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[555] Zu dieser Stunde saß in seinem Hause zu Chur der Ritter Doktor Fortunatus Sprecher mit einem geehrten Gaste an der festlich besetzten Mittagstafel. Die erwärmte Stimmung der Tischgesellschaft und der solide Reichtum des Gemaches stand in behaglichem Widerspruche mit dem Unwetter draußen auf der Gasse, wo der rauschende Orkan den schmelzenden Schnee von den Dächern warf und mit ohnmächtiger Wut an den vergoldeten Eisengittern rüttelte, die in unten weit ausgebauchter Korbform die breiten Fenster von hellem Glase schützten.
Der mit Silber und venezianischen Kelchen besetzte Tisch nahm die Mitte des Zimmers ein. Der größte, ebenso reiche als heimatlich behagliche Schmuck dieser schönen Familienstube war ihr kunstreich geschnitztes Nußbaumgetäfel, das durch zierliche korinthische Holzsäulen in zwölf mit Trophäen gefüllte Felder geteilt war. Das oberste Gesimse wurde von Karyatiden in halber Figur getragen, zwischen welchen ein rings herumlaufender Holzfries die verschiedenen Szenen einer Jagd mit Schützen, Hunden und zum Teil fabelhaftem Getier in erhabener Arbeit darstellte, auf welches Werk der Doktor mit Recht besonders stolz war. Die Stelle des Deckengemäldes vertrat das kühngeschnitzte Wappen der Sprecher von Bernegg.
Die Ecke des Zimmers füllte, stattlich und kranzgekrönt, das[555] warme Gebäude des Kachelofens. Ein großartiger und zugleich kurzweiliger Anblick! Denn da entfaltete sich zwischen zartgefärbten Engeln und Fruchtschnüren in mehreren Bilderreihen die ganze Geschichte des Erzvaters Abraham. Die biblischen Szenen waren in violetten, gelben und blauen Umrissen und Schattierungen mit großem Fleiße auf die weißen Kacheln gemalt und durch daruntergesetzte geistreiche Reimsprüche erklärt und nutzbar gemacht.
Der Tischgenossen waren jetzt nur noch drei. Die jüngern Kinder des Hauses, welche das untere Ende der Tafel eingenommen und in bescheidener Stille ihr Essen stehend verzehrt hatten, waren beurlaubt worden. An dem Ehrenplatze, zwischen dem Hausherrn und seinem blonden Töchterlein, saß, als gefeierter Gast, der Herr Amtsbürgermeister Heinrich Waser. Heute am Tage der öffentlichen Überreichung der Friedensakte, wozu ihn seine den drei Bünden immer besonders gewogene Vaterstadt, die Republik Zürich, abgeordnet hatte, befand er sich in voller Amtstracht und im Schmucke seiner bürgermeisterlichen Kette. Die höchste Würde des Staates war ihm um seiner besonnenen Leistungen und mit berechneter Bescheidenheit nur nach und nach ans Licht gestellten Verdienste willen ungewöhnlich früh und neidlos zuteil geworden, denn er stand, frisch und lebenslustig, erst am Eingange der Vierzigerjahre. Ein Hauch von Jugendlichkeit schwebte auf seinen vom Gastmahle geröteten Zügen, deren frühere bewegliche Feinheit sich zum behäbigen Ausdrucke einer wohlwollenden, aber ans Schlaue streifenden Klugheit ausgeprägt hatte.
Heute sah er bewegt aus, besonders wenn er mit seiner Nachbarin sprach, deren Worten und Mienen er eine prüfende liebevolle Aufmerksamkeit schenkte. Ihr kindliches Köpfchen, das auf einem lichten Halse über dem blauen Tuchkleide und den von ihrer Mutter geerbten Holländerspitzen des durchsichtigen Flügelkragens schwebte, hatte für ihn etwas äußerst Anziehendes. Die weiche Rundung des hellen Gesichtes, der damit übereinstimmende sanfte Glanz ihrer unter langen blonden Wimpern und angenehm gelockten Haaren hervorleuchtenden Augen machten einen Eindruck von befriedigter Ruhe, welche Herrn Waser an die silberne Luna erinnerte, wie sie sich in den klaren Wassern des Zürchersees spiegelt. Immer sehnlicher wünschte er, dieses anmutige Gestirn möchte glückbringend an seinem Abendhimmel aufgehen.[556]
Obgleich des Doktors Lebensauffassung infolge seines galligen Temperamentes im ganzen eine trübe war, sah er dem unter seinen Augen sich vorbereitenden häuslichen Ereignisse nicht ohne väterliche Befriedigung entgegen. Aber seine Gedanken waren zerstreut. Herr Waser hatte ihm in allem Vertrauen vor der Mittagstafel eine Kunde mitgeteilt, mit welcher er Fräulein Amantia nicht vorzeitig, nicht heute betrüben wollte – die Kunde vom Tode des Herzogs Rohan. Ein deutsches Flugblatt, das denselben mit rührenden Worten beschrieb, war nach Zürich gelangt und Waser hatte es für seinen geschichtskundigen Freund mitgebracht.
Überdies beschäftigte diesen der jeden Augenblick erwartete Einzug des Triumphators in Chur, dessen Persönlichkeit ihm von jeher fremdartig und widerwärtig gewesen und dem er am wenigsten verzeihen konnte, daß er das Sprechersche Haus, eine Festung der Ehre, wie der Doktor früher mit Stolz zu sagen gewohnt war, durch Verrat befleckt hatte.
Doch sonderbar! Was der Bürgermeister dem Fräulein in dieser Stunde festlichen Zusammenseins noch verschweigen wollte, schien einen magnetischen Zug auf dessen ahnungsvolles Gemüt auszuüben, wenigstens kam Amantia heute in Gedanken und Worten von dem guten Herzog Heinrich Rohan nicht weg und konnte bei diesem Anlasse nicht umhin, auch seines tapfern Adjutanten mit Interesse sich zu erinnern.
Herr Waser ließ für seinen Mitbürger keine übertriebene Vorliebe blicken. Der Bravour und dem aufgeweckten, gebildeten Geiste Wertmüllers widerfuhr von seinem Munde Gerechtigkeit, aber er schüttelte bedenklich den Kopf über des Locotenenten schneidiges und den Widerspruch absichtlich reizendes Wesen, womit er seine Landsleute beunruhige und sich eine unangenehme Berühmtheit in seiner Vaterstadt zugezogen habe. So selten er in Zürich verweile, sei es ihm gelungen, durch seine Ausfälle gegen eine hohe Geistlichkeit Abscheu, durch sein hochmütiges Geringschätzen der in ihrer Art interessanten städtischen Angelegenheiten allgemeine Mißbilligung und durch allerlei physikalischen Hokuspokus, der ihn dem freilich törichten Verdachte der Zauberei aussetze, bei dem gemeinen Manne unheimliche Furcht zu erregen. So habe er sich in Zürich den Weg verrammelt und das Zutrauen einer löblichen Bürgerschaft in alle Zukunft verscherzt, welches doch, nebst einem reinen Gewissen, die Lebensluft des echten Republikaners sei. – »Das Schlimmste aber[557] an dem jungen Manne«, schloß der mehr als billig erregte Bürgermeister, »ist sein Mangel an aller und jeder Pietät – denn, ich bitt Euch, innig verehrte – dürft ich sagen innig geliebte! – Jungfer Sprecherin, was ist alles Wissen und Können der Welt ohne die Grundlage eines religiösen Gemütes!«
»Was mir den Locotenenten wert machte«, sagte Fräulein Amantia fast beschämt, »war seine Treue an dem edlen Herzog Heinrich. Da hat er sich als echten Kavalier gezeigt neben dem Verräter Georg Jenatsch, der mir trotz seines gewinnenden Wesens immer wie ein böser Geist vorkam, wenn er über unsere Treppen zum Herzog hinaufsprang.«
»Ein schwer zu beurteilender Charakter«, sagte der zürcherische Bürgermeister, indem er, in einen traurig ernsten Ton übergehend, sich an Herrn Fortunatus wandte. »In einem Stücke wenigstens überragt Georg Jenatsch unsere größten Zeitgenossen – in seiner übermächtigen Vaterlandsliebe. Wie ich ihn kenne, so strömt sie ihm wie das Blut durch die Adern. Sie ist der einzige überall passende Schlüssel zu seinem vielgestaltigen Wesen. Ich muß zugeben, er hat ihr mehr geopfert, als ein aufrechtes Gewissen verantworten kann. Aber«, fuhr er zögernd und mit gedämpfter Stimme fort, »ist es nicht ein Glück für uns ehrenhafte Staatsleute, wenn zum Heile des Vaterlandes notwendige Taten, die von reinen Händen nicht vollbracht werden können, von solchen gesetzlosen Kraftmenschen übernommen werden – die dann der allwissende Gott in seiner Gerechtigkeit richten mag. Denn auch sie sind seine Werkzeuge – wie geschrieben steht: Er lenkt die Herzen der Menschen wie Wasserbäche.«
»Das ist ein seltsam gefährlicher Satz«, rief Herr Fortunatus entrüstet, »den ich erstaunt bin, unter den Betrachtungen und Maximen Eurer Gestrengen zu finden! Damit ist man auf geradem Wege, die schlimmsten Verbrechen zu rechtfertigen. Bedenkt, wie leicht solch ein gesetz- und gewissenloser Mensch, einmal in seine unberechenbare Bahn geschleudert und von seinen Leidenschaften wie von einem Orkan getrieben, sein eigen gelungen Werk zerstört. Wißt Ihr, wohin es schon mit Jürg Jenatsch gekommen ist? Ich erfahre aus zuverlässigen Quellen, daß er bei den Verhandlungen in Malland dem an seinen Vorschlägen mäkelnden Herzog Serbelloni wie ein Rasender gedroht hat, er rufe die Franzosen wieder nach Bünden, wenn Spanien nicht seinen Willen tue, ja, daß er, um den Beichtvater Seiner hispanischen[558] Majestät zu gewinnen – denn er wollte einen andern Einfluß gegen den Serbellonis zu Madrid in die Waagschale werfen – seinen angestammten evangelischen Glauben freventlich abgeschworen hat.«
»Da sei Gott vor«, sagte der Bürgermeister aufrichtig erschrocken.
»Und was fängt unser kleines Land mit diesem jetzt müßig gewordenen und an Taten noch ungesättigten Menschen an«, fuhr Sprecher fort, »der unsern engen Verhältnissen entwachsen und von seinen beispiellosen Erfolgen trunken ist bis zum Wahnsinn? – In den Pausen seiner Unterhandlungen zu Mailand hat er in unserer Grafschaft Chiavenna, wo er sich von den drei Bünden zum Lohne seines Verrats an Herzog Heinrich die ganze Zivil- und Militärgewalt unumschränkt übertragen ließ, gewirtschaftet wie ein ausschweifender Nero und einen mehr als fürstlichen Hofhalt geführt. Ich könnte Euch manches davon erzählen, denn ich verzeichne seine Taten allwöchentlich mit dem scharfen Griffel der Klio, dessen Spitze ich übrigens zu niemandes Gunsten abstumpfen würde, nicht einmal zugunsten eines Sohnes oder – Schwiegersohnes«, schloß Herr Fortunatus mit trübem Lächeln.
»Gott genade uns, welch ein Unwetter!« rief Fräulein Amantia, unter diesem Schreckensruf ein zartes Erröten verbergend, und wirklich hatte sich der Sturm draußen verdoppelt und seine Stöße, welche die Gitterverzierungen am Fenster wegzureißen drohten, ließen das feste Haus erbeben und die Gläser auf der Tafel leise klingen. Es öffnete sich die Tür, eine erschrockene Magd erschien und berichtete, der alte Glockenturm zu Sankt Luzi sei, nachdem man ihn einige Male habe schwanken sehen, in dem Unwetter krachend zusammengestürzt, gerade als der Oberst Jenatsch mit seinem Gefolge durch das Tor eingeritten.
»Das ist nicht ohne Bedeutung«, sagte ernst Herr Fortunatus, während die Männer ans Fenster traten. »Wir wissen aus Tito Livio und haben auch hier die Erfahrung öfter gemacht, daß die Natur mit der Geschichte in geheimem Zusammenhange steht, große Begebenheiten vorausfühlt und mit ihren Schrecknissen ankündigt und begleitet.«
Unter andern Umständen hätte wohl der Bürgermeister diese abergläubische Bemerkung mit einem feinen Lächeln beantwortet, diesmal aber konnte er sich eines peinlichen Eindrucks nicht[559] erwehren. Das Zusammenstürzen des Luzienturmes erinnerte ihn an die dem Veltlinermord vorhergehenden Tage seines Aufenthaltes in Berbenn, an die damaligen Zeichen und Wunder und an den blutigen Tod der schönen Lucia.
Der Sturm schien sich ausgetobt zu haben, aber die Luft war feucht und schwer und dunkle Wolken hingen tief herab. Die Gasse hatte sich mit geringem Volke von zerzaustem und verstörtem Aussehen gefüllt. Jetzt sprengte ein Reiter um die Ecke in juwelenglänzender roter Tracht und wehendem Mantel, den Hut mit den flatternden Federn fest in die Stirn gedrückt. Es war Jürg Jenatsch, der seinen unruhigen Rappen hart vor dem Sprecherschen Hause bändigte und sich nach seinem Ehrengeleit umsah, das, vom Sturme aufgehalten, eine Straßenlänge hinter dem Voranjagenden zurückgeblieben war.
Waser konnte seinen Blick von der Erscheinung des Jugendfreundes nicht verwenden. Er hing wie gebannt an dem starren Ausdrucke des metallbraunen Angesichts. Auf den großen Zügen lag gleichgültiger Trotz, der nach Himmel und Hölle, nach Tod und Gericht nichts mehr fragte. Das Auge blickte fremd über den erreichten Triumph hinweg – welches unbekannte Ziel ergreifend? . . . Und wieder tauchte dem Bürgermeister eine alte Erinnerung auf: der Brand von Berbenn. Er sah Jürg, die schöne Leiche in den Armen, mit jenem aus Glut und Kälte gemischten Ausdrucke, den er nie hatte vergessen können. Wie kommt es, fragte er sich, daß Jürg heute auf dem Gipfel des Ruhmes geradeso dreinschaut wie damals in der Tiefe des Elends?
»Seht einmal«, flüsterte Sprecher durch die gleichgültige Haltung des ihn nicht beachtenden Reiters gereizt, »der Abtrünnige trägt die Ordenskette St. Jacobi von Compostella!«
Waser antwortete nicht, denn ihm zu Häupten ertönte – eine Seltenheit zu Anfang des Frühjahrs – dumpfes Donnerrollen und jäh zerriß ein falber Blitz die niederhangenden Wolken.
»Der Strahl des Gerichts!« murmelte Sprecher erbleichend.
Auch Waser glaubte, Feuer vom Himmel habe den Trotzigen getroffen; aber als seine geblendeten Augen wieder aufblickten, saß Jenatsch unbewegt auf dem sich bäumenden, stampfenden Rappen. Er zwang sein Tier mit fester Hand. Er allein schien Blitz und Donner nicht bemerkt zu haben.
Waser verweilte nicht mehr lange. Es drängte ihn, Jürg aufzusuchen, um den peinigenden Eindruck, den dieser aus der Ferne auf ihn gemacht, durch ein paar freundschaftliche Worte[560] von Mund zu Munde zu brechen. Dies gedachte er noch vor der feierlichen Ratssitzung zu tun. Sprechers Stimmung gegen Jenatsch konnte, war seine Befürchtung, in Bünden eine verbreitete sein. Ich will ihn beschwören, sagte sich Waser, daß er sich bescheide und, nachdem er das Friedensdokument dem Rate übergeben und so den Höhepunkt seiner ruhmvollen Bahn erreicht hat, sich eine Weile zurückziehe, um den Neid der Götter und der Menschen nicht zu reizen. Er möge, wollte Waser ihm andeuten, seine kriegerische Laufbahn im Auslande fortsetzen, oder den Versuch machen, ob es ihm gelinge durch Begründung eines häuslichen Herdes auf seinen Gütern in Davos seine unruhige Seele auf stillere Wege zu führen.
Von Herrn Fortunatus unter die Hauspforte geleitet, hatte sich Waser bei diesem erkundigt, wo Jenatsch absteige, und der Ritter in bitterm Tone geantwortet: »Wie könnt Ihr fragen, verehrter Freund? Natürlich im bischöflichen Hof.«
Als der Bürgermeister von einem Diener geleitet durch die hallenden Gänge der bischöflichen Residenz schritt, tönte ihm durch eine Türe zur Rechten die wohlbekannte Stimme seines Freundes in heftiger Erregung entgegen. Sie war im Zwiegespräch, um nicht zu sagen im Wortwechsel, mit einer andern etwas fetten und schwerfälligen. Er wurde von dem bischöflichen Kammerdiener in ein gegenüberliegendes Zimmer geführt und dieser ging ihn anzumelden. Die fernen Stimmen wurden unhörbar, kurz darauf aber wurde eine Tür im Gange aufgerissen. Es war Jenatsch, der Urlaub nahm.
»Macht Euch keine Rechnung darauf, Gnaden«, hörte Waser ihn auf dem Gange draußen mit heiserer fast schreiender Stimme zurückreden. »Daraus wird nichts! Ich will keine hergestellten Klöster im Lande! Ich dulde keine geistlichen Übergriffe!«
»An diesem Eurem Ehrentage, Herr Oberst«, beruhigte man von innen mit salbungsvollem Tone, »will ich Euch mit unsern bescheidenen Wünschen nicht belästigen, bin ich doch gewiß, daß unsere kleinen Meinungsverschiedenheiten sich mit der Zeit von selbst ausgleichen werden, jetzt, da Ihr im Glauben wiedergeboren und aus einem Saulus ein Paulus geworden seid.« –
Die Zimmertür flog auf und Jürg schritt seinem Jugendfreunde mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er faßte ihn an beiden Schultern: »Auch einer, der sein Ziel erreicht hat!« sagte er[561] mit dem alten, fröhlichen Lachen. »Ich gratuliere, Herr Bürgermeister!«
»Es ist mir eine besondere Freude«, erwiderte Waser, »daß ich, kaum mit meiner neuen Würde bekleidet, von meinen gnädigen Herren zu deinem Triumphe nach Chur abgeordnet bin. Du hast, ich muß es dir sagen, das Unerhörte getan, und das Unmögliche erreicht.«
»Wenn du wüßtest, Heini, um welchen Preis und mit welchen Verrenkungen meines Wesens! Noch in den letzten Augenblicken wollten sie meine Heimat um das von mir Erraffte betrügen. – Da habe ich die letzte Karte ausgespielt – eine schmutzige Karte ... puh! Aber ich drängte vorwärts, vorwärts, damit der Fieberschauer meine Leben nicht ohne Frucht bleibe, nicht umsonst sei.
Nun bin ich am Ziele und gern möcht ich sagen: Ich bin müde! wäre nicht ein Dämon in mich gefahren, der mich vorwärts ins Unbekannte, ins Leere peitscht.«
»Mit jenem letzten unsaubern Mittel«, sagte Waser bang und nur an einem Gedanken haftend, »meinst du doch nicht den Abfall von unserm helvetisch-reformierten Glauben zum Papismus? . . . das wird nicht, kann nicht sein!«
»Und ist es«, rief der andere mit frevler Heiterkeit, »so hab ich eine Fratze gegen eine Fratze getauscht!«
»Du hast in Zürich Gottesgelahrtheit studiert ...« sagte Waser erschüttert, wandte sich ab und bedeckte das Angesicht mit beiden Händen. Schwere Tränen rannen durch seine Finger.
Da schlug Jenatsch den Arm um ihn und sagte in einem zornmütigen Humor: »Flenne mir nicht wie ein Weib, Bürgermeister! Was ist denn da Besonderes? Da habe ich ganz andere Dinge auf meinem soliden Gewissen!« ... Dann plötzlich den Ton wechselnd, fragte er dringend: »Was habt ihr denn in Zürich für Bericht von der bei Rheinfelden von Herzog Bernhard den Kaiserlichen gelieferten Schlacht? Ich weiß noch nichts Näheres«, fügte er bei, »in Thusis hieß es, Rohan sei leicht verwundet.«
Waser versetzte mit unsicherer Stimme: »Sein Zustand war gefährlicher, als man anfangs glaubte« ... hier hielt er inne.
»Heraus mit der Sprache, Heinrich«, rief Jenatsch rauh, »er ist gestorben?« Und es ging wie ein grauer Todesschatten über sein Antlitz.
In diesem Augenblicke ertönte – Herrn Waser sehr unwillkommen, der noch gern seinen Freund gewarnt und sein eigenes[562] Gemüt in ruhigem Gespräch mit ihm erleichtert hätte – die Glocke, welche die beiden auf das Rathaus rief.
Jenatsch ergriff die Rolle, welche Bündens Rettung enthielt, hob sie gegen Waser empor und rief: »Teuer erkauft!«
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Jürg Jenatsch
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