Elftes Kapitel
Sammlung

[487] »Wer frei von hinnen geht,

Der ist's in Ewigkeit.«

Rückert.
[487]

Die goldenen Oktobertage waren vorüber. Der November war da, und dicht lagen die milchweißen Nebel vor den Fenstern und machten sie undurchsichtig. Für kurze Minuten nur hob und verteilte sich diese brauende Nebelmasse. Und wenn Olga jetzt an Italien dachte, so wuchs ihr die Sehnsucht danach, die Sehnsucht und der Mut. Jetzt band sie hier nichts mehr, – jetzt war sie frei. Wohl war diese Freiheit noch nicht jene fröhliche, jene warme, die neue Gestaltung ruft. Es war eine Freiheit, die sich manchmal wie Eis um das Herz legte, – niemandem gehörig, von niemand gefesselt und durch keinerlei menschliche Bande mit einem bestimmten Orte verknüpft, – so mochte sie gehen oder bleiben, – so war sie frei. Das war freilich noch nicht jene Freiheit, – von der er gesprochen. Mit wehmütiger Inbrunst barg sie das Bild, dessen Glanz auf ihr Leben gefallen war, tief in ihrem Herzen. Sie verschloß es da so fest, wie jene uralte, bronzene Urne verschlossen war. Leuchtend und unnahbar baute sie in ihrem Herzen, weiß und steinern, ein Grabmal um diesen teuren Überrest ihres Glückes, und ihr rotes Blut rauschte darüber, – wie das Laub einer einsamen Buche ...

Wenn sie jetzt an Rom dachte, so war es nicht mehr mit den Worten aus dem Tasso: »Schmerz, Verwirrung, Trübsinn harrt in Rom auf dich.« So hatte sie nur denken können, solange es hier Stunden gegeben, auf denen das Licht ihrer Liebe lag. Jetzt?[488] Wo konnte sie einsamer sein, wo konnte die Trübsal sie schneller erreichen als hier? Sie dachte jetzt mit anderen Worten Goethes: »Trübe der Himmel und schwer auf meine Scheitel sich senkte, – farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag ...« Und eine unüberwindliche Sehnsucht nach dem »Glanz des helleren Äthers« wurde immer stärker in ihr.

Stanislaus riet dringend zur Reise. Er ahnte, was sie hier gelitten, und er wußte, daß ihre empfängliche Seele jetzt Sonne und wieder Sonne brauchte, um aufzuleben; und da es nicht die Sonne eines glücklichen Schicksals sein konnte, so mochte es der Glanz der südlichen Landschaft sein, von dem er für sie Erweckung zu neuem, starkem Lebenskampf erwartete. Sie sollte sich um die Führung ihrer Korrespondenz keine Sorgen machen, Lore war gut informiert, würde ihr die wichtigsten Einläufe nachsenden und den Vertrieb geschickt besorgen. Sie sollte nicht zögern und reisen, nicht für wenige Wochen, nein, dem ganzen, deutschen Winter sollte sie entfliehen und erst im Frühling oder im Sommer, mit neuen Kräften, wiederkehren. Olga meinte, es sei nur selbstverständlich, daß Lore unter solchen Verhältnissen Mitbesitzerin der Korrespondenz würde. Stanislaus schob jede endgültige Regelung dieser Frage hinaus; nach ihrer Rückkehr würde sich das finden.

Der Plan der Reise gewann immer festere Gestalt. Wenn Olga zu ihren Wegen nach der Stadt meist nur[489] die Mittagsstunden benutzen konnte, nach Hause kam, mit kalten, nassen Füßen und bald nach dem Mittagessen die Lampe anzünden mußte, da schoben sich ihr zauberhafte Szenerien, wie Luftspiegelungen, vor die Seele. Da war das Meer, das sie nie gesehen, – tiefblau funkelnd, mit zart bewegten Hügeln, aus deren geborstenem Kamm es weißlich schäumte, – mit Dampfern und Seglern auf dem Rücken und Vogelscharen über sich, deren geschlossenen Flug sie wie eine dunkle, sich bewegende Linie zu sehen glaubte. Sie sah eine Küste, mit hellen, flachgedeckten Häusern, frohlockend im Sonnenlicht. Die schlanken Kegel der Zypressen und die raumheischenden Kronen der Pinien, die nachbarliche Verschlingung nicht dulden, hoben sich vom Horizont. Sie sah Oliven und Reben flinkfüßig über wellige Hänge klettern und über allem, zitternd und schwingend, das weiße, durchsichtige Licht des Südens.

Und dabei saß sie in einer Berliner Vorortsstube bei der Lampe oder eilte, in Nässe und Kälte, mit schweren Kleidern, durch die Straßen. Und sie blickte auf einen kleinen Sonnenfleck, der manchmal längere Zeit auf dem Boden der Loggia blieb, und ihre Phantasie weitete ihn und spannte ihn über das Firmament. Die Sonne, die Sonne – das war jetzt für sie das gelobte Land. War es Manfreds Tod, oder waren es die Worte aus Werners Brief, die ihre Seele gereinigt hatten von jenem »dunklen Zwang«, die sie hochgehoben[490] hatten über das wühlende Leid, welches vordem ihren Lebenswillen zu begraben drohte? Über dem Leid, das sie jetzt empfand, lag ein Hauch von Frieden, – Wehmut war gekommen und hatte Erbitterung, Auflehnung und den finsteren Gram verdrängt. Nur für Stunden kam noch diese Bitterkeit über sie, die einem Schicksal galt, das sich durch keinen Besitz gefestigt fühlte. Sie ging nun diesen Winter nach Italien, – wie sie im vorigen nach Schlesien gereist war. Ob ihr Weg sie in Schnee und Winter oder zum Lichte des Südens führte, – wen ging es an, wer fragte danach! Verlassen damals, vereinsamt heute und niemand gehörig, heute wie damals. Aber mit wiederkehrender Kraft schwang sie sich mutig über solche Stimmungen, die sie verdüsterten. Sie bemühte sich, die Wohnung zu vermieten, und nach kurzer Zeit gelang es ihr. Nun hieß es, die Möbel in Aufbewahrung geben. Ein Teil kam zu Stanislaus und Lore, der Rest, für den dort kein Platz war, zum Spediteur. Es war eine lästige Arbeit für sie, all ihre Habe vom kleinsten bis zum größten Gegenstand, durch ihre Finger gehen zu lassen und bei jedem Stück zu überlegen: wohin damit, – was brauche ich davon, was kann ich entbehren, wohin lege ich dies und wohin jenes, damit ich es auch seinerzeit wiederfinde. Ihre überflüssige Garderobe verpackte sie in Koffer, und als sie nach einiger Zeit merkte, daß sie doch noch manches Stück daraus brauchte, da lagerten die Koffer[491] schon im Keller des Spediteurs, und sie mußte hinuntersteigen und allein in dem weiten, dunklen Keller in ihren Koffern nach den gewünschten Sachen suchen; und weil ihre Seele noch wund und empfindlich war, so prägten sich solche Szenen der Düsterheit, die Zeugnis ablegten von zerrissenem Besitz, von Mühsal und Einsamkeit, schmerzlich in sie ein.

Aber trotz aller Bedenken und Beschwerden sollte die Reise angetreten werden, – denn sie schien »erlaubt« – in dem Sinne, wie Eva das Wort verstand; ja sie erschien geboten.

Sollte sie über Genua, Mailand oder Verona fahren, die Strecke über den Simplon, den Gotthardt oder den Brenner wählen? Fuhr sie über den Gotthardt, so war sie den italienischen Seen nicht fern. Sollte sie Werner aufsuchen? Auch diese Frage tauchte auf, aber sie verneinte sie schnell. Der mußte noch lange sich selbst allein überlassen bleiben, und ihr Erscheinen wäre ein heftiger Eingriff in den geschlossenen Zustand seines jetzigen Daseins gewesen. Wäre Edda noch in Genua gewesen oder selbst an der azurischen Küste, so würde sie den Weg über Genua gewählt haben, um sie hier zu treffen. Aber Edda lebte in Paris, wo Mr. Macpherson sie im Frühling abzuholen pflegte, um dann bis zum Herbst mit ihr im Car durch Europa zu reisen. In seine Heimat war sie ihm nicht gefolgt, denn es hätte weder seinen noch ihren Wünschen entsprochen, in Heimlichkeit neben der[492] gesellschaftlichen Sphäre, in der er zuhause war, sich zu verbergen ... So traf sie ihn nur, wenn er in Europa war und lebte in der übrigen Zeit in Paris, im Rahmen der Gesellschaft, die der Witwe des berühmten Gelehrten Tür und Tor geöffnet hatte. Ihre sehr diskret gepflegten Beziehungen zu dem amerikanischen Millionär, von denen man munkelte, begegneten hier gefälliger Nachsicht und vollem Begreifen. Man fand sie »belle à miracle«, und das vornehme, kleine Hotel, das sie mit ihrer Dienerschaft bewohnte, wurde von den Angehörigen der besten Kreise, in die sie die Familien hervorragender Ärzte eingeführt hatten, gern besucht. So war auch dieses Leben – nach zwei Seiten hin, – befriedigend geordnet ...

Eva wohnte nun nicht mehr in der Nähe des Grunewalds, sondern war mit ihrem Töchterchen ganz ins Haus von Frau Wallentin übersiedelt, deren letztes Sehnen an der Heimkehr ihres Sohnes Florian und dem werdenden Leben hing, das Eva unter dem Herzen trug.

Als Olga abreiste, war ihr Zustand schon weit vorgeschritten und das Bildnis der hoffenden Frau, die auf dem Bahnsteig stand und so lange mit dem Tuche winkte, als der Zug zu sehen war, war das letzte, das Olga aus jener Stadt, die ihr fast eine Heimat geworden, mitnahm.
[493]

Noch in München, wo scharfe Herbststürme wehten und der Regen täglich ein paarmal den Menschen auf die Köpfe fiel, wollte die Schwermut nicht von ihr weichen. Aber als sie sich am ersten Morgen in Florenz die Augen rieb, – das Licht in klarer Stärke durch die Fenster hereinbrach, und über dem lauten, bunten Straßenleben die Sonne so festlich glänzte, als hätte sie sich zu ihrem besonderen Willkomm gerüstet, da fiel mit einem Schlage alles, was ihr Wesen bedrückt und niedergeschwert hatte, von ihr ab. Die Reaktion ihrer Natur auf die Atmosphäre des Südens, auf dieses Klima, diese Luft, dieses Licht, diese starken Farben und scharf umrissenen Formen, war eine vehemente.

Stufenweise begann sie sich in den großen Kunstepochen, deren Monumente Florenz umschloß, zurechtzufinden. Sie begann mit Giotto, stieg weiter hinauf zu den Entzückungen des Fra Angelico, schwang sich in die reineren Höhen des Ghirlandajo; von Bruneleschi kam sie zu Michelozzo, und von da erst näherte sie sich zagend den Höhen Michelangelos. Hier, in Florenz, sah sie zum erstenmal die Entwürfe zur Sixtinischen Kapelle, und ihr Herz klopfte höher, wenn sie an Rom dachte. Aber mehr noch als die Schätze der Museen und die Wucht der Paläste gab ihr die Umgebung. Dieser Kranz von Bergen, dicht mit kleinen Dörfern und Villen besäet, überragt vom alten Fiesole, von Obst, Oliven und Reben beladen,[494] die jetzt in herbstlicher Glut standen, von Zypressen und Pinien gekrönt, – dieser Kranz, der sich da um die Stadt herumschloß, übertraf all ihr Erwarten. Als sie hoch oben in Fiesole, auf dem uralten Platze stand, auf dem das Etruskische Museum steht, vor sich die große Treppe sah, über welche gerade ein Kapuzinermönch hinunterging, als sie diese weite Hügellandschaft in deren Mulden Florenz liegt, überblickte, da schien sie sich selbst wie von einem Alpdruck erlöst. Sie war den ganzen Nachmittag in den etruskischen und römischen Ruinen und in dem kleinen antiken Museum da oben herumgestiegen, und der Sinn, der sie befähigte, diese alten Schätze zu betrachten, war ihr ein durchaus neuer. Niemals hatte sie gedacht, daß man einen versteckten Sinn für Archäologie urplötzlich in sich entdecken könnte. Vielleicht war es nur ein hohes körperliches Wohlbefinden, das sie befähigte, ihre Augen auf den Dingen ruhen zu lassen und liebevoll ihren Formen nachzugehen. Manchmal war ihr, als sähe sie das helle Antlitz Manfreds, welches sie mahnte: betrachte – betrachte liebevoll die Erscheinung ... Wenn sie nun an ihn dachte – wie er gelebt und wie er gestorben, – dann war es ihr, als ob auch über diesem jähen Verschwinden eine geheimnisvolle Logik des Schicksals läge ... Denn von dem bestehenden Heute zum kommenden Morgen, zu seiner Zeit, war – so schien es ihr – ein zu weiter Weg, um ohne Stufen genommen zu werden. Zwischen[495] der Gegenwart und zwischen dem neuen Tag, den er sah, mußten Übergänge liegen, damit sein Werk zu reiner Wirkung gelange.

Und seine Erscheinung war aufgeleuchtet und verschwunden, wie die Fata Morgana eines möglichen Zieles, zu dem der Weg noch weit war ...


Sie hatte das Weihnachtsfest in Rom verlebt. Die Regenzeit verbrachte sie mit der Besichtigung der Sammlungen, der Raffaelischen Loggien und Stanzen und – immer wieder – der Sixtinischen Kapelle. Träumend stand sie vor der Weisheit der Sibyllen, oder betrachtete, mit dem Spiegel über dem Kopf, die Anmut Evas, die Gottvater, mit gnädiger Erlöserhand, aus der Rippe des schlafenden Adam herauswinkt. Und Adam selbst, – wie liegt er leblos auf der Böschung der runden Welt, ein armer Koloß, bevor ihn nicht der ausgestreckte Finger des heranschwebenden Herrn berührt und er, noch verfangen im Schlafe des Unbewußten, langsam zur Welt erwacht.

Einmal, als sie hier stand und wanderte, wurde gerade ein Trupp Engländer hereingeführt. Noch bevor das Pfefferminzplätzchen, das sie zur Erfrischung genommen hatte, auf ihrer Zunge zerschmolz, gingen sie, mit dem Urteil »a nice place« und unter Mitnahme einiger Steinchen aus dem »Müsaik«, die sie von dem Fußboden, der gerade restauriert wurde,[496] emsig auflasen, wieder dem Ausgang zu ... Zu längerem Aufenthalt hatte sie sich in einer Pension eingemietet. Wäre sie nicht ganz allein hier gewesen, so hätte nichts sie vermocht, sich täglich mehrmals mit dieser fremden Schar zu Tisch zu setzen. Hier in dieser göttlichen Stadt – hier hätte man mit einem Gefährten wandern müssen ... Wie hätte man dann in den kleinen Trattorien, draußen vor den Toren, festlich speisen können! Ein Greuel waren ihr diese von maskenhaftem Lächeln begleiteten Gespräche, die an der Table d'hôte geführt wurden und allesamt zu dem einen Zweck verschworen schienen: nichts zu sagen. Ihre Nachbarin bei Tisch, eine ältere Tochter Albions, fragte, als sie hörte, sie sei Österreicherin, nach der Affäre Vecsera ... »oh – she was a girl without principles«... Nach und nach erschien sich diese Intellektuelle geistig wie ein Fisch auf trockenem Sande und sehnte sich manchmal nicht wenig, nur eine Stunde mit einem Menschen so reden zu können, wie sie es gewohnt war; hier in der Ferne erst, erhielt die deutsche Metropole, die Hochburg geistigen Ringens, für sie die rechte Perspektive.

Freilich, – im Sonnenglanz auf dem Forum umherzuwandern und da mit dem »neu entdeckten Sinn« das alte Rom im Geist aufzubauen, das war freilich auch ein ganz besonderes Glück. Sie durchquerte die weiten Stätten mit den erhabenen[497] Trümmern. Von hoch oben – durch den Titusbogen – waren die Sieger eingefahren. Stehend lenkten sie das Gespann über die alte, heilige Straße. Das Haus der Vestalinnen, klosterhaft abgeschlossen, ragt noch als große, runde Backsteinruine. Die Marmorblöcke weiter oben – Trümmer des Augustustempels. Links haftet das Auge an den acht Säulen des Saturntempels, alle ähnlich verfallen, als hätten sie am selben Tage zu bersten begonnen. Von ihren plumpen, jonischen Kapitalen flüchtet der Blick auf das edle, korinthische Gebälke der drei verschwisterten Säulen, die vom Tempel des Kastor und Pollux geblieben sind. Mächtige Tuffquadern liegen unter einem Bretterdach geborgen, wie Blöcke, mit denen Riesen gespielt, – Reste des Altares des Vulkanus; und im Comitium der alten, republikanischen Gerichtshalle sind noch die Bogenfenster, zugemauert, erhalten. Noch leuchtet auch der köstliche Marmorboden der Basilica Aemilia.. Schmale Durchgänge und Pfade führen durch alle diese Trümmer immer wieder zur Via Sacra ...

Hier ging sie Stunden und Stunden. Sie lehnte sich an die Rostra, die Rednerbühne, welche Cäsar errichten wollte und die Augustus ausgeführt. Hier stand sie, nahm mit den Augen das im Lichte strahlende Bild, diesen ungeheuren Platz voll von Ruinen, zwischen denen sich ihr immer geübterer Blick immer besser zurechtfand. Nicht selten dachte sie dann auch an das, was sie zu sagen hatte, später sagen würde, –[498] zuhause. Und an die Brüstung der Rostra gelehnt, formte die Rednerin der jungen Zeit manchmal halblaut ihre Gedanken, – über die mögliche Freiheit des weiblichen Schicksals. – – –

Sie war erfreut, als sie endlich einen längeren Brief von Stanislaus erhielt. Bisher hatten sich seine Nachrichten auf kurze Mitteilungen beschränkt. Das Erscheinen seines Buches über die Stiefvaterfamilie und der neuen, von Manfred gegründeten Zeitschrift, deren Chefredakteur er war, hatten ihn voll in Anspruch genommen. Der freundliche Hafen, in den sein Schicksal eingelaufen war, bot aber wohl eine gute Stätte für ihn, denn schon bereitete er wieder ein neues Werk vor.

Er berichtete, daß sein erstes Buch über die Probleme der Moderne bald in neuer Auflage erscheinen sollte, und daß er eben dabei war, diese Neuauflage zu bearbeiten. »Es muß eine verbesserte Ausgabe werden«, schrieb er; denn wo er in der ersten Bearbeitung angegriffen hatte, mußte er erklären und ergänzen. Man hatte sein Buch als eine Absage an die Moderne aufgefaßt. Dieser Meinung mußte er entgegentreten. Klarer als früher erkannte er die tiefsten Werte jener neuen Epoche. Hinter der angeblichen Ziellosigkeit, die panikartig heute diese Streiter durcheinandertrieb, erkannte er doch ein starkes Zielwandern, eine unaufhaltsame Bewegung, die den Weg zur Höhe suchte. »Wo wäre eine Epoche,« so schrieb[499] er, – »in der eine ganze, große Schicht so sehr gegen sich selbst rang, wie unsere Schicht – in unserer Gegenwart. Diese Halbnaturen«, so schrieb er, »sind heute so zahlreich, weil in einer Generation Erfüllung nicht möglich ist. Aber Bewegung ist da, die vorwärts schiebt, verdrängt und ausliest. Und wenn man genau hinsieht und hinhorcht, so merkt man ordentlich, wie es in den Gelenken dieses großen Lebewesens – welches eine Generation einer bestimmten Kulturschichte respräsentiert – kracht, wie es sich dehnt, wie es wächst ... Es bleibt noch das schwerste Bedenken: daß die Intellektualität auf Kosten der Instinktkraft steigt. Das wäre freilich schlimm. Denn kein Homunkulus, und sei er noch so kunstvoll gegliedert, ersetzt die Weisheit von Fleisch und Blut. Aber ich – glaube – kann ich nur sagen, denn zum Wissen dieses Dinges ist noch weit, – ich glaube und ahne, daß auch dies nur ein Übergangsstadium, eine aufhaltende Biegung des Weges ist, und daß der vollkommene Intellekt überhaupt nur durch das Medium hochentwickelter Instinktkraft wird. Darum Züchtung und Förderung dieser Kraft, – – doch hier beginnt ein neues Lied – Manfreds große Lehre.« – – – Dann sprach er von seinem neuen Buche. Diesmal waren es Gestalten, die ihm vorschwebten und ihre lebendigen Schicksale von ihm verlangten. »Als Träger der Handlung sehe ich Einen aus der jungen Generation hochassimilierter,[500] weltbürgerlich freier Juden. Ich sehe ihn als eminenten Vertreter intellektuellen Ringens. Sein Herz birgt noch die alte Inbrunst vom Sinai – seine Seele liebt vielleicht die Gesänge, zu denen an den Wassern des Euphrat die Harfen tönten, – von Tränen betaut, – aber seine Vernunft klettert kühn auf die Gipfel westlicher Kultur, bis zu Darwin, Nietzsche und Kant.«

So schrieb er, glühend von Plänen. Und dieser Ausdruck geistigen Ringens – er war einzig auch ihre Sprache und lockte ihre Sehnsucht, wieder dort zu stehen, wo der berauschende Kampf mit den eigenen Kräften ihrer wartete. Dort war die Sphäre, in der sie wurzelte, – nur dort. Die Skrupel, die die geistig Arbeitenden fast nie verlassen, wenn sie auf dem Wege sind, auszuruhen, zu genießen, meldeten sich; aber sie war klug genug, um zu wissen, daß ihre Energie, die über ihre Kraft von den Vorgängen der letzten Zeit beladen gewesen, erst noch schlafen mußte, ruhig liegen, wachsen, sich im Schlafe erneuern und vor allem – reifen, ohne aktives Tun, wie die Frucht am Baum reift, während sie sich der Sonne überläßt. Auch sie mußte sich noch hier der Sonne des Südens überlassen, bevor sie, eine stärkere, heimwärtszog.


Es ging schon zum Frühling zu, als sie wirklich das blaue Meer sah. Auf der Felseninsel öffneten sich[501] schon die Knospen der Kakteen und Agaven, die aus dem Gestein wuchsen, Limonen- und Orangenbäume standen im neuen Grün und rüsteten für die Blüte; die Pinien hatten zarte, helle Spitzen. Hier auf Capri wollte sie noch längere Zeit bleiben.

Am liebsten stieg sie vom hochgelegenen Ort hinunter, kletterte gewandt über den Rücken der Berge, bis ganz dicht ans Meer heran.

Und hier sah sie eines mittags, während sie sich sonnte, einen jungen Mann, dessen Gesicht eine Ähnlichkeit mit irgend jemand hatte, den sie kannte, ohne daß sie sich besinnen konnte, wer es war. Dieses ovale, gebräunte Gesicht, mit dem schwarzen Spitzbart und den sanften, mandelförmigen, dunklen Augen, erinnerte sie an – – – Sie suchte in ihrem Gedächtnis. Und plötzlich wußte sie es: an die alte Frau Ullmann, die auf Krücken ging, und die sie im Bunde getroffen. Der junge Mann ging; aber wenige Tage später traf sie ihn wieder, – an der Seite einer zierlichen, kleinen Frau, mit runden, geröteten Wangen und einem Paar Augen, die ordentlich wild funkelten, ohne den friedlichen Ausdruck, den das Gesicht sonst trug, zu gefährden. Wenige Tage später erhielt sie ein Kärtchen: »Gnädiges Fräulein! Ich habe erfahren, daß Sie hier sind. Verzeihen Sie uns, meiner Frau und mir, die Kühnheit der Annäherung. Aber wir kennen seit langem Ihren Namen und würden es zu schätzen wissen, Sie begrüßen zu dürfen. Bruno Ullmann.«[502]

Zwischen Olga und diesem jungen Paar entspann sich nun ein reger Verkehr. Das also war der einzige Sohn Frau Ullmanns, von dem jene ihr erzählt hatte. Bald erfuhr sie die Geschichte dieses Paares und wurde Zeugin ihrer Lebensweise. Sie hatten lange in einem Dorf in den Apeninnen gelebt, – aus dem einfachen Grunde, weil sie nur ein Einkommen besaßen, von dem anderwärts kaum ein Mensch, wenn auch auf die bescheidenste Art, leben konnte. Erst in letzter Zeit hatte die Mutter ihr Vermögen besser angelegt und konnte dem Sohn eine größere Rente gewähren. Nun lebten sie auf Capri, unten an der Marina piccola, in einem Häuschen, dicht am Meer. Sie hatten da eine winzige Wohnung gemietet und mit dem allernotwendigsten Hausrat ausgestattet. Seltsam erschien es Olga, daß dieser junge Mann sich von der Heimat fernhielt, ohne den Versuch zu machen, einen Erwerb zu finden. Aber als sie das Paar längere Zeit beobachtet hatte, wußte sie, daß er zu jenen gehörte, an welche normale Forderungen zu stellen anormal wäre. Stundenlang lag Bruno am Balkon im Streckstuhl, oder er lagerte zwischen den Klippen. Langweile kannte er nicht. Seine Seele war friedlich. Ab und zu schrieb er ein Gedicht nieder, mit dem er keinerlei Absichten hatte, wie sie Schriftsteller sonst zu haben pflegen. Und dann war er ein Freund der Vögel. Sie hatten einige Käfige, voll dieser bunten Sänger, die Bruno zum Teil vor[503] den Capresen gerettet hatte; wenn im Netz, das die Insel umspannte, die Wachteln schluchzten, oder gar die Höheren aus dem geflügelten Reich, Lerche und Nachtigall, ihre klagenden Stimmen hören ließen, so war er eifrig dabei, sie zu befreien, sie für einige Tage in sein Vogelhaus zu bringen und sie dann auffliegen zu lassen, wie weiland Lionardo da Vinci ...

Seine Frau Susanne war vor allem Hausfrau. Sie räumte, kochte und schaffte den ganzen Tag. In der kleinen Wohnung herrschte eine Ordnung, die in Wahrheit das gewöhnliche Beiwort »peinlich« verdiente. Wenn sich ein Gegenstand im Gebrauch auch nur im mindesten verschob, gleich mußte er wieder in die einmalfestgesetzte Lage gebracht werden. Diese peinliche Hausfrau hatte Schicksale hinter sich, die nichts weniger als geeignet schienen, sie zu dem zu machen, was sie war. Als Kind schon wurde sie in die Tiefe gestoßen. Aus ursprünglich wohlhabend bürgerlicher Familie, war sie durch den Tod der Eltern früh verwaist. Eine Tante in Amerika hatte sie zu sich genommen. Dort, wo die Kinderarbeit erlaubt ist, hatten die kleinen Finger der kaum Zwölfjährigen in einer Zündhölzerfabrik ihr Brot verdient. Aber das kleine Geschöpf dachte nicht daran, sich hier zufrieden zu geben. Sie hatte Talent für Gesang und Tanz und arbeitete sich aus der Fabrik zum Variété hinauf. Hier hatte sie einmal eine mimische Szene, in der eine so starke dramatische Begabung sich ausdrückte,[504] daß ein einflußreicher Theatermann, der zugegen war, sie von da fortnahm und sie für die Bühne ausbilden ließ. Susanne war ein überwacher Intellekt, ein ungebärdiges, unbeeinflußbares Temperament und zum übrigen von einer Art Exaktheitswahn beschwert. Mit all diesen Eigenschaften zusammen vermochte sie sich am Theater nicht zu halten. In schweren Zeiten, da sie ohne Brot war, geriet sie auf dunkle Wege, -schließlich in die Hände eines Mädchenhändlers, der sie in ein Haus nach Tunis brachte. Von hier entfloh sie, auf einem europäischen Schiff, dessen Kapitän sie sich zu Füßen geworfen hatte. Bruno hatte sie in Berlin kennen gelernt. Dort war sie im Geschäft eines Tapazierers und Dekorateurs untergekommen. Mit augenblicklichem Entschluß hatte er in ihr seine Herrin und darum seine Gefährtin erkannt und gefunden. Und wirklich war diese Ehe eine selten glückliche. Es fehlte ihr nur eines, um vielleicht ganz eine Ehe zu heißen, – die Reibung der Persönlichkeiten aneinander, die die beste Schule des Lebens ist, für die – die sie bestehen. Diese beiden Leutchen tolerierten gegenseitig alle ihre Sonderlingsgewohnheiten. Susanne hatte niemals, auch in der tiefsten Tiefe, in die sie das Schicksal gestoßen, ihre kompromißlose Herrschsucht eingebüßt, die sich mit vollkommener Güte in ihr einte. Sie hatte auch nie ihre exakte Hausfrauennatur verleugnen können. Nie die Umständlichkeit, mit welcher sie von kleinen[505] Dingen sich große Wege versperren ließ. Hier, als unbedingte Herrscherin eines Mannes, dessen Leben sie, mit seinen Neigungen rechnend, leitete, als absolute Regentin einer winzigen Häuslichkeit, war sie an ihrem Platz. Zwischen all den vielen kleinen Obliegenheiten, mit denen sie ihr Leben belud, verfolgte sie zeitweilig auch Pläne größerer Art; so war sie jetzt entschlossen, den Haushalt auf Capri bald aufzugeben und nach Berlin zurückzukehren. Hier wollte sie sich in der Kunstfertigkeit der Dekorateurin weiter bilden und mit der ihr eigenen Geschicklichkeit im Arrangieren von Stoffmassen Brot für sich und Bruno schaffen.

Da waren sie wieder, denen Olga entflohen zu sein glaubte, – jene, die innerhalb der Zone der bürgerlichen Welt doch ihre eigenen Wege liefen, – manchmal krumme und absonderliche Wege, – die nicht mitten durchs Leben durch, sondern neben dem Leben lagen ... Und doch – sie waren ihr verwandter als andere, und sie hatte sie auf ihrer Wanderschaft schon ehrlich entbehrt.

Die Ostertage waren vorbei. Olga genoß noch, im April, die phantastische Pracht der Rosenblüte, die in riesigen, leuchtenden Büschen stand. Duftströme überfluteten Campanien. Über den Mauern der Gärten, zwischen denen sich die engen, krummen Gäßchen durchwinden, reckten und rankten sich Wein und Lorbeer, Kaktus und Myrte. Der Himmel hing hoch,[506] und war nächtlich besternt, daß er erschien, wie ein schimmerndes Riesennetz, auf dunklem Grunde.

Da kam ein Brief von Frau Wallentin. Ob sie denn nicht bald wiederkäme? Und Eva habe einen Sohn geboren, ein schönes, starkes Kind; und beide wären wohl.

Und da war auch in ihr, in Olga, etwas, das geboren werden wollte, – aber nicht in diesem Blütenlande; eine andere Wiege brauchte das. Jener Gedanke, den Manfred in sie versenkt hatte, – war langsam, keimend, in ihr gewachsen, – und wollte zutage treten.

So entsagte sie dem südlichen Frühling, der ihre Seele in Träumereien hielt und rüstete zur Heimkehr.


Wie Bangigkeit kam es über sie, als sie in München wieder auf deutscher Erde stand. War sie auch stark genug, – zurückzukehren? Ihr war, als brauchte sie noch einige Tage einsamer Sammlung.

Sie fuhr über Thüringen und unterbrach hier ihre Reise. Sie wanderte von der Bahnstation, auf der sie ausgestiegen war, bis zu dem Städtchen, in dem sie nächtigen wollte; über ein weites Hügelland, mit flachen Mulden, Schonungen, Wiesen und Wäldern, wanderte sie; Gold und Sonne, in frischer Waldluft war alles. Die Zweige der Birken schienen in der feuchten Luft rötlich-violett und hoben sich von dem herben Grün der Tannen. Zeitweilig schwieg[507] der Tannenduft, und der der Kräuter wurde stark. So wanderte sie einen halben Tag.

Sie begegnete einer Schule, einer Kinderschar, die von ihren Lehrern hinausgeführt wurde. Und die Kinder sangen das erwartende Lied:


»Lasset uns singen,

Lasset uns springen,

Frühling – Frühling – wird es nun bald!«


Am Abend in ihrem Zimmer trat sie ans offene Fenster. Mild und duftschwer strömte ihr die Luft entgegen. Sie blickte hinaus in die Tannen, die das Haus im Halbkreis umgaben. Am Nachmittag waren die Stämme und die Kronen in eins geschlossen gewesen. Abends aber waren die Stämme wie verschwunden und nur die Wipfel rotgolden überstrahlt, daß alle Zweige sich gesondert in die Stille streckten. Jetzt, in der Nacht, erschienen die Tannen, die das Haus in entferntem Bogen umgaben, wie ein dunkler, hoher Wall, aus dem sich nur der Zackenrand ihrer Spitzen heraushob. Vom Fenster aus blickte sie auf eine kleine Wiese, die von den Tannen umgeben war. Links drüben war eine Fahrstraße, auf deren anderer Seite ein weiter Bergrücken anstieg, ein sanfter Hang, über den das Städtchen hinaufkroch; da lehnten sie dicht aneinander, die spitzgiebeligen Thüringer Häuschen, kletterten aus ihrer Mulde heraus, beengt, als suchten sie sich übereinander herauszudrängen, bis sie, in immer schmäleren Reihen, immer vereinzelter, an[508] dem Berghang den Atem verloren und stillehielten; über ihnen aber stieg, wie eine hochgewölbte Riesenbrust, die Wiese auf, die sich auf der Höhe in den Tannen verlor.

...Und während sie so am Fenster lehnte, hinaushorchend in den nächtlichen Wald, eins mit ihrer Einsamkeit, da kam es wie Wehmut über sie, – Wehmut aus dem weiten All. War denn Leid das ewige Erbe der Welt? Und ihre innerste Stimme wurde laut und rief ihr die Antwort zu: Die Freude ist die Seele der Welt. Dieses Leid überwinden, überwachsen, – das ist die Aufgabe der ringenden Kreatur. Wann wird sie gelöst sein, diese Aufgabe?...

Horch, – das war Gesang. Das scholl aus der Weite gedämpft, verschleiert, kam näher und näher, wurde lauter und heller. Und da – drüben auf der Fahrstraße, – da schob sich ein Trupp kleiner Leutchen durch die Dunkelheit und an den Stöckchen, die die Kinder hoch hielten, hingen bunte Papierlampions. Die Kinder waren es, die Schulkinder, die nach Hause zurückkehrten. Und sie sangen das Lied, – das Lied der Jugend, – der wachsenden Zukunft ... »Frühling – Frühling – wird es nun bald ...«


Wie war sie froh, ihr Inkognito los zu sein, nicht mehr, wie unter fremdem Namen, als Pensionsgast[509] an langen Tischen zu sitzen, leere Gespräche höflich anhören und die eigenen Gedanken verbergen zu müssen. Als sie Berlin wieder betrat, – da staunte sie: das war ja etwas wie Heimatsgefühl, das sie hier empfand. Nie vorher hatte sie gedacht, daß es irgend wo ein »Zuhause« für sie gab. Sie wohnte zuerst bei Stanislaus und Lore. Erst später wollte sie wieder eine eigene Wohnung nehmen, ihre sieben Sachen zusammensuchen und wieder aufstellen. Sie fand Stanislaus in gefesteter Stimmung, in zärtlicher und heiterer Vereinigung mit seiner Frau und, – wie er sagte, – »dick befreundet« mit Lörchen. Lore hatte wie früher ihr gutes, kräftiges Lachen. Der Glanz ihrer grauen Augen war noch heller geworden, wie ihr ganzes, brünettes Gesicht. Sie war üppiger und frauenhaft ruhig. Sie ging, wie vorher, ihrem Beruf nach, und die Sorge für das Familieneinkommen verteilte sich auf sie beide. Zufrieden waren diese beiden, daß sie zusammensaßen, fest verbunden und verbündet, daß sie sich verständigten in gemeinsamer Sprache, und daß sie in diesen lieben, heimischen Winkel alles hineintragen konnten, was sich von außen zu ihnen drängte, was sie empfingen und sammelten wie die Fischer, die ihre Netze ins Meer werfen.

Und dann gab es ein Wiedersehen draußen im Grunewald. Mit großer Sehnsucht strebte Olga ihrer alten und ihrer jungen Freundin zu.

Sie war noch immer schön und licht, die alte Frau,[510] nur in ihren Augen lag gebannt ein Leid, – dem sie nicht vergönnte, überzuströmen, – denn Florian sollte heimkehren!... Sie dachte jetzt viel an das Dunkle ... Olga fand sie bei der Lektüre eines theosophischen Werkes.

»Es ist gut gemeint«, sagte die alte Frau und deutete auf das Buch, – »es ist wunderbar erfunden: das Leben eine Sparkasse, deren Einlage man bei der – Wiederkehr als Kapital vorfindet und behebt ... Ausgestattet mit dem früher erreichten Entwicklungsgrad, tritt man ein neues Leben an ... Die Vergangenheit, die man im Verlaufe seiner früheren Lebensläufe erwarb, – entscheidet über die Qualifikation der Materie, die gegenwärtig der Träger des Ich ist ... Sehr gut gemeint, – sehr wunderbar ausgedacht! Wer nur daran glauben könnte! Schade, schade ... ich kann es nicht.«

So war nicht einmal ihre heiße und bange Liebe zum Leben imstande, diese greise Denkerin zu dem Selbstbetrug zu verführen, dem sich so mancher junge Geist als einer genehmen Benebelung wollüstig ergibt.

Und da war noch eine Begrüßung. Im Hause Frau Wallentins wohnte Eva mit ihrer Tochter – und mit ihrem jüngst geborenen Sohn. Ein schönes Kind, das aus blauen Augen lachte ...

»Der kleine Aeneas«, schoß es Olga durch den Sinn, als sie Manfreds Sohn sah. Eva hob das Kind aus der[511] Wiege und reichte es ihr. Und da – da – als sie den kleinen Manfred in den Armen hielt – da überstürzte sie eine heiße Freude, die sie nie für möglich gehalten: die Freude, daß dieses Kind geboren war. Sie dachte an die einsame Urne im weißen Stein, und Inbrunst kam in ihr Herz, daß dieses warme Leben gerettet war, aus dem Dunkel. Geborgen war es, das kostbare Erbe. Sie preßte ihre Lippen auf die kühlen, zarten Wangen des Kindes, die sich anfühlten, wie das Fleisch einer jungen Frucht. Zärtlich atmete sie den warmen Duft ein, der diesem kleinen Körper entströmte.

Und nun wußte sie auch, daß sie selbst genesen war, daß sie frei war, – endlich frei.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die Intellektuellen. Berlin 1911, S. 487-512.
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Die Intellektuellen
Die Intellektuellen; Roman

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Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

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Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

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