[156] Ich habe einmal auf einer Münchener Speisekarte die Bezeichnung für ein Gericht gefunden, die mir den Zustand, mit dem wir uns jetzt zu beschäftigen haben, mit besonderer Prägnanz zu bezeichnen scheint. Dieses Gericht nannte sich »Herz am Rost«. Es gibt in der Tat keine Art von Leid, weder physisches noch seelisches, das mit dem Leid, das aus der Liebe, aus der unglücklichen Liebe erwächst, mit der Not durch Liebe, verglichen werden kann. Es ist die vollkommene Einbuße der inneren Freiheit, die über das also geschlagene Menschenkind verhängt ist. Es ist der Tod im Leben, der es umkrallt, es ist »die ungeheure Zone der Finsternis, des Schweigens und des Eises«, wie Maeterlinck den Zustand der tiefsten Verödung genannt hat. Und in Kälte,[156] Nacht und Grauen glüht und zuckt und lebt nur eines: das Herz. Es ist das deutlich gefühlte Zentrum aller Qual, das richtige »Herz am Rost«. Und es ist begreiflich, daß man die Macht, die den Menschen so weit bringen kann, immer und zu allen Zeiten gefürchtet hat, so sehr man nach ihr glühte. Aber so wie es immer Naturen gegeben hat, die der »Gefahr« ausweichen, so gibt es andere, die, gerade weil die Liebe die Gefahr bedeutet, unwiderstehlich und unentrinnbar zu ihr gezogen werden.
»Ich hoffe, daß dein Blut ohne Fieber, daß deine Einbildungskraft ohne Visionen ist.« So sagte die Frau in Mathilde Seraos Roman »Nach der Verzeihung« zu dem Mann, als sie mit der Liebe »fertig sind«. Denn das ist es, was die Qual vertieft, was das Herz auf den Rost legt: die Visionen der Einbildungskraft. Und erst Vergessenheit gibt Frieden. Nicht umsonst hat die Sprache für den Begriff »verwinden, verzeihen« – »vergessen« als Homonym gesetzt. Erst der, der sagen kann: »Ich habe vergessen«, hat auch vergeben und verwunden.
Das natürliche Liebesleid wird aber vermehrt durch eine schier unnatürliche Not, die der Liebe, wie sie in unserer Zivilisation erlebt wird, eignet. Bei dem wilden Stamm der Minnetarie ist der folgende Gebrauch üblich, wenn zum Beispiel der Liebhaber nicht geneigt ist, die Wahl eines Mädchens (denn dort wählt die Frau) anzunehmen, »weil er vielleicht anderweitig schon gebunden ist«. Es wird uns berichtet, daß er in diesem Fall »seine Hand sanft in ihren Busen steckt, worauf das Mädchen zum Tanz zurückkehrt«. Wie ein tiefes Symbol erscheint mir dieser Vorgang, ein Symbol, recht geeignet, die Roheit, mit der sich innerhalb unserer Zivilisation die gefährlichen Vorgänge der Wahl und Ablehnung abspielen, ins Licht treten zu lassen. Aber diese Roheit kommt aus der Unfähigkeit, die Tiefe des Vorganges zu erfassen,[157] und diese Unfähigkeit ist das Zeichen, das Stigma, unter dem wir stehen. »Gibt es heutzutage noch eine Gestalt in der Dichtung oder im Leben, deren Existenz in der Liebe wurzelt?« So fragt Faustina in dem Wassermannschen »Dialog von der Liebe«27. Und weiter: »Die Rahel hat es einmal als besondere Genialität Goethes gepriesen, daß er im ›Wilhelm Meister‹ die drei Frauen, die lieben können, Marie, Aurelie, Mignon, sterben läßt. Denn, sagt sie, es ist noch keine Anstalt für solche da.« In der Geschichte der Zivilisation hat es wohl Epochen gegeben, wo der Reichtum des Liebeslebens dicht zusammengedrängt schien. Die Renaissance war eine solche Epoche. Dann das achtzehnte Jahrhundert mit seiner Fähigkeit und seiner Neigung, den zartesten Vorgängen der Liebe nachzuspüren. Die Tagebücher, Memoiren und Briefwechsel aus dieser Zeit zeigen uns erst, in welcher Öde und Dürre wir leben. Die Gabe zur Liebe ist heute verhängnisvoll, besonders für die Frauen, »denn es ist noch keine Anstalt für solche da«. War die »grande amoureuse« in früheren Zeiten eine Frau, die die höchste Genialität des Weibes, die der Liebe, besaß, so ist die »grande amoureuse« von heute viel eher passiver Natur. Nicht selbst zu lieben, muß sie imstande sein, sondern geliebt zu werden, und je weniger sie befähigt ist, sich hinzugeben, sei es aus angeborener Anästhesie, sei es aus artistischem Raffinement, desto mehr wird sie Begier erregen, desto geliebter wird sie sein. Dieser Vorgang, den man immer wieder beobachten kann, ist aber ein deutliches Merkmal der Entartung. Wenn der Frau die Fähigkeit zu lieben, sich hinzugeben, abgezüchtet wird (durch die Auslese der weniger liebenden, der passiven Frauen), dann wird das einzige Gebiet, auf dem das Weib Genie entfalten kann, verschüttet. Nur diese Genialität des Herzens ist mit dem männlichen Genie des Geistes, wie[158] es seine höchsten Höhen in einzelnen Typen erreichte, zu vergleichen. Auf diesem »Gebiete« kann die Frau Genie sein, ja selbst alles, was sie etwa in Kunst und Forschung zu leisten vermag, strömt aus diesem Genie des Herzens, von da kommen alle Ahnungen, von da sprießen Instinkte und Witterungen, fein verästelt, so daß sie ein einziger großer Magnet ist, der alle Geheimnisse des Kosmos schier unwiderstehlich an sich zieht. Die liebesgeniale Frau ist auch die alle Weisheit ahnende Frau, sie ist die Priesterin, sie ist die, der Offenbarungen werden. Wird sie »ausgejätet«, wie in unserer Epoche täglich zu beobachten ist, wo die Liebeskraft nicht ertragen wird, dann ist ein Vorgang der Herabminderung der Art im Gange. Armseligkeit an Liebesvermögen und Mangel an wahrer, unbegrenzter Freiheit des Geistes gehen denn heute auch meist Hand in Hand. Wie selten ist ein erotisch reizvoller Mensch zu finden, ein Mensch von ausgeglichener Sinnlichkeit und Geistigkeit. Wir sehen vielmehr Menschen, die entweder allzu roh oder allzu stumpf sind, entweder von tierischer Begierlichkeit oder von eunuchenhafter »Neutralität«. Für das Dämonium des Eros ist kein Nerv da, man ist unfähig, erotische Strömungen auf dem Grunde eines geistigen Kontaktes zu verspüren und zu erhalten. »Jamais je n'ai pas été aimé comme j'aime«, klagt Frau von Staël. Solche Frauen, die selbst lieben und liebend geboren sind, werden kaum jemals jemandes »Schicksal«, es müßte denn sein, daß sie dem Ebenbürtigen begegneten, dem gleich Liebesstarken, der das ganze volle Maß der Liebe eines Frauenherzens zu empfangen verträgt, ohne selbst zu versagen. Nur ein Beispiel eines solchen Verhältnisses, wo die Menschen sich nicht um einander krümmen und winden in Wellenlinien, die sich niemals ganz zu berühren vermögen, wo von beiden Seiten restloses Geben und restloses Nehmen gleichzeitig und ohne Ende vorhanden[159] war, ist uns bekannt. Es ist das Verhältnis des Dichterpaares Elisabeth Barrett-Browning und Robert Browning. »Ich habe die Erinnerung, das Wesen, die Idee von dir so fest in mein Herz und Hirn gepreßt«, schreibt Browning an Elisabeth. Das ist es und gerade das! Und gerade das kann der Mann von heute zumeist nicht – er ist der Vergessende. »Ein steinern Bild ... bekränzt« zumeist die Liebe, »mit der Musik der Rede bloß« trifft ihn das Weben und Raunen der Zärtlichkeit, auf flüchtiger Platte bewahrt er zwar ein Bild, dessen Licht die Platte traf, aber nicht eingerissen ist das Bild, die Idee dieses Bildes – losgelöst von Zufälligkeiten, die es scheinbar entstellen, ihm aber unwesenhaft, weil seiner Idee nicht eingeboren, sind – in sein Hirn und Herz. Er vermag zu hören, zu sehen, zu beurteilen und auch zu lieben. Schauen aber muß man einen Menschen, nicht nur ihn sehen, ihn hören, ihn beurteilen nach seinen Taten und Nicht-Taten, nein, ihn ahnen, fühlen und schauen. Wie ein Magnet, der ins Leere wirkt, so steht heute so manche volle Weiblichkeit da. Bei aller Anziehungskraft, die dem Magneten eignet, wirkt er ja doch nur auf – Eisen. Auf Staub und Moder wirkt er nicht, nur auf Eisen. – »Eisen und Lieder«, das waren einst, in den Zeiten des Rittertums, die Requisiten des Mannes.
Aber die Fähigkeit zur Liebe ist nicht eine Frage des Willens, zumindest nicht des Willens, losgelöst von seinen somatischen Voraussetzungen. Wenn heute so viel Wirrnis, Jammer und Unzucht aus der Liebe entsteht, so ist es – weil diese somatischen Voraussetzungen fehlen. Die Gefühlsimpotenz der Heutigen, die mangelnde Fähigkeit, auf Reize zu reagieren, die »Liebesverdrossenheit«, es sind die Resultate einer verdorbenen, in ihrer Energienkraft geschwächten Materie, geschwächter Nervenresistenz, eines zermürbten seelischen Gewebes, eines unterbundenen Ausleseprozesses. Minderwertige Erbmassen[160] schaffen die Disposition, die Geschlechtsmoral des Mannes mit ihrer Freiheit zu jeder Ausschweifung tut das ihrige, und der über alle normalen Dimensionen gespannte Daseinskampf macht dann das Übel akut. Die Liebesunfähigkeit und -unlust des modernen Mannes hat ihr Korrelat in seiner mißleiteten Arbeitswut. Er findet einen Zustand erträglich, ja für seine Gewissensruhe einzig möglich, der ihm keine »Zeit« läßt, Mensch zu sein. Und gerade dadurch verrät er sein Epigonentum, denn die Helden haben dazu immer »Zeit« gehabt. Aber von den heutigen Männern hat, wie es eine moderne Schriftstellerin28 genannt hat, fast jeder seine »Kanone«. Die Kanone, das ist seine zur fixen Idee gewordene soziale Aufgabe. Alles dreht sich um seine Kanone, er muß sie putzen und laden, und wenn es gilt, ihr Futter zu verschaffen, sich selbst vor ihre Mündung zu legen. Die Kanone will bedient sein. So hoch der soziale Schaffensdrang des Mannes anzuschlagen ist, so lächerlich wird der Anblick des ganzen Getriebes, wenn man sieht, daß er anders gewertet wird, denn als ein Mittel zum Zweck, zum Zweck immer vollkommenerer Menschlichkeit. Und daß zur vollkommenen Menschlichkeit auch der liebreiche Kontakt der Geschlechter gehört, bedarf wohl keines Zweifels. Aspasia, bekränzt, im schillernden Saal, die Leier im Arm, in einer Tischgesellschaft edler Männer – welch ein Bild! Heute würde sie vergeblich warten, denn mit dem gemeinen Manne setzt sich Aspasia nicht zu Tisch, und der edlere hat keine »Zeit«, mit Aspasia zu Abend zu speisen. Aber auch aus einem anderen Grunde wäre Aspasia heute vereinsamt. Eine Aspasia wird niemals das »Schicksal« irgendeines Mannes. Sie kann nur seine Erquickung und Freude sein (wenn er von guten Eltern ist), sein Glück und seine Liebe. Sie kann, bevor sie diesem Einzigen begegnet, in den sie[161] mündet, Erquickung und Erholung für andere sein. Aber sie verkörpert keinen besonderen »Fetisch«, komplementiert nicht den psychopathischen Partialbetrieb des heutigen Mannes, durch den ihm das betreffende Weib, das diesen Partialtrieb befriedigt, zum »Schicksal« wird, denn sie ist eine synthetische, eine vollständige und eine zärtlich-üppige, keine »passive« amoureuse, die, selbst anästhetisch, sich nur lieben läßt. Darum sind heute keine Lebensbedingungen da für eine Aspasia. Sie wäre heute unfehlbar »ein Magnet, der ins Leere wirkt«. Der Mann von heute will ein mystisch magisches Schicksal am Weibe erleben, andernfalls vermag er nur zur Dirne eine Beziehung zu finden. Mit Aspasia wüßte er »nichts anzufangen«, sie wäre für ihn nichts als ein »Unfall«, dessen Natur ihn doppelt martern würde, weil er nicht wüßte, wie und wo ihn kategorisieren.
Die Unfähigkeit zur Liebe, zum frohen Zugreifen dort, wo Jugend, Schönheit, Güte die volle Schale des Glücks bieten, die Abhängigkeiten von allen möglichen »Fetischen« (und nicht nur physischen29), die vorhanden sein müssen, ehe es zum Genusse kommt – diese höchst besondere Zeiterscheinung ist pathologischer Natur; sie hat in einer Krankheit, die Professor Freud in Wien Sexualneurose nennt (auch Psychoneurose oder sexuelle Zwangsneurose), ihren Grund. Darum ist auch die normale sexuelle Betätigung kein Heilmittel, solange nicht die Vorstellung, welche den Genuß daran hindert, beseitigt ist. »Die sexuelle Bedürftigkeit und Entbehrung, das ist nur der eine Faktor, der beim Mechanismus der Neurose ins Spiel tritt; bestünde er allein, so würde nicht Krankheit, sondern Ausschweifung die Folge sein. Der andere ebenso unerläßliche Faktor, an den man allzu[162] bereitwillig zu denken vergißt, ist die Sexualabneigung der Neurotiker, ihre Unfähigkeit zum Lieben, jener psychische Zug, den ich »Verdrängung« genannt habe. Erst aus dem Konflikt zwischen beiden Bestrebungen geht die neurotische Erkrankung hervor, und darum kann der Rat der sexuellen Betätigung bei den Psychoneurosen eigentlich nur selten als guter Rat bezeichnet werden«30. An anderer Stelle nennt Freud diesen Zustand »den Konflikt zwischen Libido und Sexualverdrängung« und »die psychische Unzulänglichkeit zur Bewältigung der somatischen Sexualspannung«; das ist es, ganz genau das, genau dieses Bild, dieses Krankheitsbild, wie wir jetzt wissen, welchem man heutigen Tages so oft begegnen kann. »Die somatische Sexualspannung« bis zur Gier ist da, gleichzeitig aber die psychische Unzulänglichkeit zu ihrer Bewältigung. Und man kann in dieser Riesengruppe dieser psychisch unvermögenden Männer eigentlich nur zwei Untergruppen erkennen: solche, die mit dem Stigma dieses Unvermögens geboren sind (und daher nimmermehr geheilt, das ist in ihrer Sprache »entsühnt« werden können) und solche, die es in der steeple chase des Daseinskampfes erworben haben. Besonders tragisch ist das Schicksal dieser ersten, der mit dem Stigma Geborenen, mit der »Sünde« gezeichneten – denn »schuldig« Geborene können nimmermehr entsühnt werden. Die anderen sind die, die durch günstige Lebensverhältnisse geheilt werden können, und Genesung heißt hier: Herstellung der Genußfähigkeit. Aus dieser Disposition, sei sie ererbt oder erworben, erklärt sich auch die heutigen Tages so typische und charakteristische »Furcht« vor dem Weibe. Aus der Erregung durch das Weib wächst ja der Konflikt, der das Wesen dieser Krankheit ist. Der Sexualtrieb wird durch[163] das Weib erregt, aber die Vorstellung seiner Befriedigung ist mit Unlust und Abneigung gepaart. Meist wählt sich diese Furcht, diese Abneigung die Gestalt der Gewissensangst. Sünde, Reue, Scham sind für den also Behafteten die Begleiter des erotischen Verhältnisses. Und diese pathologische Disposition sucht sich beinahe immer auch ihr philosophisches Kleid, gewöhnlich im Anschluß an einen Zweig der Mystik, des Buddhismus, der christlich orphischen Lehre, der Neoromantik oder einer sonstigen Entsagungsphilosophie, die im Kampf mit der »Erbsünde« liegt.
Ein anderes Merkmal ist, nach Freud, auch die übertriebene »Gewissenhaftigkeit« sexueller Zwangsneurotiker. Sie gehen immer mit der ethischen Keule des Weges daher, immer als »Richter« ihrer selbst und anderer. »Sexualkrüppel« hat sie Professor Freud genannt. Ich habe an anderer Stelle, ohne damals noch die pathologische Erklärung des Vorganges zu kennen, von Halbentjungferern gesprochen: »Gibt es Halbjungfrauen, so gibt es auch Halbentjungferer. Die letzten Hemmnisse zwischen ich und du bringen sie nicht zum Fallen. Nicht vollständig werden sie mit ihrer Aufgabe fertig. Nicht gänzlich vermögen sie, sich des Weibes zu bemächtigen. Das Liebesverhältnis wird nicht komplett ›konsumiert‹. Die Präliminarien der Liebe und die ersten Präludien bewältigen sie, aber, was dann kommt, der schönste, aber auch der schwerste Teil, er bleibt ungenossen, unbewältigt, unkonsumiert. Physiologisch – da reicht es bis zur Orgie. Nicht solche Schwäche ist natürlich hier gemeint. Nein, nein, diese viel ärgere, diese Gefühlsimpotenz, die den Eintritt in die tiefsten Erlebnisse der Liebe den an ihr Leidenden für ewig verwehrt. Nur starke Menschen sind fähig, Liebesgefühle für ein anderes Geschöpf emporwachsen zu lassen, »aus der Tiefe zur Höhe«, sie durchzuhalten, sie zu behaupten.«[164]
Jeder von diesen Halbentjungferern, von diesen sexuellen Zwangsneurotikern steht unter dem Einfluß von »Gespenstern«, ist deren direktes Produkt. Und was ein geistreicher Kritiker31 gelegentlich einer Aufführung der Ibsenschen »Gespenster« vom Oswald sagt, das paßt auch auf jene: »Erregbar – jedoch (das ist es) tot im Innern. Die Seele wirklich vermoulue. Er lehnt sich an die Mutter: doch er ist nicht zärtlich. Er verlangt nach Regine: doch mit wie halbem Anteil!«
Solche Halbentjungferer, solche Sexualkrüppel sind heute in der Überzahl. Darum die Liebesnot so groß, darum immer wieder Jammer und Wirrsal, anstatt Befreiung aus dem Liebeserlebnis sich ergibt. Darum auch die Not der gesunden Frauen über alle Dimensionen wächst. Denn die Frauen sind noch gesund zum allergrößten Teil. Den Mann aber hat die »Freiheit« seiner Geschlechtsmoral und der übermäßige Daseinskampf in seiner Geschlechts- und Liebeskraft geschwächt. Nur aus einer anderen Geschlechtsmoral, aus wirtschaftlicher Entlastung und aus der grenzenlosen Opferfähigkeit des liebenden weiblichen Herzens kann ihm Erlösung kommen.
Was ist Liebe? Mitfreude, so nennt es Richard Wagner, der, gleich Goethe und Lenau, ein Heros, ein Starker der Liebe war. »Gott hat sich geirrt, als er aus uns zwei Seelen machte« – mit diesem wunderbaren Wort bezeichnet Maeterlinck32 das Geheimnis. Aber noch näher kommt derselbe Dichter diesem Geheimnis mit einem anderen Wort: »So viel es für die Freundschaft und die Liebe bedeutet, so wenig bedeutet es für unsere instinktive Zuneigung, ob jemand gut oder böse ist, ob er Gutes oder Böses tut, wenn nur die geheime Kraft, die ihn beseelt,[165] uns zusagt«33. – Diese geheime Kraft, die vielleicht nur ein einziger fühlen kann, dieses letzte »ens« der Seele ist es, das die Liebe ruft.
»Je edler die Natur,« schreibt Wagner an Mathilde, »desto schwieriger die Ergänzung zur Mitfreude, gelingt sie, dann aber auch das Höchste.« Liebe ist aber auch Entdeckerlust. Mehr und mehr von einer anderen Seele Besitz nehmen, über Funde jubeln und Vertraulichkeiten aufwachsen sehen mit tausendfachem Gezweige, Erntestation machen an jedem Punkt, wo die geheimen Triebkräfte des eigenen Wesens mit denen des anderen sich begegnen – das ist Liebe; und sie ist unerschöpflich, wenn Tiefe und Fülle der beiden Naturen unerschöpflich sind, und sie verfliegt, wenn das frohe Liebesschiff auf Sandbänke stößt, die unter Wassergerinnsel sich verbergen.
Und weil dies geschieht und geschehen kann, darum ist auch ein Nacheinander in der Liebe denkbar. Kann man nur »einmal« lieben? »Und sprich, wie schwindet Liebe? – Die war's nicht, der's geschah.« Aber dieser Dichter hat unrecht. Denn das menschliche Herz ist nicht wie ein gemeines Brot, das sich vermindert, wenn man davon ißt. Es ist eher wie das Brot des Heilands, mit dem er speiste, die da hungrig waren. Aber nicht weil Hungrige da sind, wird und darf das Herz zum Brot werden für alle oder viele, sondern gerade weil Satte da sind, Allzusatte, die davon aßen und dann ihres Weges gingen. Um dieser Übersättigten willen darf das Brot, das wunderbare Brot der Liebe nicht in Nacht vergraben, nicht unter Verzweiflung verschüttet werden.
Das gesunde menschliche Herz kann immer wieder lieben, wenn es, einsam geworden, neuer Lebenshoffnung begegnet – und jedesmal »in die Tiefe lieben«, denn seine Kraft ist unermeßlich. »Man kann darauf schwören, daß Goethe die Frau von Stein zwar nicht heißer, aber[166] bewußter, wertvoller, köstlicher geliebt hat, als das Gretchen, von dem er in ›Dichtung und Wahrheit‹ berichtet«34. Immer tiefer lieben, immer besser lieben, immer selbstloser lieben – das ist der Passionsweg jedes großen Herzens.
Es gibt Modeströmungen auch in geistigen Materien, welche formenbildend auf die Gesellschaft wirken. So kann durch die Literatur einer Nation die tändelnde und durch die einer anderen die erhabene Liebe förmlich gezüchtet werden. Eine von »Esprit« getragene Darstellung des Liebesproblems muß natürlich anders wirken als die Vorführung der Männer und Frauen eines Wagnerschen Dramas. Das Liebesproblem in der Literatur ist formenbildend für das Leben, wie jedes Problem der Literatur. Wenn das Problem den Charakteren der Wirklichkeit gemäß ist, so wird es von der Wirklichkeit ergriffen, und die Charaktere bilden sich ihm nach. Ich halte daher auch die Auffassung mancher kritischer Beobachter, als sei die Literatur ein Niederschlag schon bestehender Verhältnisse, für unrichtig. Die Literatur ist vielmehr ein Niederschlag kaum bestehender, aber langsam sich bildender Ahnungen, ein Vortrab der Vorstellungen, die im Werden begriffen sind. Und die Entwicklung zur Realität dieser Vorstellungen bildet sich großen Symbolen, die die Dichtung erschaffen hat – vorerschaffen hat – nach.
Das klassische Dichtwerk der hohen Liebeskunst steht noch aus. Noch gehört es der Zukunft; eine hohe Synthese wird es darzustellen haben. Es wird die Darstellung des mit hoher Bewußtheit seiner Gefahr angefaßten, behandelten und vorsätzlich geformten Liebeslebens bieten müssen. Nichts von der Buhlerei ovidischer Rezepte, nichts von der Geistreichelei französischer Auffassung der[167] Liebe, nichts von dem klobig mörderischen »Ernst« der deutschen Sentimentalität, aber auch nicht die den Gestirnen verhängte Erdenfremdheit göttlichen und halbgöttlichen Liebens kann es sein, die uns Erdgeborenen erreichbar wird. Erreichbar aber den Erdgeborenen und darum darstellbar in der hohen Liebeskunst der Zukunft wird das Prinzip des Bewußten sein, des vollkommen durchleuchteten Willens, der hinter dem elementaren Liebesgeschehen steht und das Unbewußte beherrscht. Ein Genius, in dem Laßwitz, Shakespeare, Wagner, Tolstoi, Goethe und Kleist sich in dem einen Problem vereinigt haben, wird es zu seiner Zeit erschaffen, seine eigene Persönlichkeit wird organisiert sein müssen für die Möglichkeit dieser Dichtung, die nur dann entstehen kann, wenn das Leben, die Wirklichkeit, reif ist, sich ihr nachzubilden.
Die Liebe als Kult ist einer künftigen Menschheit vorbehalten; nicht Menschenkult, gegenseitig geübt, nein, wirklicher Gotteskult. Den Gott fühlen durch die Liebe, die Seele mit Ekstase erfüllen, sich heraustragen lassen von ihr aus dem Staub, sich wandeln in lauter Geist und Feuer – das vermögen heute und vermochten in der Vergangenheit nur Auserwählte. Aber eine Zukunft ist denkbar, da die gesamte Menschheit diese hohe Kraft zur Liebe, dieser einzigen Brecherin irdischer Not, ihr eigen nennt. Tauglich geborene Menschen werden es können. Die bewußte Hervorbringung des tauglichen Menschen, der der Träger und Erhalter hoher Gefühle ist – das ist immer wieder aller Weisheit letzter Schluß. Und erst eine unverfälschte Auslese, wie sie nur in der Zeit der gesicherten Mutter ihr freies Spiel wirken lassen kann, wird die mit dem Stigma des Unvermögens Geborenen, die Gezeichneten, in das Nichts dahinsinken lassen.[168]
27 | Neue Rundschau. |
28 | Dora Lucia Frost. |
29 | Mit dem psychischen Fetischismus des modernen Mannes werden wir uns im Abschnitt »Zur Psychologie der Heutigen« noch eingehend zu befassen haben. |
30 | Freud: »Neurosenlehre«. – Unterstreichungen von der Verfasserin. |
31 | Alfred Kerr im »Tag«. |
32 | Aglavaine und Selysette. |
33 | »Der doppelte Garten«. |
34 | »Die Fackel«, Jahrg. von 1907. |
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Die sexuelle Krise
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