Seit die Brüder Grimm vor vierzig Jahren in ihren Kinder- und Hausmärchen1 das unergründlich reiche Wesen des deutschen Volksmärchens uns wieder erschloßen und den schlichten, reinen Ton, in welchem diese epischen Nachklänge einer längst vergangenen Zeit erzählt sein wollen, in musterhafter Weise getroffen, seitdem hat sich die Liebe der Jungen und Alten von Jahr zu Jahr diesen Ueberlieferungen mehr zugewandt. Fast überall hat man nach solchen einfältigen Erzählungen gelauscht und eine nicht unbedeutende Zahl derselben dem Untergange entzogen. Indes bilden die eigentlichen Märchen immer nur eine verhältnismäßig kleine Beigabe zu den weit reicheren Sagensammlungen. Eine besondere Märchensammlung aus einer bestimmten Gegend Deutschlands besitzen wir außer der Grimm'schen Sammlung nicht; diese aber erstreckt sich, obgleich sie auch aus Süddeutschland einzelne Beiträge enthält, doch wesentlich auf Mittel-und Norddeutschland, speciell auf Heßen; und selbst die späteren Nachlesen deutscher Volksmärchen gehören fast ausschließlich den nord- und mitteldeutschen Gebieten an2. Nur im äußersten Norden, bei einem[3] nahverwandten Stamme, der einst mit uns denselben Götterhimmel theilte, ist eine besondere Sammlung erschienen, die, unmittelbar aus frischer Ueberlieferung geschöpft, sich der der Brüder Grimm würdig an die Seite stellt: ich meine die norwegischen Volksmärchen von Asbjörnsen und Moe, deutsch von Bresemann, 1847.
Der deutsche Süden dagegen, und namentlich der schwäbische Theil desselben, ist bis jetzt fast noch völlig unvertreten geblieben3. Und doch besitzt er an Sagen, Märchen und andern alten Ueberlieferungen so reiche und ungeahnte Schätze wie nur irgend ein anderer deutscher Landesstrich.
In Beziehung auf Märchen mag die vorliegende Sammlung davon Zeugnis geben. Ich habe dieselben, wie alle verwandten Volksüberlieferungen, mit wißenschaftlichem Interesse gesammelt, daher Treue und Wahrheit mein höchstes Ziel war4. Ich wollte nur wiedergeben, was ich hörte, und habe jeden verschönernden Zusatz, jeden ausfüllenden Zug selbst bei offenbaren Lücken, sorgfältig vermieden.
Was außerdem die Darstellung betrifft, so konnte ich einzelne Stücke, die ein Blinder in Bühl erzählte, bei einem ziemlich[4] langsamen und wiederholten Vortrage fast wörtlich nachschreiben. Alle übrigen Märchen sind wenigstens immer unmittelbar nach der mündlichen Mittheilung aufgezeichnet und zwar mit möglichster Beibehaltung des Ausdrucks und der eigenthümlichen, stehenden Wendungen.
Die ganze Ausdrucksweise, der das Volk bei diesen Erzählungen sich bedient, ist immer so gehalten, wie man etwa Kindern dieselben vortragen würde, und diesen Maaßstab muß meiner Meinung nach auch der schreibende Nacherzähler im Allgemeinen vor Augen haben. Dabei hält das Volk sich einfach an die Handlung und entwickelt rasch und schmucklos in echt epischer Weise nur diese, ohne Lob oder Tadel darüber auszusprechen, und noch weniger ergeht es sich in breiter, hochtrabender Ausmalung des Gefühls und des subjectiven Eindrucks, wie dieß z.B. noch in Bechsteins Märchenbuche nicht selten vorkommt. Da liest man in der bezauberten Prinzessin Sätze wie folgende, S. 29.:
»Nachdenklich und mit hochschlagendem Herzen schritt der ehrliche Meister über die vom Abenddämmer umsponnene Heimathflur seinem Dörflein zu. Schon sah er in Gedanken seinen ältesten Sohn, Hellmerich, den er ungleich mehr liebte als seinen andern, Hans, im Königsschloß, und die holde Prinzessin als seine hochverehrteste Schnur.«
Und so geht es fort. Würde ein mündlicher Erzähler in diesem überladenen Tone ein wirkliches Märchen vortragen, es müßte die Kinder im höchsten Grade langweilen und die Erwachsenen zum Lachen nöthigen; beim Lesen bleibt es vollends ohne Wirkung. Form und Inhalt widersprechen sich hier, indem die Einfachheit und Wahrheit, die Kindlichkeit und Unschuld einer echt epischen Erzählung unter solch falschem Schmucke zur Karikatur verzerrt wird und nothwendig verloren gehen muß. Es entsteht hierdurch eine widerwärtige Zwittergattung in der schönen Literatur, eine Gattung, die den Inhalt der Volks-oder Naturpoesie mit dem äußerlich abgeborgten Schmucke der Rhetorik und[5] Kunstpoesie behängt und auf die Art weder der Volksdichtung noch der Kunstdichtung ein Genüge thut. Zu dieser Gattung gehören sowohl die innerlich höchst leblosen, selbsterfundenen oder zusammengeleimten Märchen, als namentlich auch alle novellenartig zugestutzten und modern ausgesponnenen Volkssagen. Daß übrigens selbstständige Dichtungen, wie z.B. Fouque's Undine und Chamisso's Peter Schlemihl nicht zu dieser Zwittergattung gehören, versteht sich von selbst; denn in diesen Stücken haben Form und Inhalt, Körper und Geist zu vollkommener Befriedigung sich durchdrungen und vermählt.
Was die epischen Stoffe betrifft, welche diesen schwäbischen Märchen zur Grundlage dienen, so gehören sie bekanntlich einem großen Theile nach der mythischen Götter- und Heldensage an und müßen ein uraltes Gemeingut aller deutschen Stämme gewesen sein. Deshalb finden sich auch hier die altheidnischen Elemente und selbst die stehenden Charaktere der Grimm'schen Märchen in ähnlicher Weise wieder, aber vielfach eigenthümlich und mit neuen, überraschenden Zügen. Auf's mannigfaltigste und immer neu ist z.B. das bekannte Thema behandelt, wie ein Jüngling, gewöhnlich der jüngste und anscheinend dümmste von drei Brüdern, eine Jungfrau, die entweder dem Teufel verfallen ist, oder theils von einem Drachen, theils von drei Riesen in Verwahrung gehalten wird, befreit, dann sie heirathet und mit ihr unermeßliche Schätze gewinnt. So z.B. Nr. 1, der Schäfer und die drei Riesen; Nr. 5, der kranke König und seine drei Söhne; Nr. 29, Hans und die Königstochter; Nr. 58, der Drachentödter u.s.w. Siegfried (der nordische Sigurd), der göttliche Held voll unbewußter Hoheit, der die Kriemhild vom Drachen erlöst, blickt hier überall deutlich durch. Umgekehrt werden auch Männer durch kühne Jungfrauen aus der Gewalt böser Mächte befreit. Die Schwester zieht aus, um die zu Raben verwünschten Brüder zu suchen und zu erlösen und besteht glücklich alle Gefahren; oder es gelingt ihr, einen Schatz zu gewinnen, den die Brüder nicht hatten heben können, und deshalb[6] einer feindlichen, dämonischen Gewalt verfallen waren, aus der sie nun durch die Schwester befreit werden; vgl. Nr. 72. Verwandt ist damit die Erlösung durch Liebe überhaupt, wie in Nr. 57.
Im Einzelnen finden sich hier die echt mythischen Erzählungen vom Glasberge (dem glänzenden Götterberge), Nr. 49, 73; vom Kraut des Lebens, oder von Früchten, die dem kranken König allein helfen können, Nr. 5; von Jungfrauen, die ein Schwanenkleid haben und damit fortfliegen (Schwanen-Jungfrauen), Nr. 7; von Wunschdingen, z.B. von dem Fläschlein, das jeden Wunsch gewährt, Nr. 22, und besonders eigenthümlich in dem Märchen von einem Hahn mit Goldfedern, Nr. 75. Auch die Sagen von dem Sack, von dem Ranzen, in den man Alles hineinwünschen kann, gehören hieher; vgl. Nr. 78. Mythisch ist ferner der weißagende Vogel in Nr. 72; die goldene Ente, an der Alles hängen bleibt, Nr. 17; der Stab, vor dem die Höllenthür sich aufthut, Nr. 16; das Schiff, das zu Waßer und zu Lande geht, Nr. 31, und anderes, was schon die Brüder Grimm in den Anmerkungen zu ihrer Sammlung genauer nachgewiesen haben.
Außer viel Bekanntem und Verwandtem wird man in der vorliegenden Sammlung auch Einiges finden, das völlig neu ist. Dahin gehört unter andern das merkwürdige Stück Nr. 6, Donner, Blitz und Wetter, worin altmythische Erinnerungen, namentlich an Donar, klar vorliegen. Ferner die schönen Märchen Nr. 25, der Sohn des Kohlenbrenners, und Nr. 42, der Sohn des Kaufmanns, die meines Wißens sonst nicht vorkommen5. Wo sich ähnliche Märchen bei Grimm finden, habe ich dieß angegeben und gelegentlich auch einige andre Sammlungen berücksichtigt.[7]
Sehr merkwürdig sind die Berührungen mit Erzählungen in 1001 Nacht, auf die bereits Grimm bei 7 Märchen hingewiesen. – Seit den Kreuzzügen war der Verkehr mit den Arabern sehr lebhaft und so könnte durch mündliche Ueberlieferung (namentlich auch durch die spanischen Araber,) manches morgenländische Märchen uns zugeführt worden sein, wie ja auch die Erzählung von den sieben weisen Meistern und Einzelnes in andern Volksbüchern, z.B. im Herzog Ernst, nachweisbar dem Orient angehört. Andrerseits aber enthält jene arabische Märchensammlung, die als Schriftwerk erst spät unter uns bekannt geworden ist, nicht wenige Züge, die offenbar germanischen Ursprungs sind. Dahin möchte ich unter andern die Erwähnung von Schwanenjungfrauen rechnen. Einzelne weitere Berührungen mögen sich daraus erklären, daß der eigentlich mythische Haupttheil dieser Märchen den mit uns stammverwandten Indern angehört.
Eine besondere Eigenheit der schwäbischen Märchen ist es, daß einige noch, ganz wie die mehr geschichtlichen Sagen, sich an bestimmte Oertlichkeiten knüpfen. So z.B. Nr. 16, das Märchen vom Räuber Matthes; Nr. 22, Fläschlein, thu deine Pflicht; Nr. 59, der langnasige Riese und der Schloßergesell; Nr. 61, das Nebelmännle; Nr. 74, der Knabe, der zehn Jahre lang in der Hölle gedient, u.a.m. Ich habe deshalb einige Stücke der Art, z.B. die Befreiung der Jungfrau von einem Drachen, die sich an das Dorf und ehemalige Schloß Drackenstein knüpft, der Sagensammlung zugetheilt.
Mögen Kinder und Unverbildete an diesen anspruchlosen Märchen, die einen reichen Schatz echter Poesie enthalten, sich nicht minder erfreuen, als ich selbst beim Suchen und Sammeln derselben mich stets erfreut und erfrischt habe.
Tübingen, im Winter 1852.
Dr. Ernst Maier.
1 1. Bd. 1812. 2. Bd. 1814.
2 So z.B. Kuhns märkische Sagen und Märchen, 1843 (16 Märchen enthaltend), und desselben Verf. Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche, 1848 (mit 19 Märchen). Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder aus den Herzogthümern Schleswig-Holstein und Lauenburg, 1845 (mit 38 Märchen). E. Sommers Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen, 1846 (mit 11 Märchen). Wolfs deutsche Sagen, 1845 (mit 40 Märchen). – Auch in Bechsteins deutschem Märchenbuche beschränken sich die neuen Stücke auf Thüringen. Darunter kommt aber manches entschieden Unechte und Selbsterfundene vor, wie ich hier nur beiläufig bemerken will. So ist z.B. die Rosenkönigin, S. 35, wohl erst durch die bezauberte Rose von Ernst Schulze veranlaßt worden. Ebenso ist das Märchen S. 39, wie der Teufel den Branntewein erfunden, ein modern-didaktisches und gewiß nicht volksthümliches Stück.
3 Diese Worte, die ich schon im Jahr 1850 geschrieben, passen jetzt nicht ganz mehr, indem wir kürzlich durch J. W. Wolf eine treffliche Sammlung von 51 Märchen, hauptsächlich aus dem Odenwalde, erhalten haben. Allein von Schwaben, dem eigentlichen Herzen Süddeutschlands, gelten sie noch heute.
4 Vgl. meine deutschen Kinderreime und Kinderspiele aus Schwaben. Tüb. 1851; ferner: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, die demnächst in 2 Bänden zu Stuttgart erscheinen werden. Auch eine Sammlung schwäbischer Volkslieder habe ich vorbereitet.
5 Dieß letzte Märchen findet sich jetzt auch in der Wolf'schen Sammlung aus dem Odenwalde: des Todten Dank, S. 243. Auch sonst enthält sie manches Verwandte, das aber in der schwäbischen Ueberlieferung, wie z.B. der goldene Hirsch, S. 73, bei mir Nr. 54: der lustige Ferdinand, einfacher geblieben ist.
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