1

Er ist ein einsamer Wanderbursch, der kleine Fluß, er läuft durch die stille Heide. Seine schwach klingenden Wellchen kennen nicht das tolle Jauchzen thaleinwärts stürzender Wasser; sie trollen sich gemächlich über widerstandslose, flach gewaschene Kiesel, zwischen seichten, mit Weiden und Erlen bestandenen Borden. Das Gebüsch aber verschränkt seine Zweige so undurchdringlich, als dürfe nicht einmal der Himmel droben wissen, daß die kleine Ader voll rieselnden Lebens in der verrufenen Heide klopfe. Und das ist so recht im Sinn vieler böser Zungen, die draußen in der Welt diese weiten Flächen germanischen Tieflandes verlästern.

Lieber, sieh dir einmal das vielgeschmähte Proletarierweib, die Heide, im Hochsommer an! Freilich, sie hebt die Stirne nicht bis über die Wolken, das Diadem des Alpenglühens oder einen Kranz von Rhododendren suchst du vergebens; – sie trägt nicht[5] einmal die Steinkrone des Niedergebirges; auch schmiegt sich nicht der breite funkelnde Stahlgürtel eines gewaltigen Wasserstromes unter ihren Busen; aber die Erika blüht; ihre lila- und rotgemischten Glockenkelche werfen über die sanften Biegungen des Riesenleibes einen farbenprächtigen, mit Myriaden gelbbestäubter Bienen durchstickten Königsmantel – und der hat einen köstlichen Saum.

Weit drüben schwillt die humusarme, sandige Fläche, die allerdings nur für das genügsame Heidekraut einen Nahrungsquell hat, zur mäßigen Anhöhe empor; in dem Boden steckt Kraft und Mark; der lange dunkle Streifen, mit welchem er die rotflimmernde Ebene plötzlich abschneidet, ist Wald, tiefer majestätischer Laubwald, wie er seinesgleichen sucht. Stundenlang schreitest du durch die dämmernden Säulenreihen, die der verachtete Heideboden gen Himmel treibt. In dem Geäst, hoch über deinem Haupte, nisten Finken und Drosseln, und aus dem Dickicht äugt das fliehende Wild scheu nach dir herüber. Und wenn endlich der Hochwald in niedriges Kieferngestrüpp ausläuft und dein Fuß zögert, auf die Waldbeeren zu treten, die hier, wie vom Himmel niedergeschüttet, in Scharlach und bläulicher Schwärze den Abhang färben, während von der Bodensenkung draußen liebliches Wiesengrün und das blasse Gold reifender Getreidefelder heraufschimmern – wenn aus dem mitten drin liegenden Dorf, das seine urgemütlichen Wohnhäuser um den ziegelbedeckten Kirchturm schart, menschliches Leben und Treiben und das Gebrüll stattlichen Hornviehs herüberschallt, dann denkst du wohl lächelnd der trostlosen, gottverlassenen Sandwüste, wie sie »in den Büchern steht«.

Das Flüßchen freilich, mit welchem diese Niederschrift beginnt, durchmißt eine der dürftigsten, menschenleersten Strecken. Es läuft lange parallel mit der Waldlinie am Horizonte, und erst nach reiflichem Ueberlegen macht es eine selbständige Schwenkung nach ihr hinüber. Bei aller Sanftmut nagt und wühlt es doch am weichen Uferboden, und einmal sogar gelingt es ihm, ein Miniaturbecken zu bilden, in welchem die langsam rinnenden Wasser scheinbar rasten. Hier weiß man nicht, wo die Luft aufhört und das Wasser beginnt, so klar abgezeichnet liegen die weißen Kiesel drunten, und so wenig bewegt schwimmt das Nixenhaar darüber hin. Das kleine Rund treibt die Erlenbüsche auseinander, eine lichtbedürftige Birke hat sich um einen Schritt hinausgeflüchtet und steht da wie ein holdes Sagenkind, dem die Sommerlüfte unaufhörlich blinkende Silberstücke aus den Locken schütteln.[6]

Es war in den letzten Tagen des Juni.

In dem kühlen Wasser des kleinen Beckens standen ein Paar brauner Mädchenfüße. Zwei ebenso sonnverbrannte Hände zogen das schwarze grobwollene Röckchen fest und vorsichtig um die Kniee, während sich der Oberkörper neugierig vornüber bog. Schmale, mit weißen Linnen bedeckte Schultern und ein junges, braun angehauchtes Gesicht – in der That, es war wenig und winzig genug, was der Fluß zurückwarf; immerhin – den zwei Augen im Wasser war es sehr gleichgültig, ob das Gesicht, in welchem sie saßen, griechische Regelmäßigkeit oder den Hunnentypus zeigte. Hier auf dem einsamsten Fleck der Heide gab es keinen Maßstab für weibliche Schönheit, keine Anregung zum Vergleich; nur daß alles, was im unverfälschten Tageslicht »natürlich« und altgewohnt erschien, aus dem Wasserspiegel so fremd heraufsah, das machte ihn verlockend.

Draußen im Sonnenschein, im sausenden Heidewind flatterte das ziemlich kurz verschnittene Lockenhaar lustig um Stirn und Nacken – hier unten wurde es zu schwer niederhängenden Rabenflügeln, unter denen hervor die kleinen, roten Glasperlen der Halskette wie dunkelglühendes Blut tropften, und das grobe derbe Leinenhemd gar leuchtete geschmeidig und seidenweich, als schwimme eine einzige große, schneeweiße Glockenblume drunten im Wasser – es verwandelte sich eben alles wie in der allerschönsten, alten Zaubergeschichte.

Meist füllte ein Stück dunkler Himmelsbläue die Bresche der Büsche, das gab der Wasserfläche eine harte Stahlfarbe und dem Mädchenbilde einen eintönigen Hintergrund. In diesem Augenblick jedoch liefen plötzlich glühende Dunstgebilde über den Spiegel – es war unglaublich, aber trotz allem dem quollen sie unmittelbar aus den Haarspitzen des Lockenkopfes. Das kämpfte durcheinander und glühte immer höher auf, als solle allmählich die ganze Welt von Purpur triefen. Nur das heimliche Düster um die Wurzeln des Buschwerks vertiefte sich zur finsteren Höhle, aus der einzelne Zweige wie schwarze Stalaktitenzacken in das schwimmende Feuer hineinragten – eine neue, blitzschnelle Wendung der alten Zaubergeschichte. Aber sie erzeugte einen heillosen Schrecken. Nahm doch selbst der Schatten, den das vorgeneigte Mädchen warf, Brunnentiefe an, aus der herauf zwei übergroße, entsetzte Augen glitzerten.

Die braunen Füße gehörten zu keiner Heldenseele; mit einem wilden Satze sprang sie an das Ufer – welch eine lächerliche[7] Flucht! Draußen über der Heide entzündete sich der Abendhimmel in roten Flammen, eine feurige, sanft zerfließende Wolke zog über die Bresche hin, das war der gespenstige Nimbus – und die Augen? Hatte wohl die Welt solch einen Hasenfuß wie mich gesehen? Solch ein kindisches Ding, das vor seinen eigenen Augen davonlief?

Zunächst schämte ich mich vor mir selber und dann vor meinen zwei besten Freunden, die Zeugen gewesen waren.

Meine gute Mieke zwar hatte sich weiter nicht stören lassen – sie war der weniger intelligente Teil. Die schönste schwarzbunte Kuh, die je über die Heideflächen gelaufen, stand sie breitspurig unter der Birke und riß und zupfte schwelgend an dem Grase, das der feuchte Uferboden in einem dünnen Streifen emportrieb. Sie hob den langen, schmalen Kopf, kaute mit unverkennbarem Appetit weiter an den fetten Halmen, die ihr zu beiden Seiten des Maules niederhingen, und sah nur einen Moment dummverwundert nach mir hin.

Spitz dagegen, der sich faul und schläfrig unter das kühle Gebüsch geduckt hatte, nahm die Sache tragischer. Er fuhr wie besessen in die Höhe und bellte in das zurückklatschende Wasser hinein, als sei mir der böse Feind auf den Fersen.

Er war nicht zu beschwichtigen; die Stimme sprang ihm über vor Alteration und Kampfeswut – und das war urkomisch. Lachend sprang ich in das Wasser zurück und sekundierte ihm, indem ich mit beiden Füßen den lügnerischen Spiegel in hochaufspritzende Atome zerstampfte.

Es war aber auch noch ein dritter Zeuge hinzugetreten, den weder ich noch Spitz bemerkt hatten.

»Nu, was macht denn mein Prinzeßchen da?« fragte er in jenen knurrenden, halbzerrissenen Tönen, wie sie aus einem Munde kommen, dem die unzertrennliche Tabakspfeife wie festgemauert zwischen den Zähnen sitzt.

»Ach, du bist's, Heinz?« – Vor dem schämte ich mich nicht, er lief selber wie ein Hase vor allem, was nicht ganz geheuer. Freilich, das glaubte keiner, der dies alte, gewaltige Menschenkind sah.

Da stand er, Heinz, der Imker1, auf Sohlen, so massiv und wuchtig, daß sie den Erdboden schüttern machten. Sein Scheitel rührt an Aeste, die für mich himmelhoch hingen, und der breite Rücken verschloß den Ausblick nach der Heide so vollkommen, als habe sich plötzlich eine Granitwand zwischen die Außenwelt und meine kleine Person geschoben.

Dieser Riese gab Fersengeld vor dem ersten besten weißen Laken im dämmernden Zwielicht – und das machte mir Vergnügen. Ich erzählte ihm so lange haarsträubende Sagen und Spukgeschichten, bis mich selber eine Gänsehaut überlief, und ich allen Mut verlor, auch nur in den nächsten dunklen Winkel zu sehen – wir fürchteten uns prächtig um die Wette.

»Ich zertrete ein Paar Augen, Heinz,« sagte ich und stampfte noch einmal fest auf, so daß die sprühenden Wassertropfen an seinem mißfarbenen Drellrock hängen blieben. »Du, da drin ist's nicht richtig –«

»Ei beileibe – am hellen Tage?«

»Ach, was fragt denn die Wasserfrau nach dem hellen Tage, wenn sie böse ist!« – Mit einer wahren Wonne sah ich, wie er halb ungläubig, halb mißtrauisch nach dem rotgefärbten Wasser schielte. – »Wie, du glaubst es nicht, Heinz? ... Ei, da wollt' ich doch, sie hätte dich so angesehen, so schlimm –«

Jetzt war er überwunden. Er zog die Tabakspfeife aus dem Munde, spuckte heftig aus und richtete in einem lächerlichen Gemisch von Triumph und Besorgnis die zerkaute Pfeifenspitze gegen mich.

»Was hab' ich immer gesagt, he?« rief er. »Ich thu's aber auch nicht wieder – nein, ich thu' es ganz gewiß nicht wieder! ... Meinetwegen können die Dinger haufenweise da drin liegen, ich rühre sie nicht wieder an – beileibe nicht!« –

Da hatte ich ja etwas Schönes angerichtet mit meiner Neckerei.

Der kleine Fluß, der Wanderbursch, der so einsam durch die Heide lief, war reicher, als so mancher stolze Strom, der an Palästen und Menschengewühl vorüberrauschte – er hatte Perlen in der Tasche; allerdings in nur geringer Anzahl und bei weitem nicht brillant genug, um ein Königsdiadem oder auch nur einen eleganten Ring zu schmücken. Aber was verstand ich davon! Ich liebte die kleinen mattglänzenden Dinger, die so rund und beweglich über meine Handfläche liefen. Stundenlang watete ich durch das Wasser und suchte nach Muscheln; ich brachte sie Heinz, der sich auf das Oeffnen der Schalen verstand – wie er das machte, war sein Geheimnis. Nun aber kündigte er mir kurz und bündig den Dienst, weil er sich steif und fest einbildete, die Wasserfrau werde uns als Spitzbuben den Prozeß machen.

»He, Heinz, es war ja nur ein dummer Spaß!« sagte ich[10] kleinlaut. »Lasse dir doch nichts weis machen!« – Ich bog mich über das Wasser, das bereits anfing, sich wieder zu glätten. »Da sieh selber – was guckt da herauf? ... Nichts, weiter gar nichts, als meine zwei eigenen schauderhaften Augen ... Warum sie nur so unmenschlich weit offen sind, Heinz! Bei Fräulein Streit war es nicht so schlimm und bei Ilse auch nicht.«

»Nein, bei Ilse auch nicht,« gab Heinz zu. »Aber Ilse hat scharfe Augen, Prinzeßchen, scharfe!«

Er hatte mir anfänglich mit seiner furchtbaren Faust gedroht, allerdings unter einem gutmütigen Schmunzeln – Heinz konnte nicht böse werden – bei seiner letzten unleugbar weisen und schlagenden Bemerkung aber kniff er wichtig die Lippen zusammen, zog die borstigen Augenbrauen bis unter den Hut und fuhr sich in die Haarbüschel, die strohgelb und dürr von den Schläfen starrten – sie knisterten förmlich in der heißen Abendsonne.

Darauf blies er eine mächtige Rauchwolke vor sich hin, zum Entsetzen der spielenden Mückenschwärme, die sich eiligst aus dem Staube machten; auch daheim die Ilse »mit den scharfen Augen« behauptete stets empört, das sei ein Kraut zum Umbringen – nur ich hielt stand, und wenn ich hundert Jahre erreichen sollte, der übelberufene Duft wird mich zu allen Zeiten sofort in die warme dunkle Ofenecke versetzen, mit dem ganzen Wonnegefühl des heimischen Geborgenseins neben Heinz auf der Holzbank kauernd, während draußen der heulende Schneesturm über die weite Heidefläche braust und ganze Batterien Eissplitter gegen die Fensterläden tosen.

Ich sprang zu ihm an das Ufer, und da kam auch gerade Mieke heran und rupfte zutraulich an einigen Quecken, die halbzertreten unter Heinzens Schuhen hervorguckten.

»Je, – wie sieht denn die aus?« lachte er auf.

»O, ich bitte mir's aus, da wird nicht gelacht!« schalt ich.

Mieke hatte sich prächtig herausstaffiert. Zwischen den weitabstehenden Hörnern hing ihr eine Guirlande von strahlendgelben Ringelrosen und Birkenlaub – ich fand, sie trüge diesen Schmuck so majestätisch und ungezwungen, als sei er mit ihr auf die Welt gekommen – eine Kette aus den dicken Stengelröhren der Hundeblume umschloß ihren Hals, und selbst an der Schwanzspitze baumelte ein Heidesträußchen; es kollerte lustig über den tonnenförmigen Leib herab, sobald Mieke den Wedel hob und nach den Stechmücken auf ihrem Rücken schlug.

»Sie sieht sehr feierlich aus – aber das verstehst du nicht,«[11] sagte ich. »Nun paß auf und rate, Heinz: Mieke hat sich geputzt, und auf dem Dierkhofe ist heute Kuchen gebacken worden – also was ist los?«

Aber da hatte ich an seine allerschwächste Seite appelliert; raten war nicht Freund Heinzens Sache. In solchen Momenten stand er hilfsbedürftig und bänglich vor mir, wie ein zweijähriges Kind – auch in diese Situation brachte ich ihn um alles gern.

»Schlaukopf, du willst mir nur nicht gratulieren!« lachte ich. »Aber das wird dir nicht geschenkt! ... Lieber, allerbester Heinz, heute ist mein Geburtstag!«

Da flog es wie Freude und Rührung über das gute, dicke Gesicht; er hielt mir die ungeschlachte Hand hin, in die ich herzlich einschlug.

»Und wie alt ist denn meine Prinzessin geworden?« fragte er mit konsequenter Umgehung jedweder Glückwunschrede.

Ich lachte ihn aus. »Weißt du das wieder nicht? ... Merk auf: Was folgt auf sechzehn?«

»Siebzehn – was? Siebzehn Jahre? ... Ist nicht wahr – solch ein kleines Kind! – Ist ja nicht wahr!« – Er hob protestierend beide Hände.

Dieser tiefe Unglaube empörte mich. Allein mein alter Freund, der es sich bis zu seinem zwanzigsten Jahre hatte angelegen sein lassen, mit der himmelstürmenden Tanne um die Wette zu wachsen, er war nicht so ganz im Unrecht ... Seit bereits drei Jahren reichte mein Ohr genau so hoch, daß es Heinzens starkes Herz pulsieren hören konnte – nicht um eine Linie höher war es in dieser langen Zeit gerückt. Ich war und blieb ein kleines Wesen, das sich gezwungen sah, auf Kinderfüßen durch das Leben zu huschen; und das nahm mir, nach Heinzens Begriffen von einem normalen Menschenkind, offenbar auch die Berechtigung, mit jedem Jahre älter zu werden.

Trotz allem dem zankte ich ihn tüchtig aus; aber diesmal half er sich als Politikus – er wechselte das Thema. Statt aller Antwort zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagte schmunzelnd: »Da drüben gibt's einen Extra-Geburtstagsspaß, Prinzeßchen – sie graben den alten König aus!«

Mit einem Sprunge stand ich außerhalb des Gebüsches.

Ich mußte beide Hände schützend über die Augen halten, so überwältigend flimmerten und brannten die roten Abendgluten. Drüben hinter der fernen Waldlinie schossen sie spießartig durch[12] dünne Dunst- und Wolkenschichten – dort umritten die alten Recken der Vorzeit die weite Heide und rührten mit den funkelnden Speeren an den Himmel.

Noch blühte die Erika nicht – glatt, wie über einen Tisch, breitete sich die grünlichbraune Pflanzendecke hin; nur fünfmal hob und senkte sie sich in jäher Anschwellung über fünf Hünenbetten, über ein großes und vier kleinere. Sie deckten Riesenleiber, wie der Volksmund sagte, ein verschollenes Geschlecht, unter dessen Schritt einst die Erde seufzte, und das mit mächtiger Faust Felsblöcke wie Kiesel umwarf. Auf dem Rücken des großen Hügels hatte sich Wacholdergebüsch eingenistet, und an den Flanken herab stand gelbblühender Ginster. Ob ein Vogel das Samenkorn hierhergetragen, oder ob Menschenhand die einsame alte Föhre gepflanzt hatte, genug, sie stand da, seitwärts auf dem Grat des Hügels, dünn benadelt und windzerzaust, und im Wachstum unterdrückt durch die Schneelasten des Winters; aber doch stolz als einziger, unbeschützter Baum inmitten der weiten Ebene, der mit jedem Sturm um sein Leben ringen mußte.

»Da liegt der alte König begraben; denn der Baum steht da, und es blühen gelbe Blumen – das haben die anderen nicht,« sagte ich als Kind zu Heinz, wenn wir auf dem Hügel saßen. Und ich wußte, da, wo der Baum stand, lag das gewaltige Königshaupt mit dem Goldreifen über der Stirne, und der lange, lange Weißbart fiel auf die Purpurdecke, die sie über seine Glieder gebreitet hatten. Die tiefste Einsamkeit webte um das schlafende Geheimnis, aber die Vögel, die vom Walde herüberkamen und auf dem Wipfel der Föhre rasteten, die um Ginster und Heide taumelnden, blauglänzenden Schmetterlinge und die summenden Bienen, sie alle waren meine Mitwisser. Und still atmend, die Hände unter dem Kopf verschränkt, lag ich im Gebüsch und sah die Ameisen in die Erdlöcher schlüpfen und wieder hervorkommen – sie wußten noch mehr als wir anderen, sie hatten alles drin gesehen und waren wohl gar über die Purpurdecke gelaufen. Ich beneidete sie und fühlte heftige Sehnsucht nach den verborgenen Wundern.

Bis zu dieser Stunde war der große Hügel mein Garten, mein Wald, mein unbestrittenes Eigentum gewesen. Der Dierkhof, meine Heimat, lag mutterseelenallein in der Heide; ein selten betretener Weg, der sie mit der Außenwelt verband, lief vom Walde her und ließ die Hünengräber weit abseits liegen – nie, solange[13] ich denken konnte, war ein fremder Menschenfuß in ihr Bereich getreten ... Nun stand auf einmal dort ein Trupp unbekannter Leute; sie rissen große Erdbrocken aus dem Leibe des Hügels. Ich sah die hochgeschwungene Hacke – wie ein feiner, schwarzer Strich hob sie sich vom flammenden Himmel ab, und so oft sie niedersank, war es mir, als schneide sie in das lebendige Fleisch eines geliebten Körpers.

Ohne Besinnen lief ich querfeldein, erfüllt von unsäglichem Mitleiden, aber auch getrieben von dem brennenden Verlangen, zu sehen, was dort an das Tageslicht treten würde. Spitz lief kläffend neben mir her, und als ich atemlos an Ort und Stelle Halt machte, da trabte auch Heinz in seinem Siebenmeilenschritt heran.

Jetzt erst überkam mich das Gefühl der Scheu, jener kindische Schrecken, den mir ein fremdes Gesicht stets einflößte. Ich wich zurück und griff beklommen nach Heinzens Rockzipfel – das gab mir wenigstens einigermaßen das Bewußtsein von Halt und Schutz.[14]

1

Bienenzüchter.

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 2, Leipzig 21900, S. 5-15.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon