Neunzehnter Auftritt


[88] Die Vorigen.

Dann der Hākawāti und hierauf die Phantasie mit der Bibel.

Gegen den Schluß dieses Auftrittes beginnt die Dämmerung.


HĀKAWĀTI erscheint nicht im Hintergrunde, sondern hinter der ersten Kulisse links, wo der Scheik von Bēnt'ullāh gesprochen hat. Er meldet an.

Die Phantasie!


Bleibt stehen bis Phantasie und Bibel an ihm vorübergegangen sind.


PHANTASIE noch hinter der Szene, laut, in gebieterischem Tone.

Es naht die Kunst. Die Posse hat zu schweigen!


Auf diesen Befehl verstummt draußen sofort das »Ūmehā« der Schattenspieler. Die Phantasie tritt ein, da, wo der Hākawāti steht, also auf dem einstigen Gebetswege der totgeglaubten Bēnt'ullāh. Sie führt die tief verschleierte Bibel an der Hand. Sobald man Beide sieht, erklingen Harfen im Innern

des Turmes. Alle Anwesenden lauschen, im höchsten Grade erstaunt, nach dem Turme. Die Phantasie bleibt mit der Bibel stehen und fragt.


PHANTASIE.

Wer grüßt uns hier?

HĀKAWĀTI die Hände feierlich erhebend.

Die Harfen der Psalmisten!

PHANTASIE nach rückwärts deutend, wo man sich den Fluß zu denken hat.

Die Saitenspiele, die ich dort am Ufer

Des Euphrat an den Weiden hängen sah,

Als Gottes Volk um Zions Tempel weinte.

Wie kommen sie hinab in diesen Turm?[88]

HĀKAWĀTI.

Sie sanken mit dem Geiste in die Tiefe

Und klingen nun zu dir, zu euch empor,

Weil sie es ahnen, daß die Hilfe naht.

PHANTASIE.

Die Hilfe naht?


Mit einer Neigung nach der Bibel.


So schreite sie denn weiter!


Die Phantasie bleibt, wo sie steht. Sie läßt die Hand der Bibel los. Diese geht vorwärts, direkt nach dem Alabaster, genau so, wie der Scheik es von Bēnt'ullāh gesagt hat, in langsamen Schritten, zu

denen die Akkorde der Harfen den Takt angeben. Diese Akkorde werden immer lauter, je näher die Bibel ihrem Lieblingsplatze kommt. Sie halten einmal plötzlich an, als die verschleierte Gestalt, einen Augenblick zaudernd, vor ihm stehen bleibt. Als sie sich aber dann setzt, jubeln sie hoch auf und brechen dann ab.

Dieser von den Harfen begleitete Gang nach dem Alabaster darf keinesweges etwas Theatralisches oder gar Bombastisches an sich haben. Er bedeutet die Rückkehr der Bibel nach dem Morgenlande und ist zu gleicher Zeit die Heimkehr der erzieherischen Weiblichkeit zum »Menschen der Gewalt«, den sie zu veredeln hat. Das muß schlicht und bescheiden geschehen, ohne die geringste Spur von Effekthascherei.

Als die Bibel an dem Scheik der Todeskarawane vorübergeht, zuckt er in ihrer Atmosphäre zusammen und bleibt mit großen Augen an ihr hängen. Man sieht, daß er auch die Phantasie mit höchstem Interesse beobachtet. Sie kommt ihm bekannt vor. Er denkt über sie nach. Die Anwesenden stehen alle wie unter dem Einflusse eines Märchens.


SCHEIK tief Atem holend.

Unglaublich fast!

IMĀM.

Erstaunlich!

BABEL.

Wunderbar!

SCHEIK zur Phantasie.

Wer bist du, Weib?

PHANTASIE.

Ich bin die Phantasie.[89]

SCHEIK.

Das hörte ich bereits. Wie ist dein Name?

PHANTASIE.

Abū Kitāl.

SCHEIK.

So heiße doch nur ich!

PHANTASIE.

Die Phantasie führt stets den Namen dessen,

Dem sie gehorcht. Drum heiße ich wie du.

SCHEIK.

So bist du mein? Bist meine Phantasie?

PHANTASIE.

Für heut will ich es sein, weil es sich fügt.

SCHEIK.

So höre mich, was ich von dir verlange – – –!

PHANTASIE.

Ich weiß es schon.

SCHEIK.

Von wem? Vom Hākawāti?

PHANTASIE.

Von mir. Denn, bin ich deine Phantasie,

So weiß ich Alles, ehe du es weißt.


Tritt zu dem Scheik der Todeskarawane, der noch immer neben Schēfakā steht.


Ich weiß, daß du den »König« reiten sollst.

Bist du bereit?

SCHEIK DER TODESKARAWANE beugt unwillkürlich ein Knie.

Wenn du befiehlst![90]

PHANTASIE.

Es sei!


Wendet sich von ihm ab, zum Scheik.


SCHEIK DER TODESKARAWANE zu Schēfakā, die sich von der Phantasie so ergriffen fühlt, daß sie fast kein Auge von ihr wendet.

Ich sah sie schon, doch wo, kann ich nicht sagen!

PHANTASIE zum Scheik.

Und ich, ich soll den Feind zum Zorne reizen,

Indem ich ihn durch seine Schatten kränke.

SCHEIK.

Ob du das können wirst?

PHANTASIE.

Erprobe es!

SCHEIK.

Sei nicht zu kühn! Ich fordre viel von dir!

Du mußt die Schatten dieser meiner Feinde

So täuschend und so überzeugend treffen,

Daß Keiner sagen kann, er sei es nicht.

Gib eine Probe – – – heut – – – mit unsern Schatten!


Deutet auf die am Boden liegenden Requisiten und dann hinaus, wo die Schattenspieler sind.


Die Kunst liegt hier, und draußen sind die Künstler!

PHANTASIE abwehrend.

Vor dieser Kunst bewahre mich, o Scheik!

Du sollst die meine sehen, keine andre.


Nach dem Zelte deutend.


Gib mir das Zelt, so kann ich gleich beginnen!

SCHĒFAKĀ antwortet an Stelle des Scheikes, schnell und freudig.

Wie gern, wie gern! Komm, schnell! Ich zeig es dir!


Sie gehen miteinander zum Zelte, an der Bibel vorüber, welche von ihrem Platze aufsteht und sich ihnen anschließt. Sie verschwinden in[91] der Frauenabteilung, deren Vorhang hinter ihnen niederfällt. Später treten die Phantasie und Schēfakā aus der Männerabteilung heraus. die Bibel bleibt in der Frauenabteilung zurück und wird erst

beim Schattenspiele wiedergesehen. Die Dämmerung beginnt hereinzubrechen.


SCHEIK zu den Andern.

Die hab ich mir ganz anders vorgestellt!

BABEL.

Ich auch!

IMĀM.

Ich auch!

KĀDI.

Ich auch!

HĀKAWĀTI.

Der Schwarze kommt![92]

Quelle:
Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten von Karl May. Freiburg i.Br. 1906, S. 88-93.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Babel und Bibel
Babel und Bibel: Arabische Fantasia in zwei Akten

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon