Siebentes Kapitel

[410] Am Abend des fünften Tages nach diesen außerordentlichen Ereignissen näherte sich Heinrich Waser auf dem von Rapperswyl herkommenden ordinären Markt- und Postschiffe seiner Vaterstadt.[410] Die schlanken Turmspitzen der beiden Münster zeichneten sich immer schärfer und größer auf dem klar geröteten Westhimmel, und bei diesem viellieben Anblick dankte der junge Amtschreiber aus Herzensgrunde der gütigen Vorsehung für das glückliche Ende seiner über Erwarten gefährlichen Ferienreise.

Bei der Abfahrt von Rapperswyl hatte er sich nur in Gesellschaft der Schiffer befunden; denn eine Schar von Pilgerinnen aus dem Breisgau, alte müde Weiber, verbargen ihre sonnenbraunen Gesichter scheu unter den roten Kopftüchern und hatten sich im Vorderteile des Schiffes eng zusammengeduckt. Sie beteten oder schliefen. Sie kamen vom heiligen Gnadenort Einsiedeln und waren noch über die lange Brücke zu den Kapuzinern von Rapperswyl gewandert, um von den als Geisterbanner und Exorzisten bewährten Vätern allerlei Mittelchen einzuhandeln gegen Krankheit von Menschen und Vieh und gegen teuflischen Spuk. Dort hatten die Wallfahrer von einem schrecklichen Strafgerichte gehört, das in einem Tale jenseits der Berge über die Ketzer hereingebrochen sei. Alle seien sie mit Feuer und Schwert vertilgt worden.

Wohl erfüllte die Weiblein mit freudigem Schrecken dies Unglück der Mißgläubigen, aber auch mit dem Wunsche, so bald als möglich den protestantischen Landen, die sie zu durchwandern hatten, den Rücken zu kehren und jenseits der Grenze in ihrer katholischen Heimat diese großen Dinge zu verkündigen.

So war das Gerücht von dem Protestantenmorde im Veltlin schon vor, oder doch zugleich mit dem jungen Zürcher hieher gelangt. Auch Waser hatte auf dem Heimwege erfahren, was zu glauben er sich immer noch in innerster Seele gesträubt hatte, daß der Überfall in Berbenn, den er miterlebt, nur eine Einzelnheit, und nicht die grausamste, eines längst geplanten, unerhörten Blutbades gewesen sei. Sogar die nach und nach bei den Dörfern, wo man anlegte, einsteigenden Marktleute waren voll davon.

Es war eine Gesellschaft, die sich nicht erst von gestern her kannte. Die zwei Schiffleute, Vater und Sohn, vermittelten mit ihren Ruderknechten schon seit Jahren den Verkehr zwischen den beiden See-Enden. Der Junge, ein von der Sonne geschwärztes, kräftig aufgeschossenes Gewächs, war Wasers Altersgenosse. Sein Vater hatte ihn von Kindesbeinen an auf den See mitgenommen und ihn früh zum Vertragen der dem Schiffe für die Stadt anvertrauten Briefe und Pakete gebraucht. So war der Bursche mit dem jungen Jenatsch schon bekannt geworden, als der Pfarrer[411] von Scharans seinen Jürg nach Zürich auf die Schule führte, hatte ihm später manche Botschaft gebracht, und wenn Waser zu Ferienanfang seinen Schulkameraden seeaufwärts begleitete, hätte dem lustigen Tage das Beste gefehlt, wenn der wort- und schlagfertige Kuri Lehmann nicht mitgefahren wäre.

Er auch war es gewesen, der mit seinem Vater die müde kleine Lucretia in das Schiff aufgenommen, ihr in Zürich den Weg nach dem Carolinum gezeigt und ihr Mut gemacht hatte, nur frisch und unverzagt dem Jürg ihren Kram auf die Schulbank zu stellen.

Auch die Dorfleute – ein alter Mann von Stäfa, der allwöchentlich seine Spanferkel in Zürich zu Markte brachte, der Honighändler, die Fischer und ein paar Hühner- und Eierweiber – waren Stammgäste des geräumigen Bootes.

Die dunkle Nachricht, welche das Postboot von Rapperswyl brachte, versetzte dessen Insassen in ungewohnte Aufregung. Ihre vor dem Schreckbild scheuende Einbildungskraft erging sich in den abenteuerlichsten Sprüngen. Nicht zufrieden mit den überlieferten Tatsachen, vermuteten sie eine allgemeine Verschwörung der Papisten gegen alles Volk, das sich zur reinen Lehre bekenne. Schließlich waren sie nicht weit davon, den ihnen allen dem Rufe nach, einigen von Angesicht bekannten Herrn Pompejus, dem sie die Hauptschuld an dem Blutbade beimaßen, zum Feldhauptmann des Antichrists zu erheben und ihm ein Heer schlauer Jesuiten und feuriger Teufel zur Verfügung zu stellen.

»Der letzte Sieg der Bosheit und das Weltgericht steht vor der Tür«, sprach feierlich der alte Ferkelhändler, welcher etwas taub war und sich um so eifriger auf die seltene Kunst des Lesens und die selbständige Erforschung der Schrift verlegt hatte, »alle Zeichen sind da – das große Tier ...«

»Ihr könntet irren«, unterbrach ihn der Amtsschreiber, der bis jetzt in sich gekehrt geschwiegen hatte. »Wißt, daß seit der Apostel Zeiten bei allen schweren Kalamitäten, die über das Christenvolk hereinbrachen, das Ende der Welt von heute auf morgen erwartet wurde. Und doch steht, wie Ihr seht, noch Albis und Uto wie zu der Helvetier Zeiten und fließt die Limmat noch ihren alten Weg. Hütet also Euern Geist und Eure Zunge vor Irrlehre und eigenmächtiger Deutung.«

Der Alte senkte den Kopf, murmelte aber zwischen den Zähnen: »Daß es so lange nicht eingetroffen ist, beweist mir gerade, daß es jetzt eintrifft.«[412]

Kuri Lehmann, der, hart neben Waser stehend, sein langes Ruder führte, streifte jetzt diesen mit einem scharfen Blicke aus seinen wasserhellen, von niedrigen, schwarzbuschigen Brauen beschatteten Augen. Diese durchdringenden, sonst kalt verständigen Augen brannten in frechem Feuer.

»Warum, Herr Amtsschreiber, schicken die Gnädigen in Zürich nicht uns Seebuben gegen die Spaniolen und Jesuiten im Veltlin? Ist ihnen das Herz in die Hosen gefallen?« sagte er.

»Halt das Maul, um Gottes willen, Bub!« rief erschrocken der alte Lehmann, der am Steuer diese respektlose Rede gehört hatte, und fuhr mit der rechten Hand in die Höhe, als wollte er ihm das Wort im Munde zerschlagen. Aber er faßte sich und fügte mit ungewohnter Süße hinzu: »Die Herren in Zürich werden in ihrer Weisheit das Rechte schon treffen.«

Kuri aber fuhr unbekümmert fort: »Ihr wißt mehr als wir, Herr Waser! Hab ich Euch nicht mit einem Reisebündelein vor vierzehn Tagen nach Rapperswyl geführt? Ihr wolltet ein wenig in die Berge hinein, sagtet Ihr. Beim Eid, Ihr seid beim Jenatsch gewesen! War denn der nicht zur Stelle? Der Jürg hat sich doch, beim Strahl, von denen Äsern von Pfaffen nicht abtun lassen! Ihr blickt so traurig drein! Es ist ihm doch nichts passiert? Oder hat es gefehlt, hat er dran glauben müssen?«

»Er lebt, Kuri«, versetzte Waser, wie einer, der seine Worte wägt und keines zuviel sagen will.

»Nun, dann zählt darauf, eh ich diese Schuhe verbraucht habe« – Kuri schonte sie freilich, denn er hatte sie ausgezogen und neben sich auf den Schiffskasten gestellt, um erst in Zürich damit Staat zu machen –, »eh ich diese Schuhe verbraucht habe, hat der Jenatsch den Pompius Planta kaltgemacht. Sonst ist er nicht der Jenatsch mehr! Denkt daran! Leid tut es mir um das Jüngferchen und wird dem Jürg auch leid tun.«

Dieses in den Tag hinein gesprochene Wort machte auf Waser einen peinlichern Eindruck, als er sich nicht gestehen wollte, und hätte Kuris Vater von neuem erbost, wäre nicht sein Auge unweit vom Dorfe Küßnach auf einer grünen, von hohen Nußbäumen beschatteten Landungsstelle haftengeblieben. Es ergoß sich dort zwischen steilen, mit Holunderbüschen und Wurzelwerk überwucherten Borden ein Bach in den See, ein stilles und durchsichtiges Wässerchen, dessen unterhöhlte ausgewaschene Ufer aber verrieten, wie heftig es im Frühjahr toben konnte. Von der Anhöhe blickte ein Landhaus herab. Dort unter den Bäumen[413] stampfte ein kleiner ungeduldiger Junge mit Degen und Federhütchen auf dem schattigen Rasen herum, während die würdige Gestalt eines Präzeptors beschwichtigend daneben stand.

»Hoheho, hieher, Lehmann! Ich will in die Stadt!« schrie der Kleine, während sein Mentor ein Tuch aus der Tasche zog, um das Boot heranzuwinken.

Überflüssige Bemühung! Der alte Lehmann hatte schon mit dem Rufe: »Aha, der Junker Wertmüller vom Wampispach!« sein Schiff der Nußbaumgruppe zugelenkt und die Planke zum Einsteigen bereitgemacht.

Nach wenigen Minuten saß der zapplige Kleine auf der Ehrenbank zwischen seinem Erzieher und Herrn Waser, deren Beinbekleidung er mit seinen unruhigen Füßen, die den Boden des Schiffes noch nicht erreichten, mutwillig und unaufhörlich in Gefahr brachte.

Herr Verbi divini Minister Denzler, so nannte sich der Erzieher, ließ sich mit Waser über den Junker hinweg in ein lispelndes Gespräch ein. Er beklagte höchlich die haarsträubenden Wirkungen des Fanatismus, und obgleich Waser das von ihm Erlebte so knapp als möglich erzählte und seine eigene Person dabei bescheiden in den Hintergrund stellte, konnte sich der Präzeptor nicht genug entsetzen über die unerhörte Gefahr Leibes und Lebens, welcher sich der Herr Amtschreiber durch seine Kühnheit ausgesetzt. Dann steuerte er seinen persönlichen Angelegenheiten zu, wobei er gut fand, der lateinischen Sprache sich zu bedienen.

»Niemalen, Herr Amtsschreiber«, bemerkte er, »hätte ich diese schwierige Erziehung übernommen, denn der Kleine, obgleich ein ausgezeichnetes Ingenium, ist, unter uns gesagt, ein bösartiges Dämönlein, wenn mir nicht des Herrn Obersten Schmid Gnaden heilig versprochen hätten, daß ich bei Zufriedenheit mit meinen Leistungen später diesen seinen Stiefsohn auf einer Bildungsreise begleiten dürfte, wie sie noch selten gemacht worden ist. Die deutschen Lande, Italien, Frankreich sollen besucht werden, und wie Cäsar werden wir bis nach Britannia vordringen.«

»Ja, der Verbi divini muß mit!« rief hier plötzlich der kleine Kobold, der den Gegenstand der Unterhaltung erraten hatte. »Aber vorher muß er mich alle Sprachen lehren, daß ich in allen kommandieren kann!«

»Was willst du denn eigentlich werden, Rudolf?« fragte[414] Herr Waser, um die Blöße, die der Magister sich gegeben, zu decken.

»Ein General!« rief das Bübchen und sprang von der Bank, denn eben war man durch das Wassertor des Grendels gefahren und legte jetzt vor der Schifflände an. –

Bald bewegte Herr Waser sich wieder in den gewohnten Geschäften und saß wie früher täglich auf der Ratskanzlei; aber die staatsrechtlichen Handlungen waren für ihn keine leeren Formeln mehr, keine bloße Übung seiner behenden Gedanken, er war davon durchdrungen, daß dabei Wohl und Wehe der Völker auf dem Spiele stehe, er hatte der Wirklichkeit ins drohende Antlitz geschaut.

Infolge seiner Reise nach Bünden und seiner Rettung aus dem in allen protestantischen Landen Entsetzen verbreitenden Veltlinermorde war das Ansehen des jungen Amtsschreibers in seiner Vaterstadt außerordentlich gestiegen. Ja, es geschah eines Sonntags, als er hinter dem Herrn Amtsbürgermeister in seinem Kirchenstuhle saß, daß er aus dem Munde des Antistes der zürcherischen Kirche, während alle Augen sich teilnehmend auf ihn richteten, folgende seiner Bescheidenheit unwillkommenen Worte vernahm:

»Ihr seid durch die Posaune der die Welt durchfliegenden Fama davon unterrichtet«, tönte es von der Kanzel herab, »welch schreckliche Hekatombe der papistische Fanatismus in einem uns verbündeten Lande gehäuft hat – wie sechshundert unsrer protestantischen Brüder ausgerottet wurden durch die Schärfe des Schwertes – wie die blutgerötete Adda geschändete Leichen wälzte, während die verstümmelten Reste anderer auf offenem Felde liegen, dem krächzenden Gevögel ein scheußlicher Fraß. – Aber daß der Himmel sogar in allgemeiner Vernichtung seine auserwählten Rüstzeuge zu bewahren weiß, dafür gab er uns, Geliebteste, ein den innigsten Dank erweckendes Zeugnis in der lebendig hier anwesenden Person eines unsrer Herren Mitbürger, den er durch das menschliche Medium von dessen Fürsichtigkeit und Tapferkeit voraussichtlich zu höhern Zwecken mitten aus diesem Verderben gerettet hat.« ...

Eine andere Folge war, daß Wasers Vorgesetzte seit seiner Reise sich von ihm als einem tüchtigen und in Bündnerdingen bewanderten jungen Manne die ersprießlichsten Dienste versprachen. Man berücksichtigte sein Urteil, und vorzugsweise seiner gewandten Feder ward der öffentliche Verkehr mit den bündnerischen[415] Behörden und der geheime Briefwechsel mit den zürcherischen Vertrauensmännern in diesem schicksalsvollen Lande zugewiesen. Und, wunderbar, die toten Buchstaben der jetzt Schlag auf Schlag aus Chur eintreffenden Berichte bewegten, was sonst nicht der Fall gewesen war, sein Herz noch mehr, als sie seinen Scharfsinn beschäftigten. Zwischen den Zeilen blickten die kraftvollen Köpfe des stolzen Planta, des feurigen Jenatsch, des kalt fanatischen Blasius Alexander hervor und verdeutlichten ihm die Natur dieses ungebändigten, parteisüchtigen, unter einer ruhigen Außenseite tief leidenschaftlichen und seine wilde Freiheit über alles liebenden Volksstammes.

Oft wenn er ungestört an seinem Arbeitstische saß, ward er unversehens zurückgetragen in die Vergangenheit. Er stand wieder in Berbenn vor dem brennenden Hause und sah den Schulfreund aus den Flammen treten, sein noch im blassen Tode wunderschönes Weib über der Schulter, er sah ihn unausgesetzt, unermüdet, wortlos voranschreiten auf den gefährlichen Bergpfaden und über die zerrissenen Gletscher, bis der Schweigsame seine Last niederlegte auf dem Kirchhofe von Vicosoprano, um sie dort in Bündnererde zu bestatten. Immer mehr wurde Heinrich Waser von dem Eindrucke bewältigt, die Lohe, welche den häuslichen Herd des Bündners verzehrt, flamme fort als verborgener unauslöschlicher Rachebrand in seiner Brust, von einem eisernen Entschlusse bis zur günstigen Stunde niedergehalten, und als Jürg tränenlos am Grabe seiner Lucia gestanden, habe er mit ihr alle Harmlosigkeit der Jugend, alle weichen Gefühle und vielleicht jedes menschliche Erbarmen versenkt. Hatte doch Wasers herzliche Teilnahme bei ihm keine Stätte, nicht ein einziges erwiderndes Wort gefunden. Jenatsch war dem Freunde gegenüber zu Stein geworden, und die letzte Rede, fast die einzige auf der Reise, die er beim Scheiden in Stalla an ihn gerichtet, hatte dem jungen Zürcher beunruhigend und verhängnisvoll nachgeklungen. »Du wirst von mir hören!« hatte er ihm zugerufen. Mit Jürg war Blasius Alexander fortgegangen als einziger Begleiter. Dieser auch hatte das Gebet über Lucias Grabe gesprochen und dabei schreckliche alttestamentliche Worte so zusammengestellt, daß Waser sie kaum mehr erkannte und sie ihm als der Ausdruck gotteslästerlicher Rachsucht erschienen. Überhaupt war Blasius nicht sein Mann. Noch nie war seine heitere, für die verschiedenen Seiten der Dinge empfängliche Natur auf einen schrofferen Gegensatz gestoßen, und ihm graute, seinen Freund in dessen[416] jetziger Stimmung mit diesem kalten Fanatiker zusammen zu wissen.

Wie gesagt, eine Hiobspost folgte der andern. Unmittelbar nach der Schlächterei besetzten die Spanier, von Fuentes her eindringend, mit Heeresmacht das ganze Veltlin. Die beiden Planta führten die Österreicher ins Münstertal, und zwei Versuche, die verlorenen Landschaften wiederzugewinnen, blieben fruchtlos. Im Innern von Bünden wuchs täglich die Wut gegen die landesverräterischen Anstifter des Veltlinermordes, besonders gegen den verfemten Pompejus Planta, der in der allgemeinen Verwirrung sich seines festen Hauses Riedberg wieder bemächtigt hatte.

So war Waser, als eines Tages durch einen reitenden Boten die Nachricht von dem Überfalle des Schlosses und der Ermordung des Herrn Pompejus eintraf, mehr erschrocken als erstaunt. Das Schreiben kam vom Ritter Doktor Fortunatus Sprecher. Dieser gelehrte Jurist behauptete in der von politischer Leidenschaft beherrschten Zeit eine geachtete und verhältnismäßig unangefochtene Stellung. Von ihm war bekannt, daß er, dem die waghalsige Demokratenwirtschaft und die spanischen Intrigen gleichermaßen verhaßt waren, in stillen Stunden beflissen sei, die in ihm aufsteigende Bitterkeit bestmöglich zu versüßen durch tägliche genaue Aufzeichnung aller Fehlgriffe und Greuel, welche sich die ihm widerwärtigen extremen Parteien zuschulden kommen ließen. Dies tat er aber mit dem Vorsatze, die unter dem Eindrucke des Tages entstandenen Aufzeichnungen im Laufe der Jahre gemächlich zu einer ausführlichen und, wie er sich schmeichelte, völlig vorurteilslosen Geschichte seines Vaterlandes zu verarbeiten. Mit diesem wohlunterrichteten Manne unterhielt die Regierung von Zürich Beziehungen, um, wie sich Jenatsch ausgedrückt hatte, auf dem laufenden zu bleiben. Der Ritter beobachtete die Vorsicht, seine Briefe nicht an die Staatskanzlei, sondern an Heinrich Waser, den Privatmann, zu richten.

Das Schreiben, welches dieser in schweren Gedanken immer und immer wieder las und unbewußt mit häufigen Tränen benetzte, trug das Datum: Chur, den 27. Februar 1621. Es erzählte das verhängnisvolle Ereignis in einer Sprache, welche die zornige Erregung des Berichterstatters verriet.

In der Nacht vom vierundzwanzigsten auf den fünfundzwanzigsten hätten sich die Führer der Volkspartei von Grüsch im Prätigau, dem Sitze ihrer Verschwörung, aufgemacht, zwanzig[417] Mann stark, alle gut bewaffnet und beritten, voran der wahnwitzige Blasius Alexander und der teuflische Jenatsch. In rasendem Ritte durch das schlafende Land und die finstere föhnwarme Nacht brausend, seien sie im Morgengrauen wie Gespenster vor Riedberg aufgetaucht, haben das Tor mit Axthieben gesprengt, seien ohne ernstlichen Widerstand der schlummertrunkenen entsetzten Dienerschaft in die Schlafkammer des Herrn Pompejus eingedrungen, diese aber sei leer gewesen. Im Begriffe, fluchend und lästernd wieder abzuziehen, habe sie Jenatsch in einem engen Vorzimmer auf ein altes blindes Hündlein aufmerksam gemacht, das winselnd in den Rauchfang des Kamins hinaufschnoberte. Aus diesem sei dann Herr Pompejus mit frevler Faust an seinem langen Schlafkleid heruntergerissen und mit wütenden Beilhieben zu Tode gebracht worden. Unbegreiflicherweise seien die Mörder unangefochten in frechem Triumphe durch das rings von den Sturmglocken aufgestörte Land nach Grüsch zurückgekehrt, am hellen Tage durch die Straßen von Chur im Schritte reitend, wo er, Sprecher, durch das Pferdegetrappel ans Fenster gerufen, selbst die Entsetzlichen erblickt und von dem blutigen Jenatsch hohnlächelnd begrüßt worden sei. Gegen Mittag habe der Briefsteller im Auftrage der Gerechtigkeit und mit hinlänglicher Bedeckung nach Riedberg sich begeben, wo Herr Pompejus noch in der Lache seines Blutes gelegen, jämmerlich zerhauen, aber stolz und verachtungsvoll noch in der Todesruhe. Das Mordheil habe der alte Kastellan Lucas den Gerichtsleuten vorenthalten und es in ein unzugängliches Versteck gebracht, um es, wie er gesagt habe, der göttlichen Gerechtigkeit scharf zu behalten, worunter der Alte wohl die Blutrache der Planta verstanden. Über der Todesstätte seines Herrn aber habe er die Mauer mit einem großen Kreuze bezeichnet.

Sprechers Brief endigte mit der schwarzsichtigen, dem Tacitus entliehenen Bemerkung: in dieser Zeit, wo den Guten jede Macht genommen sei, bleibe die Bestrafung der Bösen das einzige Zeichen einer waltenden Vorsehung, und mit dem trostlosen Ausrufe: »Wehe, Rhätia, wehe dir!«

Dieser Weheruf war nicht unberechtigt, das lehrte die nächste Zukunft. Nach einigen flüchtigen Sonnenblicken, die eine bessere Wendung der Dinge für Bünden zu versprechen schienen, erfüllten sich seine Geschicke. Bevor seit der Ermordung des Herrn Pompejus ein Jahr um war, überschwemmten österreichische und spanische Heerhaufen die rätischen Lande. Das Volk erhob sich[418] zum Verzweiflungskampfe, selbst Frauen und Mädchen schwangen rohe todbringende Waffen.

Eines Tages, da die Bedrängten in der Kirche zu Saß den helfenden Gott anriefen, verirrte sich ein weißes Lamm von der Weide in die offene Sakristei und erschien neben dem Taufbecken vor den Augen der bewaffneten Landleute. Das bedrohte Volk erblickte darin einen göttlichen Zeugen von der Unschuld und Gerechtigkeit seiner Sache.

Georg Jenatsch war der Vorkämpfer des Aufstandes. Er troff von Blut und seine übermenschliche Tapferkeit wurde zur Legende. So erschlug er Hunderte von Österreichern, meldet die Sage, bei Klosters in offener Feldschlacht, er allein mit drei Genossen.

Die heldenmütigen Bündner wurden von der Übermacht erdrückt. Waser sah eines nach dem andern ihrer flüchtigen Häupter in Zürich anlangen. Es kam ein Salis, ein Ruinell, ein Violand – Jürg Jenatsch kam nicht. Wohl mochte es ihm schwer werden, das Bollwerk seiner Berge zu verlassen.

Furcht vor dem übermächtigen Österreich lähmte diesmal die Gastfreundschaft der Stadt Zürich, die sie sonst keinem Vertriebenen versagt. Beim Pokale auf den Zünften hatte die junge Bürgerschaft den bündnerischen Tellen, so nannte man die Mörder des Herrn Pompejus Planta, stürmisch zugejauchzt, jetzt aber streckten sich den Flüchtigen nur wenige Hände entgegen. Man ersuchte sie, sich stille in den Häusern zu halten, damit in Wien ihre Anwesenheit geleugnet werden könne. Die Geister waren von dunklen Ahnungen erschreckt, dreißig kommende Kriegsjahre warfen ihren Schatten vor sich her.

An einem Winterabend verließ Waser ernster als gewöhnlich und in tief bewegter Stimmung das Haus seiner jungen Braut, die er nächstens heimführen sollte und in deren angesehener Familie er das Nachtessen einzunehmen pflegte. Hier ließ er sonst die Staatssorgen vor der Tür und freute sich in Züchten des Lebens; heute aber quoll ihm der Bissen im Munde. Sein Schwager, ein Junger Geistlicher, hatte aus der eben versammelten Synode eine ergreifende Nachricht nach Hause gebracht. Von Seiner Hochwürden dem Antistes war ein Schreiben verlesen worden mit der Nachricht von dem standhaften Ende des Märtyrers Blasius Alexander. Da wurde ausführlich von einem seiner Kerkergenossen erzählt, wie man ihn auf der Flucht ergriffen und nach Innsbruck gebracht habe; wie er sich in der Gefangenschaft unerschütterlich[419] geweigert, den reformierten Glauben abzuschwören, und wie er schließlich zum Verluste der rechten Hand und des Hauptes verurteilt wurde. Da seine Rechte abgeschnitten auf dem Blocke lag, habe er bereitwillig auch die Linke ausgestreckt, als könne er sich des Martertums nicht ersättigen.

Um sein Gemüt zu beruhigen, machte Waser gegen seine Gewohnheit einen raschen Gang um die beschneiten Stadtmauern. Als er in seine dunkle Stube zurückkehrte und Feuer schlug, um seine Lampe anzuzünden, gewahrte er in der Fensternische eine hohe Gestalt, die ihm nun festen Schrittes entgegentrat und ihm die Hand auf die Schulter legte. Es war Jürg Jenatsch.

»Erschrick mir nicht, Heinrich«, sagte er sanft, »ich komme nur für eine Nacht und verlasse eure Mauern, sobald in der Frühe ein Tor aufgeht. Hast du Platz für mich in deinem Kämmerlein, wie ehedem? . . . Du schwankst, ob du mir die Hand drücken willst ... sie hat gerecht gerichtet ... Doch jetzt ist in Bünden nichts mehr zu tun. Da ist alles verloren – wer weiß für wie lange. Ich gehe zum Mansfeld. Dort auf dem großen deutschen Kampfplatze entscheidet sich mit Sieg oder Niederlage der protestantischen Waffen auch das Los meiner Heimat.« –[420]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 410-421.
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