Zweites Kapitel

[478] »Während der Sommer« und Herbstmonate eines einzigen Jahres hatte Herzog Heinrich Rohan seinen Feldzug im Veltlin mit raschen entscheidenden Schlägen zu Ende geführt. Die frischen Lorbeeren von vier Siegen, wie sie nur selten ein Feldherr erficht, verherrlichten seinen Namen.

Diesmal hatte sich sein Talent kühn und freudig entfaltet, denn der Kampf hatte den äußeren Feinden Frankreichs gegolten, nicht auf französischem Boden zwischen Kindern derselben Erde gewütet. Während er früher gezwungen gewesen, Landsleute gegen Landsleute, seine calvinistischen Glaubensgenossen gegen das katholische Frankreich mit blutendem Herzen zu führen, so befehligte er jetzt zum ersten Male ein aus beiden Bekenntnissen verschmolzenes französisches Heer. Vor der Schlacht von Morbegno, wo seine Schar vor einer in günstigen Stellungen drohenden spanischen Übermacht stand, ließ er seine Leute gegen gallische Kriegssitte auf den Knieen den göttlichen Beistand anrufen. Der calvinistische Kaplan des Herzogs betete mit den Protestanten, während ein katholischer Priester über seinen Glaubensgenossen das segnende Zeichen des Kreuzes machte.

Noch nie hatte Rohan einen so genialen Feldherrnblick bewiesen wie jetzt auf diesem von tiefen Talschluchten zerrissenen und von Gletscherbergen eingeengten, schwer zu übersehenden Kriegsfelde. Seinem raschen unfehlbaren Eingreifen kam seine bewundernswerte Ausdauer gleich und eine asketische Natur von seltener Bedürfnislosigkeit zu Hilfe. Er war imstande vierzig Stunden lang angespannt tätig zu sein, ohne der Erfrischung des Schlafes zu bedürfen.

So eilte er in der Mitte zwischen zwei gegen ihn vordringenden Heeren, deren jedes dem seinen fast doppelt überlegen war, talauf-, talabwärts und warf sich jetzt dem einen, dann, die Stirne wendend, dem andern entgegen, immer siegreich, bis er sie beide, Spanier und Österreicher, vom Bündnerboden verdrängt hatte und das ganze langgestreckte Tal der Adda, das seit Jahrzehnten herrenlose und streitige Veltlin in der Gewalt seiner Waffen war.

Bei dem dritten dieser Siege, der Schlacht in Val Fraele, grenzte die Ungleichheit des Verlustes an das Unglaubliche. Der Herzog büßte nach seinem eigenen Zeugnisse nicht sechs Mann ein, während zwölfhundert Feinde auf der Walstatt blieben. Es[478] gibt nur eine Erklärung für eine so ungleiche Verteilung der Todeslose: der französische Feldherr hatte vor den Österreichern die vollkommene Kenntnis dieser verlorenen Hochtäler voraus. Rohan hatte Bündner neben sich, die das Bergland wie die mit Arvholz getäfelte Stube ihres Vaters und das Stammwappen über dem Haustore kannten, und keiner war mit Bündens Bergen vertrauter als Georg Jenatsch.

In dem Schreiben, das der Herzog über diesen Sieg an die bündnerischen Behörden richtete, hebt er die Tapferkeit des Obersten Jenatsch und des von ihm geführten heimischen Regimentes mit dem wärmsten Lobe hervor. Diese schrankenlos erscheinende und doch besonnene Tollkühnheit, die schwer glaubliche Sage der frühern Volkskämpfe im Prätigau, wurde jetzt von dem geschulten französischen Heere und besonders von dem respektlosen Locotenenten mit kritischen Augen gemessen und aufrichtig bewundert. Überhaupt stieg Georg Jenatsch unaufhaltsam in der Achtung und im Vertrauen des Herzogs und wurde, ohne daß Rohan selbst sich dessen bewußt war, sein am liebsten gehörter Ratgeber. Versammelte der Feldherr in Fällen, wo sich Kühnheit und Vorsicht bestreiten mochten, einen Kriegsrat, so trieb Jenatsch immer zu den gewagtesten Angriffen und beanspruchte für sich selbst den gefährlichsten Posten; aber seine Ratschläge bewährten sich und seine Verwegenheiten mißglückten nie, denn die Gunst des Schicksals war mit ihm. –

Er aber ergriff jede Gelegenheit der Person des Herzogs nahe zu bleiben und sie in jeder Fährlichkeit mit der seinigen schützend zu decken. Weniger noch im Gedränge der Feldschlacht, als auf den einsamen Gebirgspfaden, welche er ihn zuweilen führte um die feindlichen Stellungen zu erforschen. So gelang es ihm einst, da sich ein tückisches Felsstück unter den Füßen des Herzogs löste, denselben mit raschen Armen am Rande des Abgrundes festzuhalten, und ein andermal zerhieb er, schnell zielend, eine Otter, die aus dem Gestrüppe zischend nach der Hand des Herzogs fuhr.

So trat er dem Herzog immer näher, der sich freudig bewußt war, diesen bedeutenden Geist aus schmählichem Dunkel gezogen und durch seinen Einfluß entwickelt zu haben. Oft mußte Rohan sich wundern, wie willig und streng der unbändige Grisone der Kriegszucht sich unterwarf und, was er ihm ebenso hoch anrechnete, mit welch unbedingtem Vertrauen der vormalige bündnerische Volksführer jede besorgnisvolle Äußerung über das[479] letzte Ergebnis des Krieges und die Zukunft Bündens unterließ, ja vermied.

Dies Ergebnis war der Herzog gesonnen, für Bünden so günstig als möglich zu gestalten. Er täuschte sich nicht über die Abneigung des französischen Hofes gegen seine Person, aber dennoch hoffte er dort mit seinen billigen und weislich erwogenen Vorschlägen durchzudringen. Eine Reihe mit geringer Truppenmacht durch seinen individuellen Wert erfochtener Siege, welche die französischen Waffen mit einem blendenden Glanze umgaben, mußten bei dem Sohne Heinrichs IV., mußten sogar bei Rohans altem Gegner, dem immerhin das Banner mit den französischen Lilien hoch emporhaltenden Kardinal, entscheidend ins Gewicht fallen. Was noch aus der Zeit der Bürgerkriege im Gemüte des Königs gegen den ehemaligen Kriegsführer der Hugenotten geschrieben stand, hatten – sagte sich der Herzog – die von ihm jetzt in die französischen Annalen eingezeichneten Triumphe gänzlich verwischt und unleserlich gemacht.

Rohan hatte das Land Bünden und sein zugleich nordisch mannhaftes und südlich geschmeidiges Volk liebgewonnen. Der Aufenthalt in diesen Bergen ruhte seinen Geist aus und erfrischte seine Lebenskraft. Aber nicht die ernsten, kühl durchwehten Hochtäler, wo er Siege erfochten, mit ihren Felshörnern und Schneehäuptern übten einen Zauber auf ihn aus, sondern er zog dem Geschmacke der Zeit und seinem eigenen milden Gemüte gemäß die mittlern, mit weichem Grün bekleideten Alpen vor, die mit Hütten und läutenden Herden bedeckt waren. Seine Lieblinge waren die Höhen, die das warme Domleschg einrahmen, und er pflegte zu sagen, der Heinzenberg sei der schönste Berg der Welt.

Das Geschenk seiner Neigung gaben ihm die Bündner mit Wucher zurück. Im ganzen Lande wurde er nur »der gute Herzog« geheißen. In Chur war er der Abgott aller Stände; denn die vornehmen Familien fesselte er an sich durch die Feinheit seiner adeligen Sitte, das Volk aber bezauberte er durch eine aus dem Herzen kommende unbeschreibliche Leutseligkeit. In den protestantischen Gemeinden des Landes hörten überdies die Bündner fast allsonntäglich sein Lob von der Kanzel verkündigen. Er ward ihnen gezeigt und gerühmt als ein Muster evangelischer Glaubenstreue und als ein Hort der bedrängten Protestanten in allen Landen.

Der glückliche Stern, der seine kriegerischen Unternehmungen[480] begünstigt hatte, schien jetzt auch über seinen politischen zu leuchten. Er beschied einige ausgezeichnete Bündner zu sich nach Chiavenna, beriet mit ihnen Satz um Satz den Entwurf eines Übereinkommens und dieses wurde kurz darauf von dem in Thusis versammelten bündnerischen Bundesrate angenommen. Man machte sich von beiden Seiten die äußersten Zugeständnisse. Um die Bündner in ihrer Hauptforderung zu befriedigen, gab ihnen Rohan durch diesen Vertrag das Veltlin im Namen Frankreichs zurück. Aber er sicherte zugleich das militärische Interesse und die katholische Ehre seines Königs, indem er festsetzte, daß die bündnerischen Bergpässe bis zum allgemeinen Friedensschlusse von Bündnertruppen in französischem Solde gehütet werden müßten und die katholische Religion im Veltlin als die herrschende anerkannt werde.

So lauteten die von Herzog Heinrich mit den Häuptern Bündens zu Chiavenna beratenen und im Domleschg bestätigten Vertragspunkte, die sogenannten Thusnerartikel.

Genehmigte der König von Frankreich diesen von Rohan für ihn geschlossenen Vertrag – und wie hätte er es nicht tun sollen! – so waren Bündens alte Grenzen hergestellt und Heinrich Rohan hatte sein gegebenes Wort gelöst, denn in der Tat für diese Herstellung ihrer alten Grenzen hatte er sich den Bündnern vor dem Feldzuge persönlich verbürgt – verbürgen müssen. Dies Versprechen zu verweigern war ihm unmöglich gewesen, sollte sich das erschöpfte elende Land noch einmal zum Kriege aufraffen. Darin hatte die unerbittliche Logik des scharfsinnigen venezianischen Provveditore das Richtige vorausgesagt; aber wie sehr, wie vollständig hatte er sich geirrt, als er den Herzog vor Georg Jenatsch glaubte warnen zu müssen!

Gerade für die Annahme der Thusnerartikel hatte der Oberst das Unglaubliche getan; es war wahrlich kein leichtes gewesen, es hatte Gewandtheit und Ausdauer genug auch den Liebling des Volkes gekostet, um diese bei den argwöhnischen, auf ihre Unabhängigkeit eifersüchtigen Bündnern durchzusetzen. Aber Jenatsch hatte sich vervielfacht und von Tal zu Tale, von Gemeinde zu Gemeinde eilend, hatte er überall den Zauber seiner Rede ausgeübt, überall seinen willensstarken, feurigen Einfluß geltend gemacht. Er hatte darauf gedrungen, das sichere Teil nicht aus der Hand zu lassen um eines ungewissen, ja undenkbaren größern Gewinns willen. Er hatte geraten, sich mit der Hauptsache zu begnügen, dem edeln Anwalte Bündens bei der[481] französischen Krone nicht sich undankbar zu erzeigen und den mit jedem Jahre sich mindernden Rest des französischen Druckes willig in den Kauf zu nehmen.

Doch noch eine Sorge drückte die Ehrenhaftigkeit des Herzogs. Der ungeheure Summen verschlingende Krieg in Deutschland hatte den französischen Schatz erschöpft. Die Sendungen des Schatzmeisters an Herzog Rohan flossen schon lange spärlich und blieben jetzt aus, es war diesem seit einiger Zeit nicht mehr möglich, seine Bündnertruppen zu besolden. Freilich teilten die französischen Regimenter dasselbe Los. Man schien am Hofe zu St. Germain des Glaubens zu leben, die Ehre unter dem ruhmreichen Feldherrn zu dienen ersetze dem Soldaten Nahrung und Kleidung. Rohan sandte Schreiben auf Schreiben und erhielt als Antwort Versprechen auf Versprechen. Die Erhebung einer neuen Kriegssteuer in Frankreich, so schrieb man dem Herzog aus St. Germain, sollte dem Mißstande nächstens ein Ende machen.

Welche Hemmungen und Säumnisse also das Werk des Herzogs erfuhr durch den Menschen und Dingen inwohnenden Widerstand gegen gerechte, einen selbstsüchtigen Interessenkreis durchbrechende Lösungen – nun stand er hart vor seinem Ziele und die Bündner erreichten, dank der ihnen von Rohan auferlegten Mäßigung, die Befreiung ihres Landes.

Da plötzlich verbreitete sich zur Zeit der fallenden Blätter eine unheimliche Botschaft durch die bündnerischen Täler. Der gute Herzog, hieß es, weile nicht mehr unter den Lebenden. Er sei in seinem Palaste zu Sondrio einem Sumpffieber zum Opfer gefallen. Schon habe ein Bote das Stilfserjoch überschritten und sei nach Brixen geeilt, um die Spezerei zur Einbalsamierung seines Leichnams zu holen.

Dieses Gerücht erschreckte die Gemüter, wo es hingelangte. Man ward sich plötzlich sorgenvoll bewußt, was alles an diesem edeln Leben hing. Wie in den Bergen, wenn eine Wolke vor die Sonne gleitet, die Landschaft mit einem Schlage dunkel wird und zugleich in ihren einzelnen schroffen Zügen schärfer hervortritt, so erschien den Bündnern, als sie den Herzog sich hinwegdachten, die unsichere Abhängigkeit und die Gefahr ihrer Lage mit drohender Deutlichkeit. War ihnen doch nur in seiner vertrauen erweckenden Person Frankreich als helfende Macht nahe getreten! Er war es, der für seinen König mit ihnen unterhandelt, den von ihnen begehrten Kampfpreis zugesagt, für Frankreichs[482] Rechtlichkeit im Worthalten dem kleinen Lande gegenüber sich verbürgt hatte. Was geschah, wenn ihr Mittler, der gute Herzog, verschwand? Wen gab ihm Richelieu zum Nachfolger? War der die Welt mit kalter Berechnung überschauende Kardinal, der rücksichtslose Staatsmann gesonnen, das unbequeme Erbe der Gerechtigkeit des Protestanten Heinrich Rohan anzutreten?

Das Unheil ging diesmal noch vorüber. Die Nachricht vom Tode des Herzogs war eine falsche. Nach einigen Wochen erfuhr man, er habe zehn Tage lang mit geschlossenen Augen bewußtlos gelegen, dann sei er wieder zum Leben erwacht und erhole sich langsam. Welcher böse Zweifel aber ihn gefoltert hatte, bis er todesmatt aufs Lager sank, das ahnte damals noch niemand.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 478-483.
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