Achtes Kapitel

[518] Wenige Tage später, den 19. März, eilte der gelehrte Ritter Fortunatus Sprecher die Treppe zu den Gemächern seines erlauchten Gastes herauf. Diese frühe Morgenstunde konnte unmöglich zur Fortsetzung der Biographie des Herzogs geeignet sein; auch war das Antlitz des Ritters, der krampfhaft ein großes mit dem Bündnerwappen verziertes Druckblatt in der Hand hielt, wie solche zu öffentlichen Kundgebungen an die Mauer geschlagen werden, heute besonders schwer verdüstert.

Oben angelangt, blieb er atemlos einen Augenblick stehen und sammelte sich. Doch ließ er dem Kammerdiener kaum Zeit ihn anzumelden und drang ohne die gewohnte Rücksicht und Höflichkeit in das Arbeitszimmer des Herzogs ein, wo dieser, seine Bibel lesend, im Erker saß und jetzt, über die Störung erstaunt, zu dem Eintretenden aufblickte.

»Es sind unerhörte Ereignisse«, begann Herr Sprecher, »die mich zwingen, erlauchter Herr, Eure Morgenandacht zu stören. Es ist, kaum wage ich es auszusprechen, die Sorge um die Sicherheit Eurer edlen Person, die mich dazu treibt. Könnt ich Euch doch in mein Herz blicken lassen, damit Ihr darin meine aufrichtige und in jeder Probe stichhaltige Ergebenheit läset, überzeugender als mein Mund sie ausdrücken kann! – In meine geschichtlichen Arbeiten vertieft und gewohnt auf die eiteln Geräusche des Tages wenig zu merken, habe ich leider die Bedeutung der wirren Stimmen unterschätzt, die allerdings in der letzten Zeit an mein Ohr schlugen. Ich wollte Euch nicht unnötig damit beunruhigen.«

Der Herzog erhob sich rasch. »Kommt zur Sache, Herr!« sagte er bestimmt und ruhig. »Was ist das für ein Blatt? Gebt her.«[518]

Sprecher überreichte das verhängnisvolle Druckblatt und stöhnte mit sinkender Stimme: »Es ist der Aufstand gegen Frankreich und die Ernennung des Jürg Jenatsch zum Obergeneral der drei Bünde!« –

Rohan durchlief das Blatt und erblaßte.

Es enthielt einen Aufruf an das Volk, der die Beschwerden der Bündner gegen die Krone Frankreich in kurzen, treffenden Worten zusammenfaßte und zum Vertrauen auf Spanien-Österreich aufforderte, das sich bereit erkläre, Bündens alte Grenzen und Freiheiten zu gewährleisten. Alle bündnerischen Waffen wurden unter den Befehl des Jürg Jenatsch gestellt.

Die Schlußworte lauteten:

»Ihr Gemeinden der drei Bünde, greift zum Schwert, erhebt euch zum Landsturm im Namen des Herrn. Sammelt euch bei Zizers nächst Chur am neunzehnten des Märzen.« Hier folgten die Unterschriften der drei Bundeshäupter, obenan diejenige des Amtsbürgermeisters Meyer von Chur.

Der Herzog warf das Blatt empört auf den Tisch. Er rief nach seinen Dienern, befahl zu satteln und fragte nach Wertmüller Mit diesem wollte er nach der Rheinschanze reiten. Seine schnelle Geistesgegenwart und militärische Spannkraft verließ ihn nicht einen Augenblick.

Während ihn sein Diener ankleidete, wagte der geängstigte Sprecher noch einige Beteuerungen, Andeutungen und Räte.

»Die Unterschriebenen sind alle Mitglieder des Kettenbundes Gott weiß, ich hielt ihn für eine gemeinnützige Gesellschaft ohne gefährliche Nebenzwecke! – Und dieser Bürgermeister Meyer, der sich immer so verächtlich über den charakterlosen Jenatsch und so feindselig gegen das papistische Spanien äußerte! . . . Ich fürchte, erlauchter Herr, mein Hausrecht wird Euch hier nicht schützen können! . . . Ihr kommt durch die nach Zizers strömenden Volksmassen nicht mehr in die Rheinschanze ... Horcht! Mein Gott, nun läutet es auch in der Stadt von allen Türmen Sturm ... Vielleicht ließe sich nächtlicherweile ein Fluchtversuch nach Zürich wagen und von dort würdet Ihr auf Umwegen Euer Heer im Veltlin erreichen!« –

Während dieser Worte war der Galopp eines Pferdes auf dem Pflaster erklungen und schon stand der Adjutant Wertmüller in dienstlicher Haltung, aber mit zornblitzenden Augen vor dem Herzog.

»Die Bündnerregimenter im Domleschg meutern und marschieren[519] mit fliegenden Fahnen auf Chur, Erlaucht«, meldete er. »Ich wäre ihnen bei einem Morgenritte nach Reichenau fast in die Hände gefallen. Sie sind mir auf den Fersen. Hier in der Stadt liegt, wie der edle Herr weiß, nur die Freikompanie der Prätigauer Treue Leute! Ich habe sie an das nördliche Tor beordert. Ihr Hauptmann Janett schwur mir zu, er sei mit Leib und Leben der Eurige und werde gegen alle Spaniolen und Meineidigen zu Euch stehen. Eure Pferde und Leute sind unten bereit. Noch ist es möglich, wenn die Prätigauer uns den Rücken decken, nach der Rheinschanze durchzudringen. Begegnet uns Volksgesindel, so reiten wir es nieder.«

Herzog Heinrich hieß diesen mutigen Vorschlag, welcher seinen eigenen Entschluß aussprach, mit einer zustimmenden Kopfbewegung gut und schritt, Herrn Sprecher flüchtig grüßend, rasch dem Ausgange zu.

Aber schon war er ein Gefangener.

Als Wertmüller die Türe des Vorsaales aufriß, ertönte von unten her Gemurmel zahlreicher Stimmen und schleifendes Geräusch treppansteigender Füße. Man vernahm Sporengeklirr und gedämpften Wortwechsel. Der Herzog blieb stehen und legte die Hand an den Degen.

Vor der Tür zauderten und drängten sich Gestalten, die einen in Waffen, die andern in Staatstracht. Keiner wagte es, sich voranzustellen. Jetzt wichen sie zur Seite und gaben Raum. Georg Jenatsch trat aus ihnen hervor und überschritt die Schwelle. Ihm folgten Guler, der Graf Travers und ein stattlicher Mann in bürgermeisterlichem Ornate und goldener Kette mit großgeschnittenem, fleischigen Gesicht und leicht schielenden Augen.

Der Oberst Jenatsch, hinter dessen entschlossenen Schritten die andern nicht ungern zurückblieben, näherte sich barhaupt mit starren blassen Zügen dem Herzog, der stolz und fragend vor ihm stand. Seine Stimme klang ruhig und seltsam kalt, als er zu reden anhob:

»Erlauchter Herr, Ihr seid in unserer Gewalt. Unser Aufstand ist Gegenwehr und gilt nicht Euch, sondern der Krone Frankreich. Was Euch dunkel blieb, ist uns klargeworden: Der Kardinal will den von Euch mit uns vereinbarten Vertrag nicht unterzeichnen. Er will uns festhalten und im Tauschhandel des in Aussicht stehenden allgemeinen Friedensschlusses als französische Ware verschachern. Das Pfand Eurer reinen Ehre, das er[520] uns in die Hände gab, würde er leicht verscherzen. So hat uns der König von Frankreich und sein Kardinal dazu getrieben bei unserm Erbfeinde billigere Hilfe zu suchen, die uns auch gewährt wurde. Gott weiß, was es uns gekostet hat unsere Freiheit unter Spaniens Schild zu stellen. –

Was wir von Euch verlangen und warum Ihr es uns gewähren werdet, das kann ich Euch mit wenigen Worten darlegen. Vor Eurer Rheinschanze strömt Bündens ganzer Landsturm zusammen. Die Regimenter rücken in Chur ein. Ich habe sie ihres Gehorsams gegen Euch entbunden und den Eid ihrer Treue den Häuptern unserer drei Bünde schwören lassen. Die Österreicher stehen am Luziensteig, die Spanier bei der Festung Fuentes, beide mit Übermacht. Auf ein Wort von mir überschreiten sie die Grenze. – Seht hier meine spanisch-österreichischen vom Kaiser selbst und vom Gubernatore Serbelloni unterzeichneten Vollmachten!« – und er entfaltete zwei Papiere. »Lecques kann Euch nicht befreien, denn bei seiner ersten Bewegung gegen die Alpenpässe rücken die Spanier von Fuentes her ins Veltlin. – Ihr seht, Euer Heer ist von allen Seiten eingeklemmt; nur Ihr könnt es Euerm Könige retten, und Ihr tut es, wenn Ihr dieses Übereinkommen unterzeichnet.« –

Jenatsch nahm ein drittes Papier aus der Hand des Bürgermeisters von Chur und las:


»›Die Rheinschanze und das Veltlin werden von den Franzosen geräumt.

Sie verlassen Bünden als Freunde und in kürzester Frist.

Der Herzog Heinrich Rohan, Pair von Frankreich und Generallieutenant der französischen Armee, bleibt als unser Bürge in Chur, bis zur Vollziehung dieses seines mit uns geschlossenen Übereinkommens.

Und dies Übereinkommen verspricht der erlauchte Herzog bei seiner Ehre auch dann in Treuen zu vollziehen, wenn Gegenbefehl vom französischen Hofe einträfe. –‹


So steht es. Wir haben nicht das Recht, erlauchter Herr, Eure Liebe zu Bünden anzurufen, denn wir haben uns ohne Euch und wider Euch geholfen. Aber bedenkt, daß Ihr, wenn Ihr den Vertrag nicht unterzeichnet, dieses Land, das gewohnt ist, Euch als seinen guten Engel zu verehren, durch Euren Widerstand in blutiges, unabsehbares Elend stürzt.« –[521]

Der Herzog nahm die Rolle nicht. Er wandte sich mit einer zornigen Träne ab, dann sagte er und seine Stimme bebte: »Ich habe schon vielen Undank erfahren – aber noch nie ist mir auf so bittere Weise mein Vertrauen mit Verrat und die von mir dem Rechte des Kleinen erwiesene Ehre mit Schlangenbissen und Schmach heimgezahlt worden. – Ich unterzeichne nicht. – So tief kann ich Frankreich und seinen Feldherrn unmöglich erniedrigen.«

Die Stille, die jetzt entstand, wurde durch einen Tumult vor der offen gebliebenen Türe unterbrochen. Durch das die Treppen füllende Volk drängte sich ein breitschultriger, rothaariger Kriegsmann und man hörte ihn dringend nach dem General Jenatsch fragen. Unwirsch rief ihm dieser entgegen: »Ihr stört hier, Hauptmann Gallus! Was gibt's?«

»Ich muß Eure Ordre haben«, rief die rohe Stimme. »Janetts Prätigauer wollen den neuen Eid nicht schwören. Sie meinen, Ihr verhandelt sie an die spanischen Pfaffen, und sagen, sie hätten Frankreich geschworen und gehorchten niemandem als dem Herzog.«

Jenatsch war vor Wut totenbleich geworden. Er warf den Kopf nach dem Sprechenden herum und schrie ihn heiser an: »Mein Regiment gegen sie vorgeführt! Erschießt sie alle!« Dann wandte er sich wieder dem Herzog zu und drohte, wie außer sich, mit erstickter Stimme: »Ihr Blut über Euch, Herzog Rohan!«

Der Herzog zuckte und stand eine Weile in schmerzlichem innern Kampfe. Endlich ergriff er mit zitternder Hand die auf dem Tische liegende Rolle, wandte sich und schritt der Türe seines Arbeitszimmers zu, die der ihm folgende Wertmüller fest hinter ihm verschloß.

Jenatsch kehrte sich, immer noch tief erblaßt, zu dem Bürgermeister. »Unsere Sache ist gewonnen«, sagte er. »Man muß dem Herzog Rohan Ruhe lassen. Entfernt die Leute. Ich stehe dafür, daß er unterschreibt.«

Dann befahl er dem Hauptmann Gallus, der unschlüssig stehen geblieben war: »Sagt dem Janett, seine tapferen Prätigauer sollen des Eides wegen unbehelligt bleiben. Der Herzog sei mit der Regierung der drei Bünde einverstanden und werde die Kompanie in kurzem seinen Willen wissen lassen.« – – –


Wenige Minuten waren verstrichen und die Gemächer des Herzogs hatten sich zu leeren angefangen, als die innere Türe sich[522] öffnete und Wertmüller mit dem von Rohan unterschriebenen Vertrage in der Hand erschien.

»Wer von den Herren hier hat gegenwärtig das Ding in Händen, das in Bünden mit dem unpassenden Namen ›gesetzliche Gewalt‹ bezeichnet wird?« fragte er schneidend und streckte dem Bürgermeister von Chur, der mit ernster Amtsmiene vortrat, die Bündens Los entscheidende Rolle entgegen mit einem Ausdrucke von verächtlicher Schärfe, dessen nur sein Gesicht fähig war.

Herr Fortunatus Sprecher, der gerade oben an der Treppe einige bündnerische Staatspersonen beglückwünschend wegkomplimentiert hatte, sah jetzt einen jungen Mann in Reisekleidern atemlos die Stufen hinaneilen, ergriff seine Hand und zog ihn beiseite, um ihm das Geschehene mit bedauernden Worten mitzuteilen Es war der längst erwartete und in diesem verhängnisvollen Augenblicke eben von Paris angelangte Priolo.

»Um Gott«, rief Priolo, »haltet mich nicht auf, Herr Doktor. Vielleicht ist es noch Zeit. Ich muß zum Herzog – der Vertrag von Chiavenna ist unterschrieben – alles und mehr gewährt! Nur schließt keinen Bund mit Spanien!« Und er durcheilte das Vorgemach.

Als ihn Jenatsch, der im Gespräche mit dem Bürgermeister stand, mit verstörtem Gesichte vorüberhasten sah, sagte er zu diesem mit bitterm Lächeln: »Der Kardinal glaubte sich des Schicksals bemächtigt zu haben, doch diesmal hat es ihn gefoppt.«

Meyer antwortete nicht, aber er umfaßte die Schicksalsrolle mit gefalteten Händen.


Eine Stunde später war es in den äußern Gemächern des Herzogs still und einsam geworden. Jenatsch allein schritt im Vorzimmer auf und nieder, die aus dem Geschehenen hervorbrechende Zukunft erwägend. Was ihn beunruhigte, war das Los seines Gefangenen, und er verweilte hier in der Hoffnung, das unlängst ihm so freundliche Antlitz noch einmal zu sehen. Daß Herzog Heinrich ein Sklave seines gegebenen Wortes sein werde, daran zweifelte der Verräter keinen Augenblick; aber es war ebenso gewiß, daß der Kardinal einen Haß werfen würde auf Rohan, das Werkzeug, dessen edler feiner Stahl zerbrochen war in seiner es mißbrauchenden Hand, und daß der Herzog Frankreich[523] nicht wieder betreten könne, ohne der Rache Richelieus zu verfallen. Jenatsch hätte ihn gerne vor dieser Rache sicher gewußt – aber wo? Welches war die Stätte, die dem Arme des Kardinals ihn entzog und die doch kein trostloses Exil für ihn war, das zu erwählen er sich weigern würde?

Er wartete vergebens. Der Herzog kam nicht und als endlich die Tür sich öffnete, war es der Adjutant Wertmüller, der, ein Schreiben in seine Brieftasche steckend, heraustrat und ohne Gruß an ihm vorüberschreiten wollte.

»Könnt Ihr mir nicht eine kurze Audienz bei dem Herzog verschaffen, Wertmüller? . . . In seinen eigenen Angelegenheiten«, fragte der Bündner.

»Damit verschont Ihr ihn besser«, versetzte der Locotenent. »Euer Anblick hat für ihn seinen Reiz verloren. Was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, so seid Ihr nicht der Mann, sie erfreulich zu ordnen. Er hat es eben selbst getan.«

»Er hat schon über seine Zukunft entschieden?« fragte Jenatsch gespannt. »Geht er nach Zürich oder Genf? dort könnte er in edler Muße seinen Studien leben.«

»Ein militärisches Handbuch schreiben, meint Ihr?« höhnte Wertmüller. »Nicht doch! In der Lage, die Ihr ihm so kunstvoll bereitet habt, bleibt für Herzog Rohan nur eines übrig: der Tod auf dem Schlachtfelde. Ihr begehrt zu wissen, wohin mein Herr sich wenden wird, wenn er aus Euern Judasarmen sich losgemacht hat, und ich will Euch nicht belügen – entgegen der Sitte, die von Euch hiezulande eingeführt wurde.

Ich überbringe ein Schreiben meines edlen Herrn an den Herzog Bernhard von Weimar, seinen Schwiegersohn, worin er sich zu gemeinem Reiterdienste im deutschen Heere anbietet. Kann ich Euch etwas an den Herzog Bernhard ausrichten? Besinn ich mich recht, so folgtet auch Ihr einst seiner Fahne. Er wird sich über Euch wundern. Noch heute reit ich ab und genieße so auch meinerseits zum letzten Male Euern Anblick. Wäre ich dessen nie teilhaft geworden! Besonders jenes Mal vor der Festung Fuentes nicht, als Ihr in gebührenden Ehren einherschrittet ... schon damals mit spanischem Gefolge! Manches stünde besser und Ihr wäret schon längst an Euern richtigen Platz erhöht.«

»Ihr reizt mich nicht«, sagte der andere finster. »Ich bin des Blutes satt und an Eurer persönlichen Achtung liegt mir nicht das mindeste. – Was ich für mein Land tue, versteht Ihr nicht. – Geht und sagt dem Herzog Bernhard«, schloß Jenatsch und[524] schritt, das Haupt übermütig zurückwerfend, dem Eingange zu, »er möge sich vorsehn, daß er sein Elsaß so glücklich den Krallen Frankreichs entwinde wie ich mein Bünden.«

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 518-525.
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