31

[376] Mehrere Tage lang schwebte mein Vater zwischen Leben und Tod. Jener Anfall von Tobsucht, infolgedessen er den Brand in der Karolinenlust verursacht, war nicht, wie ich gefürchtet, Wahnsinn, sondern der erste Paroxysmus einer nicht beachteten, schon seit Tagen in ihm wühlenden nervösen Krankheit gewesen. Die Gefahr, die über seinem Leben hing, konnte mir nicht verborgen bleiben, und so saß ich Tag und Nacht an seinem Bett und meinte in der alten trotzigen Weise, der Tod könne es gar nicht wagen, unter meinen stets wachen Augen den schwachen Lebensfunken auszulöschen ... Ob er sich vor der dräuenden Mädchenseele in der That gefürchtet, ich weiß es nicht – aber er ging vorüber, und nach einer Woche voll unaussprechlicher Angst erklärten die Aerzte den Kranken für gerettet. Außer Frau Helldorf stand mir noch eine tüchtige Wärterin zur Seite, und der Leibarzt des Herzogs, den Seine Hoheit selbst geschickt, blieb stundenlang in der Karolinenlust und wachte ängstlich über »das kostbare Leben des berühmten Gelehrten ...« Es erwies sich nun auch als eine sehr irrige Voraussetzung in der guten Residenz K., daß die Münzenaffaire meinen Vater bei Hofe notwendig stürzen müsse – nie war der Herzog liebevoller und teilnehmender gewesen, als während dieser schweren Zeit; täglich mehrere Male erschienen seine Boten, um sich nach dem Ergehen des Kranken zu erkundigen, und mit ihnen stellte sich auch der mehr oder minder betreßte Lakaientroß der plötzlich wieder niederduckenden Hofkoterie ein.

Im Vorderhause hatte man auch ein Krankenzimmer einrichten müssen – ein dunkles, tief verhangenes ... Herr Claudius hatte sich bei dem verhängnisvollen Sturz eine schmerzvolle Ausrenkung des Armes zugezogen, dazu kam eine heftige, durch den erstickenden Rauch und die blendenden Flammen hervorgerufene Augenentzündung, die anfänglich den Arzt das Schlimmste befürchten ließ. Ich litt unbeschreiblich, denn ich durfte ihn ja nicht sehen. Wenn mich aber die Aerzte vom Krankenbett fort ins Freie hinaus scheuchten, um nur einmal wenigstens frische Luft zu schöpfen,[376] dann lief ich in das Vorderhaus und ruhte nicht, bis Fräulein Fliedner herauskam und mir persönlich Bericht erstattete ... Inmitten seiner schweren Leiden vergaß er doch die kleine Lenore nicht. Die Fenstersimse und Blumentische in meinem Zimmer waren zu Veilchen-, Maiblumen- und Hyacinthenbeeten geworden – ich fühlte mich stets beim Eintritt in Frühlingsodem förmlich versinken. Der Leibarzt meinte, Heideprinzeßchen werde nächstens den poetischen Tod durch Blütenduft sterben, und der alte Schäfer vertraute mir schmunzelnd, im Treibhause sähe es greulich leer aus, und der Obergärtner schneide ein grimmiges Gesicht. Frau Helldorf, die Aerzte, die Wartefrau, wer sich ein wenig von der Luft der Krankenstube erholen wollte, der flüchtete in das köstlich ausgeschmückte Zimmer; nur eine Person sah es mit ungnädigen Augen an, und das war meine Tante Christine.

Solange mein Vater bewußtlos dalag, kam sie täglich herüber, mich zu besuchen. Ich muß gestehen, daß ich stets zitterte, wenn ich ihren leichten, schwebenden Schritt hörte, ihr erstes Erscheinen am Krankenbett hatte mich tief niedergeschmettert. Mit der graziösesten Wendung ihres schönen Kopfes hatte sie mir bei Erblicken des verfallenen Leidensgesichtes rückhaltslos zugeflüstert: »Kind, mache dich auf das Schlimmste gefaßt – er geht rasch seinem Ende entgegen.« – Seitdem fürchtete ich sie; Groll und Verdruß aber stiegen in mir auf, als sie eines Tages in mein Zimmer kam.

»Gott, wie himmlisch!« rief sie und schlug in ihre rosig weißen Hände. »Herz, du mußt über bedeutende Nadelgelder zu verfügen haben, daß du dir einen solchen außerordentlichen Luxus erlauben kannst!«

»Ich habe die Blumen nicht gekauft – Herr Claudius hat das Zimmer ausschmücken lassen,« sagte ich beleidigt – »ich, und Luxus treiben!«

Sie fuhr herum, und ich sah zum erstenmal, daß diese prachtvollen, sanftmütigen Augen Blicke, scharf wie Dolchspitzen, schießen konnten.

»Es ist dein Zimmer, Lenore?« fragte sie in schneidendem Tone.

Ich bejahte.

»Ach, Kindchen, dann ist es wohl ein Irrtum deinerseits! Nun, nun, das ist sehr verzeihlich, du bist ja noch ein Kind!« meinte sie darauf gutmütig lächelnd und strich mir mit ihrem samtweichen Finger schäkernd über die Wange. »Schau, der alte Schäfer ist solch ein Blumennarr – er wird dir das Stübchen[377] so zum Ersticken vollgepfropft haben – Schelm, mir scheint, du hast bei ihm einen Stein im Brett! ... Ein Mann, wie Herr Claudius, so ernst, und so sehr in eine unbeglückte Vergangenheit vertieft – ich weiß das ja durch dich und Frau Helldorf – kommt sicher nicht auf die Idee, solch ein kleines – na, nimm mir's nicht übel, kleine Maus – ein wunderkleines Backfischchen mit dem Flor seiner Treibhäuser förmlich zu überschütten.«

Ich schwieg und schluckte meinen Groll hinunter. Ihre Behauptungen hätten mich sehr niederschlagen können, denn es war ja nicht zu leugnen, neben ihr, der Junogestalt, war ich das unbedeutendste Geschöpfchen, das sich denken ließ – aber die Blumen[378] waren doch von Herrn Claudius, ich wußte es genau, wenn ich auch die beseligende Gewißheit tief im Herzen versteckte ... Meine Tante betrat das Zimmer nicht wieder; sie versicherte, der einmalige kurze Aufenthalt in der »Treibhausluft« habe ihr entsetzliche Kopfschmerzen verursacht ... Seltsam, daß es der schönen Frau mit der sanften Stimme und dem geschmeidigen Wesen nicht gelingen wollte, sich im Schweizerhäuschen einzuschmeicheln! Der alte Schäfer machte mir stets ein vorwurfsvolles Gesicht, wenn ich auf Tante Christine zu sprechen kam, und meinte, sein schönes, sauberes Zimmer sähe zum Spektakel aus – die Dame rühre kein Staubtuch an und scheine gar nicht zu wissen, wozu die Nägel an den Wänden seien – sie lasse die Kleider auf dem Fußboden liegen; und Frau Helldorf zürnte ernstlich, als sie eines Tages sah, wie ich meiner Tante Geld gab.

»Sie versündigen sich förmlich,« sagte sie, als wir allein waren; »denn Sie unterstützen geflissentlich die Faulheit und Verschwendung ... Drüben stehen die Tische voll Naschwerk aller Art – Die Frau sollte sich schämen, Austern und marinierten Aal zu essen, Champagnerflaschen hinter dem Sopha stehen zu haben, und das alles durch Sie bezahlen zu lassen! – das können Sie unmöglich durchsetzen! ... Mag sie doch mit Gesangsunterricht ihr Brot verdienen – ihre Stimme ist ausgesungen, aber sie hat eine brillante Schule.«

Zu meiner eigenen Beruhigung konnte ich ihr versichern, daß das jedenfalls auch geschehen werde; Tante Christine habe wiederholt gesagt, daß sie einen festen Plan verfolge. Sie bedürfe zu der Ausführung aber eines männlichen Rates und Beistandes und habe gehofft, beides bei meinem Vater zu finden; nun er sie jedoch lieblos verstoßen, wolle sie warten, bis Herr Claudius genesen sei – nach allem, was sie von diesem Manne höre, sei er am ersten imstande, ihr für einen längeren Aufenthalt in K. Rat und Unterstützung zu gewähren. Ich fand an der Idee nichts auszusetzen und ward ein klein wenig unwillig, als Frau Helldorf mit Kopfschütteln meinte, Herr Claudius werde sich schwerlich damit befassen, wenn er einmal der Dame in das geschminkte Gesicht gesehen habe.

Die kleine Frau war mir in der Leidenszeit unbeschreiblich lieb geworden. Welches Opfer brachte sie, indem sie das Haus betrat, welches ihr unversöhnlicher Vater bewohnte! In völliger Flucht kam sie stets atemlos und mit klopfendem Herzen an – die Furcht vor einer abermaligen Begegnung jagte sie. Die arme Verstoßene liebte trotz alledem ihren Vater innig und war tief[379] bekümmert, als sie hörte, daß er seine gesamte Habe verpfändet habe, um die Missionsgelder herbeizuschaffen. Trotz aller Bemühungen war man dem Diebe nicht auf die Spur gekommen ... Mir erschien der alte Buchhalter seltsam verändert; er grüßte mich jetzt bei jeder Begegnung und hatte sich sogar einige Male herbeigelassen, nach meinem kranken Vater zu fragen. Charlotte bestätigte meine Wahrnehmung; sie behauptete zornig, er gehe ihr und Dagobert aus dem Wege; »der alte Schwachkopf« bereue entschieden, das Geheimnis seines Chefs verraten zu haben, und werde schließlich – das sehe sie voraus – im entscheidenden Moment zu leugnen versuchen ... Das leidenschaftliche Mädchen litt unsagbar. Die Prinzessin war leidend, hielt sich seit jenem Abend fern von allem Geräusch des Hoflebens, und das Haus in der Mauerstraße schien für sie nicht mehr zu existieren. Was sollte nun geschehen? Mein abermaliger Vorschlag, Herrn Claudius selbst alles zu sagen, wurde auch von Charlotte mit Entrüstung und der anzüglichen Bemerkung zurückgewiesen, der Blumenduft in meinem Zimmer umschmeichle und besteche mich. Ich schwieg von da ab auf alle Klagen.

Fünf Wochen waren seit dem Feuerunglück vergangen, und die furchtbare Heimsuchung lag hinter mir. Mein Vater war längst außer Bett; er erholte sich auffallend rasch, war durch die Aerzte schonend von allen Vorgängen unterrichtet worden, und hatte sich zur Verwunderung aller ziemlich schnell und leicht in die betrübende Thatsache gefunden, daß sein Manuskript Staub und Asche sei. Weit schmerzlicher berührte ihn die Nachricht, daß eine Anzahl kostbarer Bücher und Handschriften nicht habe gerettet werden können, daß die prachtvollsten Exemplare der antiken Thongefäße vernichtet seien, und wie man mit dem besten Willen das abgeschlagene Marmorhändchen des schlafenden Knaben nicht wieder aufzufinden vermöchte. Er vergoß Thränen des Schmerzes und konnte sich nur schwer darüber beruhigen, daß er der Welt und Herrn Claudius diesen nie zu ersetzenden Schaden zugefügt. Der Herzog besuchte ihn sehr oft; er wurde damit unmerklich wieder in das Fahrwasser seines gewohnten Denkens und Wirkens geleitet und hatte bereits zahllose Pläne und Entwürfe im Kopfe ... Mir begegnete er mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit – das Unglück hatte Vater und Tochter eng verbunden – er mochte mich nicht mehr missen: trotzdem versicherte er mir oft und ernstlich, er werde mich mit Beginn des Frühjahrs auf vier Wochen in die Heide schicken – ich sei zu blaß geworden und müsse mich erholen.[380]

Es war ein trüber Märznachmittag. Zum erstenmal wieder seit fünf Wochen wollte ich in das Schweizerhäuschen gehen; meine Tante hatte mir in einigen Zeilen Vorwürfe gemacht, daß ich sie, nachdem mein Vater doch genesen, so konsequent vernachlässige. In der Halle stürmte mir Charlotte entgegen. Ich erschrak vor ihr – solch einen wilden Triumph und Jubel hatte ich noch nicht auf einem Menschenantlitz gesehen. Sie riß ein Papier aus der Tasche und hielt es mir unter die Augen.

»Da, Kind!« keuchte sie atemlos. »Endlich, endlich geht die Sonne über mir auf! ... Ah!« – Sie breitete die Arme weit aus, als wolle sie die ganze Welt an ihre Brust ziehen. »Sehen Sie mich an, Kleine – So sieht das Glück aus! ... Heute zum erstenmal darf ich sagen: Meine Tante, die Prinzessin! ... O, sie ist doch gut, ja sie ist grenzenlos edel! So sich selbst überwinden kann eben doch nur der Edelgeborene! ... Sie schreibt mir, sie will mich sehen und sprechen – morgen soll ich mich bei ihr einfinden. Seien unsere Ansprüche begründet – ah, ich möchte den sehen, der so frech wäre, sie anzufechten! – dann werde alles geschehen, uns in unsere Rechte einzusetzen! – sie habe bereits mit dem Herzog darüber gesprochen – hören Sie? mit dem Herzog,« sie ergriff meinen Arm und schüttelte mich, »wissen Sie auch, was das heißen will? Wir werden als die Kinder der Prinzessin Sidonie anerkannt werden und als Familienglieder in das souveräne Haus eintreten.«

Ein Schauer lief durch meinen Körper – die Entscheidung war da.

»Wollen Sie die Angelegenheit wirklich zur Sprache bringen, solange Herr Claudius noch leidend ist?« fragte ich mit unsicherer Stimme.

»Ah bah – er ist ja nicht mehr krank. Die dicksten Hüllen sind von seinen Fenstern gefallen; er trägt einen grünen Schirm und hält sich heute zum erstenmal in den ein klein wenig verhangenen Salons neben meinem Zimmer auf. Er hat sich den Privatspaß gemacht, Eckhof zu seinem Geburtstag in einem allerliebsten kleinen Portemonnaie die tausend Thaler Missionsgelder zu bescheren, damit er seine Habe wieder einlösen kann. Der Alte war dermaßen zerknirscht, daß ich Todesangst hatte, er werde dem Onkel zu Füßen fallen und seine Ausplauderei uns gegenüber beichten – zum Glück fand er vor Rührung keine Worte ... Uebrigens bin ich hart geworden, hart wie ein Kieselstein – ich habe[381] zu furchtbar gelitten in den letzten Wochen; auch von Dagobert mußte ich von früh bis spät die maßlosesten Vorwürfe über ›das plumpe Anfassen der Sache‹ hören ... Ich kenne keine Rücksicht mehr; und wenn in dieser Stunde noch der Onkel vor die Schranken gefordert würde – ich rührte keinen Finger, es zu verhindern!«

Sie begleitete mich bis an die Gartenthür, dann sah ich sie wie einen Pfeil bergauf in das blätterlose Dickicht hineinfliegen – das Glücksgefühl, das ihr die Brust fast zersprengte, trieb sie auf den Berggipfel, von wo aus sie in die schrankenlos weite Welt hineinjubeln konnte, und ich wäre am liebsten umgekehrt und hätte mich in den dunkelsten Winkel der Karolinenlust verkrochen, um mein unsägliches Bangen, meinen Schmerz um Herrn Claudius zu verbergen.

Ich schlüpfte vorläufig an Tante Christinens Zimmer vorüber – zu meinem Befremden scholl Hundegekläff heraus – und ging in das obere Stockwerk. In Helldorfs Familienstube hatten sich stets meine stürmisch klopfenden Pulse gesänftigt ... Lauter Jubel empfing mich. Herr Helldorf streckte mir beide Hände entgegen, Gretchen umschlang meine Kniee, und der kleine Hermann saß auf dem Fußboden und krähte und strampelte mit beiden Beinchen und wollte genommen sein. Die kleine Frau aber nahm flugs die Kaffeemaschine aus dem Schrank, holte ein ganz speziell für mich aufbewahrtes Stück Kuchen herbei, und bald darauf saßen wir um den trauten Familientisch ... Dann und wann unterbrach eine kühne Koloratur – perlenreine Läufer und Triller – unsere Plauderei – Tante Christine sang, oder trällerte vielmehr drunten; das klang wundervoll; so oft sie aber einen Ton fest anschlug und aushielt, da that mir das Herz weh – die Stimme, die einst wohl von hinreißendem Klang gewesen sein mochte, war total gebrochen.

»Die Frau da unten muß sobald wie möglich einen Wirkungskreis erhalten – sie führt ein wahres Schlaraffenleben,« sagte Herr Helldorf mit leichtem Stirnrunzeln. »Ihre Schule ist ganz vortrefflich, und ich habe mich erboten, ihr Schülerinnen zu verschaffen – sie kann sehr viel Geld verdienen, wenn sie will. Aber den Hochmutsblick, das höhnische Lächeln, mit welchem sie mir ›für gütige Protektion‹ dankte, werde ich nie vergessen. Seitdem hat sie sich hier oben nicht wieder blicken lassen.«

»Blanche bellt – es kommt jemand, Mama,« sagte Gretchen.

»Ja, Blanche – das ist auch ein neuer Bewohner im Schweizerhäuschen, der Ihnen vorgestellt werden wird, Lenore,« meinte lächelnd Frau Helldorf. »Die Tante hat sich vorgestern[382] einen reizenden kleinen Seidenpinscher gekauft – Schäfer ist außer sich, er will das boshafte Tier nicht dulden –«

Sie schwieg plötzlich und horchte – starke Männerschritte kamen die Treppe herauf, schritten über den Vorsaal und verharrten dann einen Augenblick. Frau Helldorfs Gesicht war schneebleich geworden; sie stand da mit zurückgehaltenem Atem, starr wie eine Statue, und als sei es ihr unmöglich, auch nur einen Fuß nach der Thür zu bewegen, um sie zu öffnen. Da legte sich draußen eine Hand auf den Drücker, die Thür that sich auf und ein hoher, stattlicher Mann trat zögernd auf die Schwelle.

»Vater!« schrie die junge Frau – es war ein Schrei, schwankend zwischen herzzerreißendem Schluchzen und wonnevollem Jauchzen. Eckhof fing die Taumelnde in seinen Armen auf und drückte sie an seine Brust.

»Ich bin hart gewesen, Anna – vergiß es,« sagte er mit schwankender Stimme.[383]

Sie hatte keine Antwort – sie vergrub nur immer tiefer das Gesicht an der Brust, von der sie so lange verstoßen gewesen ... Seinem Schwiegersohn reichte der alte Mann wortlos die Rechte hin; Helldorf schlug feuchten Auges kräftig ein und hielt sie einen Augenblick fest.

»Ich will dir auch ein Händchen geben, Großpapa,« sagte Gretchen und reckte sich auf den Zehen an der hohen Gestalt des Großvaters empor.

Die süße Kinderstimme machte die junge Frau endlich aufsehen. Sie sprang zu ihrem Knaben, nahm ihn vom Boden auf und hielt ihn dem Großpapa hin. »Küsse ihn, Vater!« sagte sie, immer noch zwischen Lachen und Weinen schwankend. »Gretchen kennst du, den Jungen aber noch nicht ... Denke nur, er hat die großen, blauen Augen der seligen Mutter – o Vater!« Sie schlang aufs neue den linken Arm um seinen Hals.

Hier hatte ich die Thür erreicht und schlüpfte geräuschlos hinaus. So heimisch ich auch in der Familie Helldorf war, jetzt, wo sich die tiefe Kluft schloß, die zwischen Vater und Tochter gelegen, jetzt gehörte ich nicht in den kleinen Kreis – den Reuigen durfte in dieser Weihestunde kein fremder Blick treffen. Aber in meiner Seele war es sonnig hell geworden – so hell, wie droben im Stübchen der glücklichen Menschen, wo wunderbarerweise in dem Augenblick, als ich hinausschlüpfen wollte, ein einzelner blasser Abendsonnenstrahl vom trüben Märzhimmel niedersank und über die stumm dreinschauenden Familienbilder an der Wand hinglitt, als sollten auch sie aufleben und mitfühlen die Wonne der Versöhnung ...

Meine Tante lag auf dem Sofa, als ich in ihr Zimmer trat. Mit wütendem Gekläff fiel mich die kleine Furie Blanche an und grub die Zähne in meine Kleider – ich gab ihr einen leichten Schlag auf den Kopf, worauf sie knurrend auf den Schoß ihrer Herrin flüchtete.

»Ach nein, Lenore, schlagen darfst du meinen kleinen Liebling nicht!« rief mir Tante Christine halb bittend, halb schmollend zu. »Siehst du, nun ist dir Blanche gram, und du wirst Not und Mühe haben, ihr Herzchen wieder zu gewinnen.«

Ich meinte innerlich, daß ich mir diese Not und Mühe sicher nie machen würde.

»Schau, ist's nicht ein reizendes Geschöpf?« – Sie strich mit zärtlicher Hand dem in der That wunderhübschen Tierchen die langen seidenen Haarsträhne aus den klugen Augen. »Und[384] denke dir, um einen Spottpreis bin ich dazu gekommen. Der Mann, der es verkaufte, war in Not – vier Thaler habe ich dafür gegeben; ist das nicht geradezu geschenkt?«

In meiner tiefen Betroffenheit brachte ich kein Wort über die Lippen – neulich hatte ich meine Kasse redlich mit Tante Christine geteilt – sie hatte acht Thaler bekommen.

»Ich besaß früher auch schon einmal solch einen Seidenpinscher – ein wahres Prachtexemplar – er war ein Geschenk des Grafen Stettenheim und kostete mehr Louisdor, als der Kleine[385] hier Thaler ... Es ließ sich kein schönerer Anblick denken, als dieses blaßgelb glänzende Geschöpfchen auf seinem blauseidenen Kissen ... Das arme Ding ist schließlich an einem Rebhuhnflügel erstickt.«

Das alles plauderte sie mit lächelndem Munde. Noch vertieften sich die schönsten Grübchen in ihren Wangen bei diesem Lächeln, und ich mußte immer und immer wieder auf die feinen, gleichmäßig geformten Zähnchen sehen, die perlmutterweiß zwischen den roten Lippen blinkten. Der Kopf der schönen Frau war tadellos frisiert – ihr Anzug dagegen erschreckte mich förmlich. Ein abgenutzter, violetter Schlafrock voller Flecken hing lose um die geschmeidigen Glieder, und aus der Oeffnung über der Brust und den Löchern am Ellenbogen kam ungeniert ein Nachthemd von sehr zweifelhafter Weiße. Mit dieser Toilette harmonierte die ganze Umgebung. Mitten im Zimmer, auf den Dielen lag ein Paar niedergetretener, unsauberer, weißer Atlasschuhe, die jedenfalls zu Schlafschuhen und zeitweise zu Blanches Spielzeug degradiert waren. Die ehemals so glänzenden Platten der Tische und Kommoden deckte eine undurchdringliche Staublage, und hinter dem Bettvorhang lagen Kissen und Kleidungsstücke unordentlich durcheinander – dagegen war die Luft mit dem feinsten, lieblichsten Veilchenparfüm erfüllt.

»Gelt, du findest meine Umgebung auch grenzenlos vernachlässigt?« fragte sie, meinen Blick auffangend. »Ich habe dir drüben bei meinen Besuchen nicht auch noch vorklagen und das Herz schwer machen wollen – du trägst ohnehin Last genug auf deinen kleinen Schultern. Aber nun darf ich dir's ja sagen, daß ich mich hier, zwischen diesen vier Pfählen, namenlos unglücklich fühle ... Schäfer ist ein Erznarr – solch ein Mensch hat nicht die blasse Ahnung, was eine Frau wie ich, so von Gott und aller Welt auf den Händen getragen, verzogen und verhätschelt, zu beanspruchen gewohnt ist. Statt mir, wie es sich bei jeder Mietwohnung von selbst versteht, jeden Tag für ein gereinigtes Zimmer zu sorgen, verlangt er lächerlicherweise von mir, daß ich seine Möbel abstäube und den Besen in die Hand nehme – da kann er warten!«

Sie griff in ein Porzellankörbchen voll Krachmandeln und Messinatrauben und fing an, Mandeln aufzuknacken.

»Nimm dir doch auch,« sagte sie zu mir, indem sie Blanche eine der süßen Beeren hinreichte. »Es ist freilich wenig, womit ich dir aufwarten kann; allein ein Schelm gibt mehr, als er hat ... Es wird auch einmal wieder besser, und dann sollst du sehen, was für reizende Diners ich arrangieren kann ... Apropos,[386] um wieder auf Schäfer zu kommen! ... Der alte sanfte Scheinheilige kann auch recht flegelhaft werden. Denke dir nur, als ich vorgestern Blanche kaufte und dem Mann das Geld hinzählte, mahnte er mich doch unverschämterweise und verlangte, ich solle ihm erst die rückständige Monatsmiete und seine Auslagen für Feuerung und Licht während meines Hierseins zahlen ... Gelt, das geht mich doch nichts an, Herzchen? ... Du hast mich doch eingemietet.«

Mich überlief es siedendheiß vor Angst – wo sollte das hinaus? Und wenn ich von früh bis spät für Herrn Claudius schrieb, den Unterhalt für die Tante konnte ich unmöglich bestreiten ... Ilses Gesicht tauchte vor mir auf – wie oft hatte ich die alte, treue Seele in meinem Innern hart und unerbittlich gescholten, weil sie aus allen Kräften eine Annäherung zwischen Tante Christine und mir zu verhindern suchte – jetzt steckte ich in der Klemme und büßte.

»Tante, ich muß dir offen sagen, daß meine Geldmittel sehr gering sind,« versetzte ich in großer Verlegenheit, aber dennoch unumwunden. »Ich will ganz aufrichtig gegen dich sein und dir etwas mitteilen, das mein Vater nicht weiß – das Wirtschaftsgeld verdiene ich fast allein durch Beschreiben der Samentüten für Herrn Claudius.«

Zuerst sah sie mich starr und zweifelhaft an, dann brach sie in ein unauslöschliches Gelächter aus. »Also so poetischer Art sind eure Beziehungen zu einander? ... Das ist gottvoll! Und ich bin so kindisch gewesen, einen Augenblick zu fürchten – Na, Kleine,« unterbrach sie sich selbst fröhlich, »das hört auf, wenn sich meine Lage eines Tages ändern wird, darauf kannst du dich verlassen! Dann leide ich's nicht! ... Fi donc, wie hausbacken! ... Da solltest du mal sehen, wie ich mich zu dem Manne stellen würde! ... Abschreiben, das ist ja freilich ein saurer Erwerb, und ich kann unmöglich aus deiner Börse leben! ... Aber was anfangen? ... Kind, ich zähle die Stunden bis zu dem Moment, wo es heißen wird, dieser Herr Claudius sei genesen und endlich einmal zu sprechen!«

»Er hat heute zum erstenmal das Krankenzimmer verlassen.«

»Himmel! Und das sagst du mir jetzt erst?« Sie fuhr aus ihrer halb liegenden Stellung empor. »Weißt du nicht, daß du mit jedem verlorenen Augenblicke mein Lebensglück verzögerst? Habe ich dir nicht oft genug gesagt, wie ich diesem Ehrenmanne meine Zukunft in die Hände legen und von seinem Rat und Urteil mein Wohl und Wehe abhängig machen will?«[387]

»Ich glaube, er wird dir auch nicht anders und nicht besser raten können als Herr Helldorf, liebe Tante,« sagte ich. »Herr Claudius hält sich sehr fern von der Gesellschaft, während Helldorf als Lehrer in den ersten Familien Zutritt hat. Er sagte mir vorhin selbst, du würdest sehr viel Geld verdienen können, wenn –«

»Ich bitte,« unterbrach sie mich eisigkalt, »behalte deine Weisheit für dich! ... Es ist meine Sache, in welcher Art und Weise ich mir Bahn brechen will, und ich muß dir offen gestehen, daß mir durchaus nichts daran liegt, mit den Leuten da oben in irgend eine Beziehung zu treten, geschweige denn, mir auch nur die allergeringste Verbindlichkeit ihnen gegenüber aufzuladen ... Das sind solche spießbürgerliche Bekanntschaften, die einem später wie Blei anhängen, und – enfin, Kind, sie stehen der Sphäre ewig fern, in der ich zu leben gewohnt bin! ... Und nun bitte ich dich wiederholt dringend, alles aufzubieten, um mir eine Besprechung mit Herrn Claudius zu verschaffen.«

Ich stand auf, und sie glitt vom Sofa nieder und huschte in die Atlasschuhe, bei welcher Gelegenheit ich sah, daß ihre schlank gebauten Füße in fleischfarbenen seidenen Strümpfen steckten.

»Ach, du kleine Maus da unten!« lachte sie fröhlich auf und strich, ihre schlanke Gestalt hoch aufreckend, mit dem ausgestreckten Arme über meinen Scheitel hin. Wir standen gerade vor dem Spiegel, unwillkürlich sah ich in das Glas – mein bronzefarbener Kreolenteint, wenn auch vollkommen fleckenlos und jugendfrisch, stach dennoch unvorteilhaft ab von den Pfirsichwangen und der glänzend weißen Stirn meiner Tante; aber ich sah auch heute zum erstenmal den widrigen Lack deutlich, der in einer dicken Lage das vierzigjährige Gesicht dort deckte. Ich schämte mich in ihre Seele hinein, wenn ich dachte, daß Herrn Claudius' scharfer, strenger Blick dieselbe Bemerkung machen könne; aber so oft ich auch die Lippen öffnete, sie zu bitten, mit dem Taschentuch ein wenig mildernd über das Gesicht zu wischen, ich brachte dennoch kein Wort heraus, um so weniger, als sie mich eben eine kleine bräunliche Haselnuß nannte und sich über »diese samtene Zigeunerhaut« höchlich verwunderte, da doch die Jakobsohns, wie sie in Figura noch zeige, stets mit einem lilienweißen Teint begnadet gewesen seien.

Ich entzog mich ihren streichelnden Händen und verließ das Zimmer mit der Versicherung, daß ich direkt zu Fräulein Fliedner gehen und mit ihr über die zu ermöglichende Besprechung beraten wolle.

Mit einem inbrünstigen Kuß wurde ich entlassen.[388]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 2, Leipzig 21900, S. 376-389.
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