II.

Es war am Sonnabend früh. Die Anstaltsglocke gab das Zeichen, daß die Gefangenen sich vom Lager zu erheben hatten. Die Aufseher waren aus ihren in der Stadt gelegenen Privatwohnungen eingetroffen und traten in ihre Visitationen, welche während der Nacht von den Posten bewacht worden waren.

»Ist etwas vorgefallen?« fragte einer von ihnen den Soldaten, welcher ihn an der Thür zur Ablösung erwartete.

»Es war große Unruhe unter den Leuten, weil in der Nacht ein Schuß gefallen ist,« lautete die Antwort. »Nummer Hundertneunzig steht im Meldebuche; er ist in seiner Zelle auf und ab gegangen, obgleich ihm wiederholt geboten worden ist, sich niederzulegen.«

»War er krank?«

»Nein, sonst hätte er sich auf der Krankenstation gemeldet. – Wer macht die Anzeige? Sie, Herr Aufseher?«

»Nein, sie ist Sache Ihres diensthabenden Unterofficiers, der sie weiter giebt, bis sie um acht Uhr an die Direction kommt. Ich habe den Betreffenden nur zurück zu halten, damit er zur Verfügung steht, wenn er zum Verhöre verlangt wird. Er ist Außenarbeiter.«

Der Sprechende verabschiedete den Posten und ging dann die Zellenreihe hinab, bis er an eine Thür gelangte, über welcher ein Blechschild mit der Nummer Hundertneunzig hing. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete.

Als der Gefangene seinen Vorgesetzten erblickte, erhob er sich von dem Schemel, auf welchem er saß. Die häßliche Anstaltsmontur hatte nicht vermocht, seine vortheilhafte Gestalt zu verbergen; aber seine Wangen waren bleich und eingefallen, seine Schläfe eingesunken, und die Augen blickten trübe und verschleiert aus ihren Höhlen hervor.

»Hundertneunzig, Du bist angezeigt!«

»Ich? Warum, Herr Aufseher?«

»Weil Du während der Nacht nicht Ruhe gehalten hast! Was machst Du denn für Dummheiten? Du hast Dich doch bisher immer gut geführt!«

»Herr Aufseher, es wurde draußen im Graben geschossen, grad' unter meinem Fenster, und –«

»Das geht doch Dich nichts an! Du hast Dich Abends nieder zu legen und ruhig bis früh liegen zu bleiben, außer wenn Du Dich unwohl fühlst. Du darfst heute nicht mit zur Arbeit; denn punkt Neun mußt Du zum Herrn Direktor, um Deine Strafe zu bekommen!«

»Aber ich habe doch keinen Lärm verursacht! Es war mir unmöglich, zu schlafen; denn gleich nach dem Schusse hörte ich eine –«

»Schon gut; ich habe jetzt keine Zeit, auch geht mich die Sache gar nichts an! ›Wer nicht hört, der muß fühlen!‹ – das ist eine alte Regel und hier in der Anstalt noch mehr Gesetz, als draußen!«

Er verschloß die Thür und entfernte sich.

Der Sträfling sank auf seinen Schemel zurück, bog sich auf die Kniee hernieder und verbarg das Gesicht in die beiden Hände. Am Himmel stand die helle, goldene Morgensonne; er konnte sie nicht sehen; ihr Licht fiel nur matt durch das hoch angebrachte, schmale und vergitterte Fenster in den engen, traurigen Raum. Wer hat das Recht, dem Menschen ihren Strahl, ohne den er nicht leben kann, zu entziehen? Wer hat die fürchterliche Strafe erfunden, die ihn den Seinen entreißt einer That wegen, an der sie keinen Antheil haben? Wer wagt es, zu behaupten, daß der richterliche Schiedsspruch, welcher in die tiefsten Tiefen eines menschlichen Seins hinunterlangt, untrüglich sei? – Wie oft hatten diese Gedanken in seinem Hirne gewühlt, seinen Kerker zur unausstehlichen Hölle gemacht und jeder einzelnen der jammervoll hinschleichenden Stunden die Länge einer Ewigkeit gegeben! Er nahm die magere Morgensuppe in Empfang, ohne sie anzurühren, hörte nicht das entsetzliche Klirren der Riegel und Schlösser, diese fürchterliche Musik der »dunkeln Häuser«, und saß vollständig bewegungslos, bis ihn die Stimme des öffnenden Aufsehers aus seinem dumpfen Brüten weckte.

»Hundertneunzig, hier ist die Bürste! Schmier' die Schuhe und putz' Deine Jacke; es geht zum Herrn Director!«

Nachdem diese einfache Toilette vollendet war, wurde er in das Vorzimmer des Hochgebietenden transportirt, wo eine Menge Schicksalsgenossen von allen Visitationen versammelt waren, um ein jeder für irgend eine größere oder geringere Sünde gegen die[345] Hausordnung die Strafe dictirt zu erhalten. Sie wurden nach der Nummerfolge in Reih' und Glied gestellt und in derselben Ordnung expedirt. Als er aufgerufen und eingetreten war, fand er den Dirigenten in Unheil verkündender Stimmung. Das Verhalten seines Vordermannes trug die Schuld an ihr.

»Du bist Nummer Hundertneunzig?«

»Leider, Herr Director.«

»Leider! Was soll das heißen?«

»Das soll die Klag' bedeuten, daß ich mich in diesem Haus befind' und meinen ehrlichen Namen so ganz verloren hab', daß ich nur noch eine Ziffer bin!«

»Daran ist Niemand schuld, als Du allein! Wer seine Freiheit mißbraucht und seine Menschenwürde mit Füßen tritt, der wird eingesperrt und gilt als Strafvollzugsobject, das man zur besseren Uebersicht mit einer Zahl bezeichne. Hast Du das verstanden?«

»Ich bin nicht gelehrt genug, das zu begreifen, Herr Director; mein Kopf reicht nur so weit aus, zu wissen, daß ich unschuldig bin an Dem, was man mir thut. Ich habe –«

»Nichts hast Du, gar nichts, als zu schweigen! Ich möchte nur einmal wissen, wie viel Unschuldige ich hier im Hause habe! Hältst Du denn Deine Vorgesetzten wirklich für so albern, einer solchen Versicherung Glauben zu schenken? Wer sein Vergehen bekennt und bereut, erweckt Vertrauen und kann noch einmal ein ehrlicher Mensch werden. Wer aber fortgesetzt leugnet, bleibt verloren und verdient die strengste Behandlung. Sie soll Dir werden! Du bist angezeigt, dem Posten ungehorsam gewesen zu sein. Warum hast Du nicht geschlafen?«

»Es fiel ein Schuß –«

»Der Dich aufgeweckt hat, und weil es Euch immer zu wohl ist, bist Du trotzt des mehrmaligen Verbotes die ganze Nacht spaziren gegangen. Ich werde Dir acht Tage Kostentziehung notiren!«

»Ich werd' diese Strafe ruhig tragen, wie ich auch das Andere auf mich genommen hab'. Aber verdient ist sie nicht!«

»Was?!« brauste der Director auf. »Willst Du etwa behaupten, daß ich Dich ungerecht behandle? Dann werde ich aus der Acht eine Vierzehn machen!«

»So hab' ich's nicht gemeint! Ich denk' nur, wenn der Herr Direktor wüßt', warum ich nicht hab' ruhen können, so hätt' ich die Kostentziehung nicht bekommen, eben grad', weil ich ihn für gerecht und billig halt'! Als der Schuß gefallen ist, hat eine Kinderstimme gejammert und laut ›Vater!‹ gerufen. Das ist grad' wie der Ton von meinem Paul gewesen; es hat mich aufgeschreckt und in der Zell' herumgetrieben, als ob er todtgeschossen wär'. Ich weiß, er ist's nicht gewesen; denn wie sollt' er von daheim her in den Graben kommen? Aber ich hab' mir nicht helfen können und die Stimm' vor dem Ohr gehabt bis jetzt zu diesem Augenblick.«

»Paul heißt Dein Sohn?« Er nahm erst jetzt das vorliegende Actenheft zur Hand, um nach dem Namen der Nummer Hundertneunzig zu sehen. »Du heißt Fährmann und bist aus Oberdorf? So! Bestraft bist Du wohl noch nicht wegen eines Vergehens gegen die Hausordnung?«

»Nein, Herr Director. Ich will mir meine Lag' nicht selber schwerer machen!«

»Daran thust Du klug!« Seine Stimme hatte einen milderen, fast theilnehmenden Klang angenommen. »Und ebenso klug würde es sein, Dich nicht von einer Täuschung übermannen zu lassen. Ich will die Kostentziehung für diesmal wieder streichen; sieh' aber zu, daß Du nicht wieder angezeigt wirst, und geh' jetzt an Deine Arbeit!«

Er wurde abgeführt und durch eine Nebenpforte in den Graben gebracht, wo mehrere Genossen mit Arbeit an den Küchenpflanzen beschäftigt waren. Sie wurden von einem Militairpiquet bewacht, da die Zahl der Aufseher nicht zur Beaufsichtigung so kleiner Abtheilungen ausreichte.

Er trat mit ein und nahm die Hacke zur Hand. Aber bei allem Fleiße vermochte er nicht den Ruf loszuwerden, der ihm in die Ohren gellte, als sei der Schuß jetzt eben erst geschehen. Er befand sich wie im Fieber und hätte am liebsten fliehen und nach Hause gehen mögen, um sich zu überzeugen, daß seinem Kinde nichts geschehen sei.

Da wurde das Hauptthor geöffnet, und ein leichter Federwagen fuhr aus demselben hervor. Oben am Graben gingen Leute vorüber, die beim Anblicke des Wagens stehen blieben. Man konnte deutlich jedes Wort vernehmen, welches gesprochen wurde.

»Jetzt bringen sie das arme Kind,« meinte Einer. »Es muß den Vater drin in der Anstalt haben!«

»Konnte denn der Posten nicht merken, daß es nur ein Knabe war?«

»Es ist finster gewesen; da kann man nicht genau unterscheiden. Er hat natürlich keinen geringen Schreck gehabt, kann aber nichts dafür, da er schießen mußte. Die Kunde von dem Unglücke war schon am frühen Morgen in der ganzen Stadt herum.«

Fährmann horchte auf. Also hatte er sich doch nicht getäuscht: ein Knabe war's gewesen! Doch wem gehörte er?

Der Wagen schlug die Richtung nach der Straße ein, die nach Oberdorf führte. Es war Niemand zu sehen als der Kutscher und ein Aufseher, welcher auf dem Hintersitze Platz genommen hatte. Vor ihm lag ein Bett, und an der Seitenwand ragte der Lauf eines Gewehres empor. War es Wirklichkeit, oder täuschte ihn bloß seine aufgeregte Phantasie? Er glaubte, keine militairische Waffe, sondern die Flinte zu erkennen, welche er seinem Knaben geschenkt hatte. Es wurde ihm wirbelig vor den Augen, und er mußte das Piquet bitten, sich einen Augenblick niedersetzen zu dürfen.

Wie gern hätte er eine Frage ausgesprochen; doch es war bei Strafe verboten, über andere als Dienst- und Arbeitsangelegenheiten mit dem Soldaten zu reden. Diesem war der Gefangene nur ein Verbrecher, der die Strenge des Gesetzes zu empfinden hat; er fühlte sich daher nicht zur Theilnahme aufgelegt und forderte ihn baldigst auf, wieder an seine Arbeit zu gehen.

Als die Glocke das Zeichen zur Mittagsmahlzeit gab, wurde die Pforte geöffnet, und das Piquet lieferte die ihm Anvertrauten im Innern der Anstalt ab.

»Was hast Du für Strafe erhalten?« begrüßte der Aufseher seinen Gefangenen. Er erhielt die dienstliche Benachrichtigung gewöhnlich erst am Nachmittage zugeschickt.

»Keine.«

»Wirklich keine? Da hast Du von einem Glücke zu reden!«

»Ich sollte Kostentziehung bekommen; aber der Herr Director hat sie wieder gestrichen, weil ich bisher noch keine Straf' erhalten hab' und weil – Herr Aufseher, wer ist heut' Nacht geschossen worden?«

»Da fragst Du mich zu viel; ich kann Dir keine Antwort geben.«

»Nicht? Aber wenn ich Sie nun recht sehr dringlich bitt'?«

»Auch dann nicht!«

»Dürfen Sie bloß mir nicht antworten?«

»Nicht Dir allein, sondern jedem Gefangenen. Der Sicherheitsdienst ist ein verschwiegener, das mußt Du auch wissen, und darum wundere ich mich, daß Du überhaupt fragst.«

»So sagen Sie mir wenigstens, ob mich der Schuß wohl auch betroffen hat!«

»Dich? Wie kann er das? Er ist doch nicht auf Dich gerichtet worden. Geh' jetzt in Deine Zelle und iß, das wird Dir nöthig sein; Du siehst ganz armselig aus!«

»Essen? Ich kann nicht; ich hab' an eine andere Sach' zu denken!«

Als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, zog er den Strohsack herbei und warf sich auf das Lager, ohne den Napf, in welchem sich sein Mahl befand, nur anzusehen. Er war müde, so müde und zerschlagen, wie er sich in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt hatte, und doch zuckten seine Glieder unter einer Aufregung, die ihn wieder emporriß und in dem engen Raume umhertrieb.

»Herr Gott im Himmel, laß mich's doch erfahren, wer's gewesen ist! Todt ist er geschossen, denn wenn er verwundet wär', so könnten sie ihn nicht forttransportiren. Es war seine Stimm' und auch ganz genau die Kinderflint, die ich ihm damals gegeben hab'. Wer weiß wie's ihm daheim ergeht, und da ist er weggegangen, um mich aufzufinden; er hat mich ja im Graben[346] gesehen, als er an jenem Tag mit der Mutter vorüberging. Wenn er's gewesen ist, so weiß ich wahrhaftig nicht, was ich thu'. Hier halt' ich's dann nimmer aus; ich muß ihn sehen, ehe sie ihn begraben, und nehme die Flucht, wo mich keine Mauer hält, kein Gitter, kein Graben und kein Piquet.«

Als er in den Hof kam, wo sich die Genossen versammelten, um wieder an den Ort ihrer Beschäftigung geführt zu werden, erkundigte er sich bei ihnen, ob sie vielleicht etwas Genaues über das nächtliche Vorkommniß erfahren hätten. Die Frage mußte heimlich ausgesprochen werden; sie erhielt keine befriedigende Antwort, denn die Direction hatte sich befleißigt, die Kunde von dem Sachverhalte nicht unter die Detinirten dringen zu lassen.

Der Mann, welchem als Piquet die Beaufsichtigung der Arbeiter für den Nachmittag anvertraut war, nahm sie von dem Aufseher in Empfang, ließ sie zu Paaren antreten, öffnete die Pforte und commandirte:

»Marsch, vorwärts!«

Er selbst ging mit geladenem Gewehre hinter ihnen her und gebot, als sie zur Stelle waren, ein gebieterisches »Halt!«

Er hatte sie vorgezählt erhalten, mußte sie zu gleicher Zahl wieder abliefern und beobachtete darum die Bewegung eines jeden Einzelnen mit aufmerksamem Blicke. Am öftersten ruhte sein Auge auf Nummer Hundertneunzig, wobei seine Miene einen Ausdruck deutlicher Verachtung und Gehässigkeit zeigte. Dem gewöhnlichen Manne mangelt die Bildung, welche sich zu der humanen Anschauung erhebt, daß das Vergehen die äußere Folge einer inneren, moralischen Krankheit sei, an welcher der Verbrecher selbst zuweilen die geringere Schuld trägt, die ihn aber auch im schlimmsten Falle nicht aus der Reihe der menschlichen Wesen scheidet und eher Mitleid als Verachtung erwecken sollte.

Der Gefangene hatte, als er ihn vorhin erblickte, das Auge bestürzt zu Boden geschlagen, und seine bleichen Wangen waren unter dem Gefühle der Scham bis an die Schläfe roth geworden. Er vermied es geflissentlich, ihn anzusehen, und hielt den Kopf so tief wie möglich zur Erde gebeugt. Sein geschwächter Zustand erlaubte ihm nicht, mit den Anderen gleichen Schritt zu halten. Der Soldat mußte ihm den guten Willen, das Gleiche zu leisten, anmerken, freute sich aber der Gelegenheit, seine Autorität geltend machen zu können.

»Ist das eine Faulheit bei dem Fährmann!« raisonnirte er. »Mach' vorwärts und bleib' nicht so weit zurück, sonst schreib' ich Dich ins Anzeigebuch!«

Der Getadelte antwortete nicht, gab sich aber Mühe, einem zweiten Verweise zu entgehen.

Es gelang ihm nicht.

»Nun, soll ich Dich eintragen oder willst Du nun endlich einmal arbeiten?«

Jetzt hob der Angeredete den Kopf und sah den Sprecher mit einem Blicke an, in welchem Vorwurf und Bitte zugleich lag.

»Ich bin krank gewesen, Hilbertfranz, und hab' noch nicht die Kräfte wieder!«

»Was, Du nennst mich beim Namen? Ist Dir's nicht gesagt worden, daß Du mich nur ›Piquet‹ zu rufen hast? Das muß bestraft werden!«

Bei dieser Drohung wurde die Gestalt des Anderen um einige Zoll höher, und sein mattes Auge begann zu leuchten.

»Ich mach's grad' so wie Du! Du hast mich beim Namen gerufen und darfst nur die Nummer sagen. Zeig' mich doch an, wenn Du denkst, daß Du Recht behältst, aber zum Fürchten bringst mich wohl nicht sogleich!«

»Das wird immer besser! Wer so unverschämt ist, das Piquet ›Du‹ zu nennen, der wird arretirt. Ich werde das Signal geben, daß Du abgeholt wirst und in die Straflöcher kommst!«

»Mach' Dich nicht groß, Hilbertfranz! Wenn Du den Rock weg thust, den wir respectiren müssen, weil er vom König ist, so bleibt nichts übrig, als ein Schustergesell', der als der größte Lüdrian von Oberdorf bekannt ist. Und den soll ich ›Sie‹ nennen, wie's in der Hausordnung steht? Da mag der Herr Director uns doch einen Mann herstellen, den man ehren kann!«

»Gut, Du willst's nicht anders haben!«

Ohne den zu Beaufsichtigenden den Rücken zuzukehren, näherte er sich der Pforte, hinter welcher einer seiner Kameraden postirt war.

»Posten an der Pforte!«

»Hier!«

»Zwei Mann mit Unterofficier zur Arretur heraus!«

Während das Verlangen von Posten zu Posten weitergegeben wurde, um auf diese Weise in die Wachtstube zu gelangen, trat der Soldat wieder näher.

»Nun arbeite fort, bis sie kommen, sonst wird die Strafe doppelt!«

»Fällt mir jetzt gar nicht ein! Ich bin Corporal gewesen und kenn' den Dienst so gut und noch besser, als so ein Schusterbub', der noch in die Schul' gegangen ist, als ich längst die goldne Litz' am Kragen trug. Wirst wohl ganz nach Deinem Bruder, dem schönen Reiterkurt, gerathen!«

Das lange und widerstandslose Dulden hatte einen Grimm in ihm aufgehäuft, der jetzt zum vollen Ausbruche kam. Er sollte arretirt werden, und nun war es ihm gleich, ob die Strafe um Einiges größer wurde oder nicht.

Die Anderen freuten sich über seinen Muth, wagten aber nicht, ihre Theilnahme zu erkennen zu geben, sondern arbeiteten emsig weiter. Auch der Soldat hatte seinen Gleichmuth verloren.

»Schimpf' immer auf ihn, Du Cassenfälscher Du; er hat Dir doch die Frau hinweg genommen. Morgen ist Hochzeit, und ich bin auch geladen! Willst nicht mit hinaus?«

Fährmann trat einen Schritt zurück. Er hatte die Frau, die ihm schon nach kurzer Ehe untreu wurde, längst aufgegeben; er mußte sie hassen und war ihrem Verlangen nach Scheidung mit keinem Worte entgegengetreten. Und doch machte die Nachricht, die darauf berechnet war, ihn tief zu kränken, einen nicht geringen Eindruck auf ihn. Er dachte an sein Kind, welches von so einem zweiten Vater sicherlich nichts Gutes zu erwarten hatte.

»Den Reiterkurt nimmt sie? Da greift sie selber nach der besten Straf', die sie verdient! Doch aber mein Paul, mein armer, lieber Junge, wie wird's dem nun ergehen!«

»Brauchst um ihn keine Angst zu haben, denn ihm kann Keiner mehr 'was thun. Er ist heut' Nacht im Graben hier erschossen worden!«

Es war eine niederträchtige Lüge, welche der Mann hier aussprach. Er hatte Pflicht und Instruction vollständig vergessen und nur dem Privathasse Raum gegeben. Seine Absicht, den Gefangenen aufs Tiefste zu verletzen, brachte eine Wirkung hervor, die ihm selbst zum größten Schaden gereichte.

»Erschossen! Also doch?« rang es sich stockend zwischen den bebenden Lippen hervor. »O, Du mein lieber Gott, was hab' ich denn verbrochen, daß Du mich immer härter schlägst?«

Da ertönten aus dem Innern des Gefängnißhofes laute, tactmäßige Schritte über die Mauer herüber; der zur Arretur gerufene Unterofficier nahte mit seinen Leuten.

Der Schreck wich aus Fährmann's Gesicht; das Geräusch des klirrenden Schlüssels schien ihn elektrisch zu durchzucken; er war mit einem Schlage ein vollständig Anderer.

»Grüß' mir das Strafloch, Schusterbursch', wenn Du an meiner Stell' hineinkommst!« klang es mit plötzlicher Entschlossenheit. Ein rascher Griff, und er hatte dem Soldaten das Gewehr aus der Hand gerissen; im nächsten Augenblicke war er schon weit entfernt und sprang mit weiten Sätzen bereits die Böschung hinan, als die drei Leute durch die geöffnete Pforte traten.

»Ein Mann auf der Flucht!« rief ihnen das entwaffnete Piquet entgegen und zeigte mit der Hand nach dem Fliehenden.

Der Unterofficier überblickte schnell die Situation.

»Halt, – Gewehr an, – gebt Feuer!« commandirte er.

Er zog die eigene Waffe in die Höhe.

Drei Schüsse krachten; keiner traf.

»Posten an der Pforte!«

»Hier!«

»Ein Gefangener entflohen, – Mannschaft zur Verfolgung. Drei Mann zur Arretur des Piquets!«

Schon hatten seine beiden Begleiter ihm die hinderlichen Gewehre übergeben, um der flüchtigen Nummer Hundertneunzig nach zu springen; wenige Augenblicke später quoll aus der Pforte die sämmtliche reserve Wachtmannschaft, durcheilte auf einen gegebenen[347] Wink den queren Graben, kletterte, ohne den Umweg nach der Böschung zu machen, an der Mauer empor und schlug im schnellsten Laufe die Richtung nach Oberdorf ein, in welcher, schon weit entfernt, die Gestalt Fährmann's noch zu erkennen war.

Nun krachte auch der übliche Böllerschuß, um die Bewohner der Umgegend auf das Geschehene aufmerksam zu machen, und zu gleicher Zeit langten die drei Arrestaten an. Einer von ihnen wurde zur Ablösung des Piquetmannes verwendet; die anderen Beiden nahmen den Letzteren zwischen sich und verschwanden, von dem Unterofficier gefolgt, hinter der Pforte.

Das Kind hatte den Vater befreien wollen und trotz des nächtlichen Schusses seinen Zweck erreicht; der Ersehnte hatte seine Banden gesprengt und war dem jammernden Rufe gefolgt.[348]

Quelle:
Des Kindes Ruf. Eine Geschichte aus dem Erzgebirge von Karl May. In: Weltspiegel. 3. Jg. 1879. Heft 11–12. Dresden (1878). Nr. 22, S. 345-349.
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