagt, und heute mußte er abermals sehen, daß sie sein Verbot mißachte ... So nur konnte sie sich seinen Blick voll ärgerlicher Ueberraschung erklären, den er ihr beim Eintreten in den Garten zugeworfen hatte.

Felicitas setzte sich auf eine Bank des weit abgelegenen Dammes. Eine einsame Hängebirke erhob hier ihren feinen weißen Stamm und ließ die elastischen Zweige zum Teil laubenartig über die Bank fallen. An dieser geschützten Stelle strich der Wind fast unmerklich hin; manchmal zitterten die Gräser auf wie im tieferen Atemholen, und die Birkenzweige schüttelten sich leise. DerMühlbach aber, durch die Regenfluten stark angeschwollen, schoß brausend vorüber – ein gurgelndes, mißfarbenes Gewässer, das heimtückisch an den Haselbüschen des Ufers riß und wühlte.

Das Kind pflückte mit unbeholfenen Fingerchen Wiesenblumen, und Felicitas mußte die armen, meist nahe am Kelch abgerissenen Dinger zu einem kurzstieligen Sträußchen für »den Onkel Professor« zusammenbinden. Dies mühsame Geschäft erforderte Ausdauer und Aufmerksamkeit; Felicitas heftete ihre Augen unablässig auf das werdende Bouquet in ihren Händen – sie sah nicht, wie der Professor zwischen den Taxuswänden hervortrat und über den großen Rasenplatz rasch auf sie zuschritt. Ein Ausruf Aennchens schreckte sie endlich auf; allein da stand er auch schon neben ihr. Sie wollte sich erheben, er faßte jedoch sanft ihren Arm und drückte sie auf die Bank nieder – dann setzte er sich ohne weiteres neben sie.

Es geschah zum erstenmal, daß sie ihm gegenüber einen Moment völlig fassungslos war. Noch vor vier Wochen würde sie entschieden, voll Abscheu seine Hand zurückgestoßen und sich sofort entfernt haben ... jetzt saß sie wie gelähmt da, willenlos, als stehe sie unter dem Banne eines Zaubers. Es verdroß sie, daß er seit kurzem einen so vertraulich unbefangenen Ton gegen sie annahm – sie wünschte nichts sehnlicher, als ihn zu überzeugen, daß sie, genau wie ehedem, ihn hasse, verabscheue bis zum Sterben; allein plötzlich fand sie weder Mut noch Worte, ihm dies auszusprechen. Ihr scheuer Blick streifte seine Züge – sie sahen nichts weniger als zornig oder verdrießlich aus, die auffallende Röte war verflogen – Felicitas grollte mit sich selbst, weil sie sich eingestehen mußte, daß ihr dies unschöne Gesicht in seiner Kraft und Entschlossenheit wider Willen imponiere.

Er saß einige Sekunden, ohne zu sprechen, neben ihr; sie fühlte mehr, als sie sehen konnte, daß sein Blick unverwandt auf ihr ruhe.

»Thun Sie mir den Gefallen, Felicitas, und nehmen Sie das abscheuliche Ding da vom Kopfe,« unterbrach er endlich das Schweigen; auch seine Stimme klang ruhig, fast heiter, und ohne die Zustimmung des jungen Mädchens abzuwarten, faßte er leicht die Krempe ihres Hutes und schleuderte dies allerdings sehr häßliche, abgetragene Exemplar verächtlich auf den Rasen. Ein Sonnenstrahl, der, durch das leichtbewegliche Birkenlaub schlüpfend, bisher über das schwarze Strohgeflecht gegaukelt war, lag jetzt auf dem[222] kastanienfarbenen Haar des Mädchens – ein Streifen flimmerte auf wie gesponnenes Gold.

»So – nun kann ich doch sehen, wie Ihnen die bösen Gedanken hinter der Stirne arbeiten!« sagte er mit dem schwachen Anfluge eines Lächelns. »Ein Kampf im Dunkel hat für mich Unheimliches – ich muß meinen Gegner sehen können, und daß ich's hier« – er deutete auf ihre Stirne – »mit einem sehr schlimmen zu thun haben werde, weiß ich.«

Wo wollte er hinaus mit dieser seltsamen Einleitung? Vielleicht erwartete er irgend eine Antwort von ihr, allein sie schwieg beharrlich. Ihre Finger packten ohne jedwede Symmetrie alle die Butterblumen, Maßliebchen und Grashalme nebeneinander, die das Kind unverdrossen immer wieder herbeitrug ... Diese kleinen Hände da, die sich nicht stören ließen in der einmal begonnenen Aufgabe, hatten während der mehrtägigen Zurückgezogenheit im Zimmer viel von ihrer braunen Farbe verloren, sie sahen fast rosig aus. Der Professor griff plötzlich nach der Rechten des jungen Mädchens, wandte sie um und betrachtete die innere Fläche – da waren freilich Spuren, die sich nicht so rasch verwischen ließen, harte Schwielen bedeckten die Haut. Das Mädchen, das auf den ausdrücklichen Befehl seines unerbittlichen Vormunds zur Dienstbarkeit erzogen worden war, hatte sich wacker auf diese Lebensstellung vorbereitet, das ließ sich nicht ableugnen.

Obgleich bei dieser Prüfung eine tiefe Röte über Felicitas' Gesicht flog – auf sehr fein empfindende Naturen macht das aufmerksame Betrachten der inneren Handfläche fast denselben Eindruck, als wenn die Gesichtszüge stark fixiert werden – fand sie doch gerade in diesem Augenblick ihre ganze frühere geschlossene Haltung wieder. Sie sah mit einer ruhigen Wendung des Kopfes empor, und er ließ langsam ihre Hand sinken – dann rieb er sich mehrmals die Stirne, als gälte es für einen schwierigen Gedanken den Ausdruck zu finden.

»Sie sind gern in die Schule gegangen, nicht wahr?« fragte er plötzlich. »Geistige Beschäftigung macht Ihnen Vergnügen?«

»Ja,« entgegnete sie überrascht. Die Frage klang eigentümlich – sie war förmlich vom Zaune gebrochen. Eigentlich diplomatische Wendungen lagen aber auch durchaus nicht in der Natur dieses Mannes, so sehr er auch sonst die Sprache in seiner Gewalt hatte.

»Nun gut,« fuhr er fort, »Sie werden ohne Zweifel noch wissen, was ich Ihnen neulich zu bedenken gegeben habe?«[223]

»Ich weiß es noch.«

»Und sind natürlich zu der Ansicht gekommen, daß es die Pflicht des Weibes ist, den Mann treulich zu unterstützen, wenn er einen Irrtum gut machen möchte?« Er stützte die Hand auf das Knie, bog sich vor und sah gespannt in ihr Gesicht.

»So unbedingt nicht,« versetzte sie fest, während sie die Hände mit dem Bouquet in den Schoß sinken ließ und den Fragenden voll ansah. »Ich muß erst wissen, worin die Sühne besteht.«

»Ausflüchte,« murmelte er, und sein Gesicht verfinsterte sich auffallend. Er schien zu vergessen, daß er bisher im allgemeinen gesprochen hatte, und fügte ziemlich gereizt hinzu: »Sie brauchen sich nicht so entsetzlich zu verwahren – ich kann Ihnen versichern, daß schon Ihrem Gesichtsausdruck gegenüber es niemand einfallen wird, irgend etwas Uebermenschliches von Ihnen zu verlangen ... Es handelt sich einfach darum, daß Sie – mag nun Ihr geheimnisvoller Lebensplan beschaffen sein, wie er will – noch ein Jahr unter meiner Vormundschaft bleiben und diese Zeit lediglich auf Ihre geistige Ausbildung verwenden ... Lassen Sie mich ausreden!« fuhr er mit erhobener Stimme und gerunzelten Brauen fort, als sie versuchte, ihn zu unterbrechen. »Sehen Sie einmal ganz davon ab, daß ich es bin, der Ihnen diesen Vorschlag macht, und denken Sie, daß ich einzig im Sinne und nach den ausdrücklichen Worten meines Vaters handle, indem ich für Ihre höhere Ausbildung sorge!«

»Dazu ist es viel zu spät.«

»Zu spät? Bei Ihrer Jugend?«

»Sie mißverstehen mich. Ich will damit sagen, daß ich einst, als unzurechnungsfähiges, hilfloses Kind, gezwungen war, Almosen anzunehmen – ich mußte das, wohl oder übel, über mich ergehen lassen. Jetzt stehe ich auf eigenen Füßen, ich kann arbeiten und werde nie auch nur einen Groschen annehmen, den ich nicht verdient habe.«

Der Professor biß sich auf die Lippen, und seine Brauen senkten sich so tief, daß die Augen fast verschwanden.

»Ich habe diesen Einwurf vorausgesetzt,« entgegnete er kalt, »denn ich kenne ja Ihren unbezähmbaren Stolz bis auf den Grund ... Mein Plan ist der: Sie besuchen ein Institut – ich leihe Ihnen die nötigen Mittel, und Sie zahlen mir später, wenn Sie selbständig sind, das Geld bei Heller und Pfennig zurück ... Ich kenne in Bonn eine ausgezeichnete Erziehungsanstalt[224] und bin Hausarzt bei der sehr würdigen Vorsteherin derselben. Sie würden dort gut aufgehoben sein und –« fügte er mit leicht vibrierender Stimme hinzu – »das Scheiden auf Nimmerwiedersehen wäre dann auch noch ein wenig hinausgeschoben ... In vierzehn Tagen gehen meine Ferien zu Ende; ich reise in Begleitung meiner Kousine nach Bonn zurück, und Sie würden dann natürlicherweise gleich mit uns gehen ... Felicitas, ich habe Sie neulich ersucht, recht gut und ruhig zu sein – ich wiederhole jetzt diese Bitte. Folgen Sie einmal nicht den Einflüsterungen Ihres verletzten Gefühls; vergessen Sie – wenn auch nur für Augenblicke – die Vergangenheit und lassen Sie mich gut machen, was versäumt worden ist.«

Sie hatte beklommen zugehört. Wie neulich bei Erzählung seiner sogenannten Vision hatte seine Stimme etwas Bestrickendes. Er war nicht so unerklärlich erregt wie damals, aber die wahr und aufrichtig gemeinte Reue, die er, ohne seiner männlichen Würde irgend etwas zu vergeben, mit einem so milden Ernst an den Tag legte, ergriff sie wider Willen.

»Dürfte ich noch über meine nächste Zukunft verfügen, so würde ich unbedingt und getrost Ihr Anerbieten annehmen,« sagte sie weicher, als sie je zu ihm gesprochen; »aber ich bin gebunden – an dem Tage, wo ich Frau Hellwigs Haus verlasse, trete ich in einen neuen Wirkungskreis.«

»Unabänderlich?«

»Ja – mein einmal gegebenes Wort ist mir heilig, ich ändere oder deutele niemals daran, sollte es mir in seiner Konsequenz auch die größten Unannehmlichkeiten bringen.«

Er stand rasch auf und trat aus dem Bereiche der Birke.

»Und darf man auch jetzt noch nicht erfahren, was Sie vorhaben?« fragte er, ohne das Gesicht nach ihr zurückzuwenden.

»O ja,« entgegnete sie gelassen; »Frau Hellwig würde bereits darum wissen, wenn ich Gelegenheit hätte, in ihre Nähe zu kommen – die Frau Hofrätin Frank hat mich als Gesellschafterin engagiert.«

Diese wenigen letzten Worte hatten die Wirkung eines plötzlichen Donnerschlags. Der Professor wandte sich jäh um, und über sein Gesicht schoß eine dunkle Flamme.

»Die Frau da drüben?« fragte er, als traue er seinen Ohren nicht, und deutete mit der Hand nach dem Frankschen Garten. Er kehrte rasch unter den Baum zurück. »Das schlagen Sie sich[225] nur gleich aus dem Sinn,« sagte er entschieden und gebieterisch; »dazu werde ich nie meine Einwilligung geben.«

Jetzt erhob sich das junge Mädchen mit einer unwilligen Bewegung – die mühsam gepflückten Blumen fielen auf den Rasen. »Ihre Einwilligung?« fragte sie stolz. »Die brauche ich nicht! In vierzehn Tagen bin ich völlig frei und kann gehen, wohin es mir beliebt.«

»Die Sache liegt jetzt anders, Felicitas,« entgegnete er sehr beherrscht. »Ich habe mehr Rechte über Sie, als Sie denken. Es können Jahre vergehen, ehe diese Rechte erlöschen, und auch dann – ja, auch dann fragt es sich noch, ob ich Sie freigebe.«

»Das werden wir sehen!« sagte sie kalt, mit entschlossener Haltung.

»Ja, das sollen Sie sehen! ... Ich habe gestern mit Doktor Böhm, dem vertrautesten Freunde meines verstorbenen Vaters, ausführlich und eingehend über Ihre damalige Aufnahme in meinem elterlichen Hause gesprochen, und es stellt sich folgendes heraus: Sie sind meinem Vater mit der ausdrücklichen Bedingung übergeben worden, daß er Sie unter seinem Schutz behalten müsse, bis Ihr eigener Vater Sie zurückfordere, oder ein anderer braver Beschützer sich finde, der – Ihnen seinen Namen gebe. Mein Vater hat mich für den Fall seines Todes schriftlich als Stellvertreter in dieser Angelegenheit ernannt, und ich bin fest entschlossen, die Bedingung aufrecht zu erhalten.«

Jetzt war es um die Fassung des jungen Mädchens geschehen.

»Gott im Himmel!« rief sie außer sich und schlug die Hände zusammen. »Soll denn dies Elend nie aufhören? ... Ich soll gezwungen werden, in dieser entsetzlichen Abhängigkeit weiter zu leben? Jahrelang hat mich der Gedanke aufrecht erhalten, daß ich mit meinem achtzehnten Lebensjahre erlöst sein würde! Nur in diesem Gedanken habe ich vermocht, äußerlich ruhig und unverwundbar zu scheinen, während ich innerlich namenlos litt! ... Nein, nein, ich bin nicht mehr das geduldige Geschöpf, das sich aus Achtung vor dem Willen der Toten knechten und treten läßt! ... Ich will nicht! ... Ich will nichts mehr mit den Hellwigs zu schaffen haben – ich werde diese verhaßten Fesseln abschütteln um jeden Preis!«

Der Professor ergriff ihre beiden Hände, seine Züge waren bei den letzten Worten totenbleich geworden.

»Besinnen Sie sich, Felicitas!« sagte der Professor mit beschwichtigender,[226] aber völlig erloschener Stimme. »Wüten Sie nicht gegen sich selbst, wie ein kleiner ohnmächtiger Vogel, der sich lieber den Kopf einstößt, ehe er sich in das Unabänderliche fügt ... Verhaßte Fesseln! ... Kommt es Ihnen denn gar nie zum Bewußtsein, daß Sie mir unsäglich weh thun mit Ihren harten, rücksichtslosen Worten? ... Sie sollen frei sein, völlig frei in Ihrem Denken und Handeln, nur beschützt und behütet, wie – ein zärtlich geliebtes Kind ... Felicitas, Sie sollen jetzt erkennen lernen, wie es ist, wenn die Liebe für uns denkt und sorgt ... Nur noch dies eine Mal werde ich als gebietender Vormund auftreten, erschweren Sie mir die nötigen Schritte nicht durch Ihren Widerstand, der Ihnen ganz und gar nichts helfen wird – das erkläre ich Ihnen entschieden. Ich werde die Angelegenheit in meine Hände nehmen und Ihr Uebereinkommen mit der Hofrätin Frank rückgängig machen.«

»Thun Sie das!« stieß Felicitas mit bebenden Lippen fast heiser hervor – aus ihrem Gesicht schien der letzte Blutstropfen entwichen. – »Aber auch ich werde handeln, und Sie können sicher sein, daß ich mich bis zum letzten Atemzug wehren werde!«

Nie in ihrem jungen, schwergeprüften Leben hatte ein solcher Sturm ihr Inneres durchtobt, wie in diesem Augenblick. Es tauchten plötzlich neue, unbekannte Stimmen in ihr auf, die mächtig mitsprachen in diesem Aufruhr – es war, als seien sie nur der Widerhall seiner innigen, beschwörenden Worte. Wie eine dunkle Gewitterwolke hing eine furchtbare Gefahr über ihrem Haupte, und – das fühlte sie instinktmäßig – sie mußte sich um jeden Preis von ihm losreißen, wenn sie nicht dieser Gefahr rettungslos verfallen wollte ... War es doch jetzt schon, als habe er eine unbegreifliche Gewalt über ihr ganzes Wesen, als schlüge jedes harte Wort, das sie ihm sagte, schmerzend auf ihr eigenes Herz zurück.

Er hatte bis dahin ihre Hände festgehalten, und während sie sprach, ruhte sein Blick durchdringend auf ihren Zügen, die für einen Augenblick rückhaltslos das leidenschaftlich erregte Innere des Mädchens widerspiegelten – den Augen dieses Arztes und Menschenkenners hatten sich wohl schon ganz andere Geheimnisse und Vorgänge der Menschenbrust offenbaren müssen, als die einer, wenn auch noch so stolzen, doch gerade vermöge ihrer Reinheit und Schuldlosigkeit unbewachten Mädchenseele ... »Sie werden nichts ausrichten!« sagte er plötzlich gelassen, mit einer fast heiteren[227] Ruhe. »Ich habe die Augen offen, und mein Arm reicht ziemlich weit ... Sie entgehen mir nicht, Felicitas! ... Hier in X. lasse ich Sie auf keinen Fall, und – ebensowenig werde ich ohne Sie nach Bonn zurückreisen.«

Die Gartenthür hatte längst geknarrt, aber das Geräusch war den Sprechenden entgangen. Jetzt kam Rosa und meldete dem Professor, daß Frau Hellwig im Salon warte, auch die Frau Regierungsrätin lasse ihn recht sehr bitten, zu kommen.

»Ist sie unwohl?« fragte der Professor rauh, ohne sich nach der Kammerjungfer umzuwenden.

»Nein,« entgegnete sie verwundert, »aber die gnädige Frau wird bald fertig sein mit dem Kaffee, den sie selbst kocht – sie wünscht, der Herr Professor möchte ihn recht frisch trinken ... der Herr Rechtsanwalt Frank ist auch im Salon.«

»Nun gut, ich werde kommen,« sagte der Professor, aber er machte keine Anstalt zu gehen. Vielleicht hoffte er, Rosa solle sich wieder entfernen, darin irrte er sich jedoch. Das Mädchen machte sich mit Aennchen zu schaffen, die jammernd und wehklagend die Händchen zusammenschlug über alle die »totgetretenen Blümchen« auf dem Rasen. Endlich schritt er mißmutig den Damm hinab.

»Halten Sie sich nicht so lange hier auf,« rief er nach Felicitas zurück. »Der Wind wird stärker, er bringt uns möglicherweise ein Gewitter. Kommen Sie mit Aennchen in das Gartenhaus.«

Er verschwand hinter den Taxuswänden. Felicitas aber durchschritt hastig die ganze Länge des Dammes. In ihrem sonst so klaren Kopf wirbelte es chaotisch durcheinander. Sie rang vergebens nach der nötigen Fassung und Ruhe, um ihre augenblickliche Lage übersehen und Herr derselben werden zu können ... Also sie sollte ihr Joch weiterschleppen, und nicht genug, daß man ihr jedwede Selbständigkeit auf lange Zeit hinaus verweigerte, sie sollte sogar in seiner unmittelbaren Nähe leben, jahrelang täglich mit ihm verkehren – als ob dies nicht die furchtbarste Aufgabe wäre, die ihr je gestellt werden konnte! ... Hatte sie nicht alles gethan, ihm zu beweisen, daß er ihr in tiefster Seele verhaßt sei, daß sie unversöhnlich bleiben werde ihr lebenlang? War es nicht gerade deshalb die raffinierteste Grausamkeit, sie in der Weise fesseln zu wollen? ... Nein, tausendmal lieber wollte sie sich noch auf Jahre hinaus von Frau Hellwig mißhandeln lassen, als auch nur einen einzigen Monat länger mit ihm zusammen sein, der[228] eine wahrhaft dämonische Macht ihr gegenüber entfaltete. Schon allein seine Stimme vermochte ihren sonst so geordneten Gedankengang zu verwirren – der unbeschreiblich milde und warme Ton, den er jetzt immer annahm, berührte jede Fiber ihres Herzens und machte es heftiger klopfen – das war natürlicherweise der alte Haß, der sich aufbäumte, aber mußte sie nicht schließlich an diesem einen so furchtbar erregten und fortwährend genährten Gefühle physisch und moralisch zu Grunde gehen? ... Die neulich erzählte Vision hatte ihr viel zu denken gegeben, jetzt wurde ihr die einzige mögliche Lösung durch die Worte bestätigt: »Felicitas, Sie sollen jetzt erkennen lernen, wie es ist, wenn die Liebe für uns denkt und sorgt!«

Er beabsichtigte jedenfalls, trotz ihrer entschiedenen Erklärung in ihren Lebensfragen selbst entscheiden zu wollen, später eigenmächtig über ihre Hand zu verfügen, sie sollte an irgend einen Mann, den er wählte, gebunden werden – damit war sie versorgt und das ihr widerfahrene Unrecht, welches er allerdings eingesehen hatte, gut gemacht – das Herz drehte sich ihr um bei dieser Vorstellung ... Wie vermessen und unmoralisch war eine solche Absicht! Konnte er irgend einen Menschen zwingen, sie zu lieben? Er selbst hatte eine unglückliche Neigung und ging deshalb einsam durch das Leben; mit diesem Entschluß gestand er seinem Herzen große Rechte zu – es durfte entscheiden über seine ganze Zukunft ... Er sollte sehen, daß auch sie für sich selbst genau dasselbe Vorrecht beanspruche, daß sie sich nicht verhandeln ließe wie eine Ware ... Was hielt sie ab, sofort zu der Hofrätin Frank zu gehen und sich unter deren Schutz zu flüchten? ... Ach, da war ja der kleine graue Kasten, der kettete sie fester an das unselige Haus, als es irgend ein menschlicher Wille vermocht hätte – um seinetwillen mußte sie ausharren bis zum letzten Augenblick.[229]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 1, Leipzig 21900, S. 220-230.
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