Dritter Teil

Vorrede

(1786)


Mit dem Schluß dieses Teils heben sich Anton Reisers Wanderungen und mit ihnen der eigentliche Roman seines Lebens an. Das in diesem Teil Enthaltne ist eine getreue Darstellung der Szenen seiner Jünglingsjahre, welche andern, denen diese unschätzbare Zeit noch nicht entschlüpft ist, vielleicht zur Lehre und Warnung dienen kann. Vielleicht enthält auch diese Darstellung manche nicht ganz unnütze Winke für Lehrer und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen könnten, in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer und in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein![205]


Auf diese Weise brachte er zwölf schreckliche Wochen seines Lebens zu, bis ihn endlich der Pastor Marquard durch die dritte Hand selbst wissen ließ, daß er sich seiner wieder annehmen wolle, sobald er sich zur ernstlichen Abbitte und Reue über sein Betragen bequemte.

Dies erweichte endlich sein Herz, da er überdem seines hartnäckigen Trotzes und des darauffolgenden langwierigen Elendes müde war. Er setzte sich hin und schrieb einen langen Brief an den Pastor Marquard, worin er sich selbst mit der größten Erbitterung gegen sich herabsetzte – sich als den unwürdigsten Menschen schilderte, den je die Sonne beschienen habe – – und sich kein besser Schicksal prophezeite, als daß er dereinst vor Armut und Dürftigkeit unter freiem Himmel das Ende seines Lebens finden würde – – Kurz, dieser Brief war in den überspanntesten Ausdrücken der Selbstverachtung und Selbstherabwürdigung, die man sich nur denken kann, abgefaßt und war doch nichts weniger als Heuchelei. –

Reiser hielt sich wirklich damals für ein Ungeheuer von Bosheit und Undankbarkeit und schrieb den ganzen Brief an den Pastor Marquard mit einer Erbitterung gegen sich selbst nieder, wie sie vielleicht nur bei irgendeinem Menschen möglich ist – – er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen, sondern sich noch immer mehr anzuklagen. –

Indes sahe er doch so viel ein, daß die Wut, Romanen und Komödien zu lesen und zu sehen, die nächste Veranlassung seines gegenwärtigen Zustandes war – aber wodurch ihm das Lesen von Romanen und Komödien zu einem so notwendigen Bedürfnis geworden war – alle die Schmach und die Verachtung, wodurch er schon von seiner Kindheit aus der wirklichen in eine idealische Welt verdrängt worden war – darauf zurückzugehen hatte seine Denkkraft damals noch nicht Stärke genug, darum machte er sich nun selbst unbilligere Vorwürfe, als ihm vielleicht irgendein anderer würde gemacht haben – in manchen Stunden verachtete er sich nicht nur, sondern er haßte und verabscheuete sich. –

Die Beichte, welche er daher dem Pastor Marquard in dem an ihn[207] gerichteten Briefe ablegte, war schrecklich und einzig in ihrer Art – so daß der Pastor Marquard erstaunte, da er sie las – denn vielleicht war ihm in seinem Leben nie so gebeichtet worden. –

Da Reiser diesen Brief abgegeben hatte, so wartete er nur darauf, wann er bei dem Pastor Marquard würde vorgelassen werden; und es wurde ihm ein Tag bestimmt, welchem er nun mit sonderbaren, vermischten Empfindungen von Furcht und Hoffnung und resignierter Verzweiflung entgegensahe. –

Er hatte sich dabei auf eine sehr theatralische Szene gefaßt gemacht, die ihm aber gänzlich mißlang. – Er wollte nämlich dem Pastor Marquard zu Füßen fallen und seinen ganzen Zorn auf sich herab erbitten. – Die ganze Anrede an ihn hatte er sich schon in seinen Gedanken entworfen, und nun trug er sich beständig mit dieser Idee herum, wo er ging und stund; bis zu dem Tage, wo er bei dem Pastor Marquard sollte vorgelassen werden. –

Allein während der Zeit ereignete sich für ihn ein höchst verdrießlicher Umstand. – Sein Vater hatte von seinem Zustande gehört und war nach Hannover herübergekommen, um Fürbitte für ihn einzulegen, welches Reisern deswegen höchst unangenehm war, weil er keiner fremden Fürsprache zu bedürfen glaubte, sondern sich selbst schon für fähig genug hielt, durch seine affektvolle Anrede, die er sich erlernt hatte, das Herz des Pastor Marquard zu rühren. –

Endlich erwachte er zu dem wichtigen Tage, wo er den Pastor Marquard sprechen sollte – – und seine Phantasie ging nun mit lauter großen Dingen schwanger – wie er voll Reue und Verzweiflung sich dem Pastor Marquard zu Füßen werfen – und dieser ihn dann gerührt aufheben – und ihm verzeihen würde. –

Und da er nun endlich in das Haus des Pastor Marquard kam und sich diesem so lange vorbereiteten Auftritte mit schauervoller Sehnsucht näherte; indem er draußen wartete, bis man ihn hereinrufen würde, kam endlich der Bediente heraus und sagte ihm, er solle nur hereinkommen, sein Vater sei schon bei dem Pastor Marquard.

Diese Nachricht war ein Donnerschlag für ihn – er stand eine Weile wie betäubt da – in dem Augenblick scheiterte sein ganzer[208] Plan – er wollte den Pastor Marquard ohne Zeugen sprechen denn nur ohne Zeugen fühlte er sich imstande, die ganze Szene mit dem Niederknieen vor dem Pastor Marquard und der rührenden und pathetischen Anrede an ihn zu spielen. – In Gegenwart eines Dritten und vorzüglich in Gegenwart seines Vaters vor dem Pastor Marquard niederzuknieen, war ihm unmöglich. –

Er schickte den Bedienten wieder herein und ließ sagen, er müßte den Pastor Marquard notwendig allein sprechen. – Dies Gespräch wurde ihm abgeschlagen, und statt der glänzenden und rührenden Szene, die er zu spielen dachte, mußte er nun, indem er hereintrat, ohne ein einziges Wort von seiner ganzen längstentworfenen Anrede vorbringen zu können, durch die Gegenwart seines Vaters bis zur Verachtung gedemütigt, wie ein Missetäter dastehen. –

Es bemächtigte sich seiner hiebei ein Gefühl, das er in seinem Leben noch nicht gekannt hatte – seinen Vater neben sich in bittender Stellung vor dem Pastor Marquard stehen zu sehen, war ihm unerträglich – alles in der Welt hätte er darum gegeben, daß dieser in dem Augenblick hundert Meilen weit entfernt gewesen wäre. –

Er fühlte sich in seinem Vater doppelt gedemütigt und beschämt – und dann kam der Verdruß dazu, daß ihm die ganze Fußfallszene mißlungen war – alles ging nun so kalt, so gemein, so gewöhnlich zu – – Reiser stand so unausgezeichnet wie ein ganz gemeiner, alltäglicher Bösewicht da, dem man über sein Betragen die verdienten Vorwürfe macht – und er wollte sich doch selbst als einen recht großen Bösewicht schildern und selbst die härteste Strafe für sein Verbrechen nun auf sich herab erbitten. –

Allein kein Zufall in seinem Leben fügte sich vielleicht mehr zu seinem wahren Vorteil als eben dieser. – Wäre es ihm diesmal mit der angelegten Szene gelungen, wer weiß, wozu er in der Folge noch geschritten, und was für Rollen er würde gespielt haben. Vielleicht war dies eben der entscheidende Augenblick, wo sein Schicksal, ob er ein Heuchler und Spitzbube werden oder ein aufrichtiger und ehrlicher Mensch bleiben sollte, auf der Spitze stand. –

Die ganze Fußfallszene wäre doch im Grunde, obgleich nicht[209] offenbare Heuchelei und Verstellung, doch wenigstens Affektation gewesen, und der Übergang von der Affektation zur Heuchelei und Verstellung, wie leicht ist der! –

Es war gewiß eine wahre Wohltat für Reisern, daß der Pastor Marquard alle die überspannten Ausdrücke in seinem Briefe keiner Aufmerksamkeit würdigte und, statt dadurch gerührt zu sein, sie lächerlich fand und sie für die unreife Geburt einer durch Romanen und Komödienlektüre erhitzten Phantasie erklärte; mit dem Beifügen, wenn Reiser wirklich so ein Bösewicht wäre, als er sich in dem Briefe geschildert hätte, so würde er sich nicht das mindeste mehr um ihn bekümmern, sondern ihn als ein Ungeheuer verabscheuen. –

Und statt sich nun weiter in Erklärungen einzulassen, daß ihm das Vergangene verziehen sein solle, wenn er künftig sich anders betrüge und dergleichen, kam der Pastor Marquard auf eine gar nicht empfindsame Art sogleich auf Reisers zerrissene Schuhe und Strümpfe und auf die Schulden, die er gemacht hatte, und wie diese nun bezahlt und seine zerrissenen Kleidungsstücke wieder hergestellt wurden sollten. – Nicht einmal zu feierlicher Angelobung künftiger Besserung oder so etwas Rührendem ließ er Reisern kommen. – Sein ganzes Benehmen gegen ihn, ob er sich gleich seiner nun wieder annahm, war rauh und hart – aber eben dies rauhe und harte Betragen war es, was Reisern aus seinem Schlummer weckte und ihn aus seiner idealischen Romanen und Komödienwelt wieder in die wirkliche Welt versetzte, insbesondere, da ihm sein Roman, den er mit dem Pastor Marquard zu spielen gedachte, mißlungen war und er doch nun auch wieder aus seinem schrecklichen Zustande durch keine leere Phantasie, ein Bauer zu werden und dergleichen, sondern wirklich herausgerissen werden sollte. –

Unzählige gute Vorsätze und Entschließungen drängten sich nun mit dieser Wendung seines Schicksals in seiner Seele wieder empor, die mißlungene Fußfallszene schmerzte ihn zwar noch immer; endlich aber söhnte er sich auch darüber mit dem Schicksal aus – und so fing nun eine neue Epoche seines Lebens an. –

Er zog von dem Bürstenbinder aus und wurde bei einem Schneider[210] eingemietet, bei dem er in derselben Stube wohnen und auf dem Boden schlafen mußte. – Die Frau Filter und der Hofmusikus, welche in demselben Hause wohnten, nahmen sich seiner wieder an, indem sie ihm wöchentlich einmal zu essen gaben. –

Die Frau Filter ließ ihn das kleine Mädchen, welches sie bei sich hatte, im Schreiben und im Katechismus unterrichten – er besuchte die Schule wieder regelmäßig, man schöpfte wieder neue Hoffnung von ihm – selbst der Prinz ließ ihn zu sich kommen und sprach ihn in Gegenwart des Pastor Marquard, der das Geld zu seiner Unterstützung vom Prinzen für ihn in Empfang nahm und damit seine Schulden tilgte.

So ging nun alles wieder so weit gut – und er fing nun an wieder fleißig zu sein – obgleich seine äußere Situation auch hier seinem Studieren eben nicht zu günstig war – denn in der Stube des Schneiders hatte er nichts wie sein angewiesenes Plätzchen, wo sein Klavier stand, das ihm zugleich zum Tische diente, und unter welchem er zugleich seine ganze Bibliothek in ein kleines Bücherbrett aufgestellt hatte. – Wenn er nun für sich las und arbeitete, so konnte er um sich her nicht Stille gebieten; und solange der Winter dauerte, war er doch genötigt, in der Stube seines Wirts zu bleiben – im Sommer zog er mit seinem Klavier und Büchern auf den Boden, wo er schlief und einsam und ungestört war. –

Er war kaum einige Wochen aus seinem vorigen Logis und von seinen vorigen Stubengesellschaftern G ... und M ... weggezogen, so ereignete sich ein fürchterlicher Vorfall, der ihn die Größe und Nähe der Gefahr, in welcher er geschwebt hatte, sehr lebhaft empfinden ließ. –

G ... wurde nämlich eines Tages, da er im Chore sang, auf öffentlicher Straße in Verhaft genommen und sogleich geschlossen in eines der tiefsten Gefängnisse auf dem ... Tore gebracht, welches nur für die ärgsten Missetäter bestimmt ist. –

Reisern ergriff Beben und Entsetzen, da er ihn hinführen sahe – und was das sonderbarste war, so machte der Gedanke, man möchte ihn etwa für einen Mitschuldigen des noch unbekannten Verbrechens seines ehemaligen Stubengesellschafters halten, daß sich gerade solche Merkmale der Scham und Verwirrung bei ihm[211] äußerten, als wenn er wirklich ein Mitschuldiger gewesen wäre so daß seine Angst beinahe so groß wurde, als ob er wirklich selbst ein Verbrechen begangen hätte. Dies war eine natürliche Folge seines von Kindheit an unterdrückten Selbstgefühls, das damals nicht stark genug war, den Urteilen anderer von ihm zu widerstehen – hätte ihn jedermann für einen offenbaren Verbrecher gehalten, so würde er sich zuletzt vielleicht auch dafür gehalten haben. –

Endlich kam es denn heraus, daß sein ehemaliger Stubengesellschafter G ... einen Kirchenraub begangen, Tressen von Altardecken bei der Nacht entwendet und, um die in den Stühlen verwahrten mit Silber beschlagenen Gesangbücher zu stehlen, sogar Schlösser aufgebrochen hatte.

Das waren denn die Projekte gewesen, auf welche er ganze Tage hindurch auf dem Bette liegend gesonnen und gegrübelt hatte.

Den eigentlichen Kirchenraub aber hatte er erst verübt, nachdem Reiser schon von ihm weggegangen war, ob er gleich vorher sich schon verschiedener Diebereien schuldig gemacht hatte.

Auf sein Verbrechen stand nun eigentlich der Strang – und Reisern wandelte immer die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal an, sooft er dachte, wie nahe er diesem Menschen gewesen war, und wie leicht er stufenweise von ihm zu einem Wagstück nach dem andern hätte verführt werden können, da mit der Expedition auf der Kirscheninsel schon ein so heroischer Anfang gemacht worden war. – Reiser würde in dem nächtlichen Kirchenraube immer auch mehr Heroisches als Niederträchtiges gefunden haben, und es würde G ... vielleicht nicht schwerer geworden sein, ihn zur Teilnehmung an einer solchen Expedition als zu der auf der Kirscheninsel zu bereden.

Wer weiß, ob nicht auch diese Reflexion oder dies dunkle Bewußtsein mit zu Reisers Verwirrung beitrug, sooft von G ... gesprochen wurde – es deuchte ihm nur noch ein so kleiner Schritt zwischen ihm und dem Verbrechen, zu dem er hätte verleitet werden können, daß es ihm ging wie einem, dem vor einem Abgrunde schwindelt, von welchem er noch weit genug entfernt ist, um nicht hereinzustürzen, der sich aber dennoch selbst durch[212] seine Furcht unaufhaltsam hingezogen fühlt und schon in dem Abgrunde zu versinken glaubt. –

Die leichte Möglichkeit, an G ...s Verbrechen teilzunehmen, welche Reiser bei sich empfand, erweckte bei ihm fast ein ähnliches Gefühl, als ob er wirklich daran teilgenommen hätte, woraus sich also seine Angst und Verwirrung sehr gut erklären läßt.

Indes kam es mit G ... so weit nicht, daß er gehangen wurde, sondern nachdem er einige Monate im Gefängnis gesessen hatte, ward sein Urteil dahin gemildert, daß er über die Grenze gebracht und des Landes verwiesen wurde. – Reiser hat von seinem Schicksale nachher nichts weiter erfahren können. – So endigte es sich also mit dem eigentlichen sterbenden Sokrates, von welchem Reiser so lange den Spottnamen tragen mußte, da er doch nicht den sterbenden Sokrates selbst, sondern nur einen unbedeutenden Freund desselben vorgestellt hatte, der nicht viel mehr tat, als daß er in einem Winkel stand und weinte, indes der sterbende Sokrates zur Rührung aller Zuschauer den Giftbecher trinken und sich auf dem Todbette noch in dem glänzendsten Lichte zeigen konnte.

Reiser hatte damals schon seit länger als einem Jahre angefangen, sich ein Tagebuch zu machen, worin er alles, was ihm begegnete, aufschrieb. – Dies Tagebuch geriet denn ziemlich sonderbar, weil er keinen einzigen Umstand seines Lebens und keinen einzigen von den Vorfallenheiten des Tages, er mochte so unbedeutend sein, wie er wollte, darin ausließ. – Da er nun nur lauter wirkliche Begebenheiten und seine Phantasien, die er den Tag über hatte, nicht mit aufschrieb, so mußten die Erzählungen von den Begebenheiten des Tages ebenso kahl und abgeschmackt und ohne alles Interesse sein, wie diese Begebenheiten selbst waren. Reiser lebte im Grunde immer ein doppeltes, ganz voneinander verschiedenes inneres und äußeres Leben, und sein Tagebuch schilderte gerade den äußern Teil desselben, der gar nicht der Mühe wert war, aufgezeichnet zu werden. – Den Einfluß der äußern – würklichen Vorfälle auf den innern Zustand seines Gemüts zu beobachten, verstand Reiser damals noch nicht; seine[213] Aufmerksamkeit auf sich selbst hatte noch nicht die gehörige Richtung erhalten. –

Indes verbesserte sich doch sein Tagebuch mit der Zeit, indem er anfing, nicht nur seine Begebenheiten, sondern auch seine Vorsätze und Entschließungen darin aufzuzeichnen, um nach einiger Zeit zu sehen, was er davon in Erfüllung gebracht hatte. – Er machte sich schon damals selber Gesetze, die er in seinem Tagebuche aufschrieb, um sie in Erfüllung zu bringen. – Auch tat er sich selbst zuweilen feierliche Gelübde, z.B. früh aufzustehen, den Tag seine Stunden ordentlich einzuteilen und dergleichen mehr. –

Aber es war sonderbar – gerade die feierlichsten Vorsätze, welche er faßte, pflegten gemeiniglich am spätesten und kältesten in Erfüllung zu gehen – wenn es zur Ausführung im kleinen kam, so war das Feuer der Phantasie erloschen, womit er sich die Sache im ganzen und mit allen ihren angenehmen Folgen zusammengenommen gedacht hatte – wenn er sich hingegen alles schlechtweg und ohne allen Prunk und Feierlichkeit vornahm, so ging die Ausführung oft weit eher und besser vonstatten. –

An guten Vorsätzen war er unerschöpflich. – Dies machte ihn aber auch beständig mit sich selber unzufrieden, weil der guten Vorsätze zu viele waren, als daß er sich selber jemals hätte ein Genüge tun können. –

Drei Tage, wo er einmal ununterbrochen mit sich zufrieden gewesen war, zeichnete er als eine große Merkwürdigkeit in seinem Leben auf, welche es auch wirklich für ihn war – denn diese drei Tage waren, fast so lange er denken konnte, die einzigen in ihrer Art. – Es war aber gerade diese drei Tage über ein glücklicher Zusammenfluß von Umständen, heiteres Wetter, gesundes Blut, freundliche Gesichter bei denen Personen, zu denen er kam, und wer weiß was mehr, wodurch ihm die Ausführung seiner guten Vorsätze nun merklich erleichtert wurde. –

Er nahm übrigens zu allerlei Mitteln seine Zuflucht, um sich fromm und tugendhaft zu erhalten. – Vorzüglich suchte er alle Morgen edle und gute Gesinnungen in sich zu erwecken, indem er Popens allgemeines Gebet, das er sich englisch aufgeschrieben[214] und auswendig gelernt hatte, hersagte und wirklich, sooft er es sagte, dadurch gerührt und zu guten Vorsätzen und Entschließungen aufs neue belebt wurde. – Dann hatte er eine Anzahl Lebensregeln aus einem Buche ausgeschrieben, die er des Tages über zu gewissen bestimmten Zeiten las – und ein paar Chorarien, welche etwas zur Tugend und Frömmigkeit vorzüglich Aufmunterndes hatten, wurden ebenfalls täglich zu bestimmten Stunden sehr gewissenhaft von ihm gesungen. –

Wären nun hiebei seine äußern Verhältnisse nur etwas günstiger und aufmunternder geworden, so hätte Reiser mit diesen Vorsätzen und Bestrebungen, die doch bei einem jungen Menschen in seinem Alter (er war damals etwas über sechszehn Jahr) wohl sehr selten sind, ein Muster von Tugend werden müssen.

Aber dies war es, was ihn immer wieder niederschlug, die Meinung der Menschen von ihm, welche er mit Gewalt nicht umändern konnte, und die doch ohnerachtet aller seiner Bestrebungen, ein beßrer Mensch zu werden, sich nicht ganz wieder zu seinem Vorteil lenken wollte – er schien es nun einmal zu sehr verdorben und zu sehr die Erwartung aller von ihm getäuscht zu haben, als daß er sich je die vorige Achtung und Liebe der Menschen hätte wieder erwerben können. –

Insbesondre war ein Verdacht auf ihn gefallen, der ihn sehr unverdienterweise traf – dies war der Verdacht der Lüderlichkeit, weil er bei einem so lüderlichen Menschen, wie G ... war, gewohnt hatte. – Reiser war so weit hievon entfernt, daß ihm drei Jahre nachher, da er zufälligerweise ein anatomisches Buch zu sehen bekam, über gewisse Dinge ein Licht aufging, wovon damals seine Begriffe noch sehr dunkel und verworren waren.

Sein Lesen aber bei dem Bücherantiquarius und sein Komödiengehn wurde ihm am schlimmsten ausgeleget und immer noch für ein unverzeihliches Vergehen gehalten. –

Nun fügte es sich gerade, daß eine Gesellschaft Luftspringer nach Hannover kam, und weil ein Platz nur eine Kleinigkeit kostete, so ging er einen einzigen Abend hin, um diese halsbrechenden Künste mit anzusehen – man hatte ihn erblickt – und weil dies nun auch eine Art von Komödie war, so hieß es, sein alter Hang sei[215] nun wieder erwacht, und es gehe kein Abend hin, daß er nicht den Schauplatz bei den Luftspringern besuchte; da trüge er nun wieder sein Geld hin – man sehe hieraus schon, daß doch nun nichts aus ihm werden würde. –

Seine Stimme war viel zu ohnmächtig, um sich gegen die Aussage derer zu erheben, die ihn alle Abend bei den Luftspringern wollten gesehen haben – kurz, der einzige Abend, an welchem er hierher ging, brachte ihn wieder weiter in der Meinung der Menschen zurück, als ihn sein ganzer bisheriger Fleiß und regelmäßiges Betragen darin hatte vorwärts bringen können. –

Hiezu kamen nun noch einige Sachen, die ihn sehr niederschlugen. Das Neujahr kam wieder heran, und er freute sich schon darauf, daß er nun bei dem Aufzug mit Fackeln und Musik doch wieder die Vorrechte seines Standes genießen, in Reihe und Glied mit den übrigen gehen und auch nun nicht mehr, wie das vorigemal, einer der letzten in der Ordnung sein würde. –

Um nun aber die Fackel und seinen Anteil zur Musik und sonstigen Kosten bezahlen zu können, wartete er nur auf die Austeilung des Chorgeldes, das er sich mit saurer Mühe im Frost und Regen hatte ersingen müssen, und indem er nun zum Direktor kam, um es in Empfang zu nehmen, war es dem Konrektor eingefallen, für die Privatstunden, die Reiser in Sekunda bei ihm gehabt und nicht bezahlt hatte, Beschlag darauf zu legen. – Reiser ging zu dem Konrektor hin und bat ihn flehentlich, ihm nur die Hälfte von dem Chorgelde zu lassen; allein dieser war unerbittlich; und da Reiser wieder zum Direktor kam, so machte ihm auch der die bittersten Vorwürfe, daß er aufs neue in der Komödie bei den Luftspringern gewesen wäre und sich sogar auf dem Markte vor der Schule Honig und Brot gekauft und das auf der Straße gegessen habe. – Eine Sache, die Reiser für sehr etwas Unschuldiges und auch nicht für erniedrigend hielt, die ihm aber jetzt als die größte Niederträchtigkeit ausgelegt wurde, und worüber ihn der Direktor einen schlechten Buben schalt, der weder Ehre noch Scham hatte, und mit dem er sich nicht weiter befassen wollte. –

Nicht leicht war Reiser wohl in seinem ganzen Leben trauriger[216] und niedergeschlagener gewesen, als da er jetzt vom Direktor zu Hause ging. Er achtete Wind und Schneegestöber nicht, sondern irrte wohl anderthalb Stunden auf dem Wall und in der Stadt umher und überließ sich seinem Gram und seinen lauten Klagen. –

Denn alles war ihm nun auf einmal fehlgeschlagen; sein Bestreben, sich bei dem Direktor durch sein Betragen wieder in Gunst zu setzen; seine Hoffnung, ein gutes Chorgeld zu erhalten, welches ohnedem zu Neujahr immer am beträchtlichsten zu sein pflegte; und sein sehnlicher Wunsch, am morgenden Tage dem Aufzuge mit Fackeln und Musik beizuwohnen und dort öffentlich mit in Reihe und Gliede zu gehn. –

Was ihn aber am meisten schmerzte, war doch im Grunde das letzte – und dies war sehr natürlich; denn durch seine Teilnehmung an dem Aufzuge fühlte er sich gleichsam in alle Rechte seine Standes, die ihm so sehr verleidet waren, wieder eingesetzt – davon ausgeschlossen zu bleiben, deuchte ihm eine der größten Widerwärtigkeiten, die ihm nur begegnen konnte. – Das war auch die Ursach, weswegen er den Konrektor um Erlassung der Hälfte von dem Chorgelde so flehentlich gebeten hatte, welches zu tun er sich sonst nie würde erniedrigt haben.

Alle sein Sinnen und Denken, Geld zu bekommen, half nichts; er konnte sich keine Fackel kaufen und mußte den folgenden Abend, während daß alle seine Mitschüler im glänzenden Pomp unter einer Menge von Zuschauern über die Straße zogen, traurig an seinem Klavier zu Hause sitzen – er suchte sich zu trösten, so gut er konnte; aber da er von fern die Musik hörte, so tat dies eine sonderbare Wirkung auf sein Gemüt – er dachte sich lebhaft den Glanz der Fackeln, die Menge der Zuschauer, das Getümmel und seine Mitschüler als die Hauptpersonen dieses prachtvollen Schauspiels – und sich nun ausgeschlossen, einsam und von aller Welt verlassen – dies versetzte ihn in eine Wehmut, die derjenigen völlig ähnlich war, da seine Eltern ihn oben auf der Stube allein gelassen hatten, während daß sie unten bei dem Wirt bei einer Gasterei waren, von welcher das frohe Gelächter und Klingen mit den Gläsern zu ihm hinauf erschallte, und er sich da auch so[217] einsam und von aller Welt verlassen fühlte und sich aus den Liedern der Madam Guion tröstete. –

Dergleichen Vorfälle drängten ihn dann immer wieder aus der Welt in die Einsamkeit – er war nicht vergnügter, als wenn er allein bei seinem Klavier sitzen und für sich lesen und arbeiten konnte – und wünschte nichts sehnlicher, als daß es bald Sommer sein möchte, um auf dem Boden, wo sein Bette stand, den ganzen Tag allein zubringen zu können.

Und da nun dieser sehnlich gewünschte Sommer kam, so genoß er nun auch zuallererst die Wonne des einsamen Studierens. Er liehe sich seit einiger Zeit wieder Bücher vom Antiquarius; aber sein Geschmack fiel nun auf lauter wissenschaftliche Bücher. – Seine Romanen – und Komödienlektüre hatte seit jener schrecklichen Epoche seines Lebens gänzlich aufgehört. –

Sobald die Luft nun anfing, warm zu werden, eilte er auf seinen Boden und brachte da die vergnügtesten Stunden seines Lebens mit Lesen und Studieren zu. –

Er hatte sich von dem Bücherantiquarius unter andern Gottscheds Philosophie geliehen, und so sehr auch in diesem Buche die Materien durchwässert sind, so gab doch dies seiner Denkkraft gleichsam den ersten Stoß – er bekam dadurch wenigstens eine leichte Übersicht aller philosophischen Wissenschaften, wodurch sich die Ideen in seinem Kopfe aufräumten. –

Sobald er dies merkte, nahm auch sein Eifer, die Sache bald zu übersehen, mit jedem Tage zu. – Er sah, daß das bloße Lesen nichts half – er fing also an, sich auf kleinen Blättchen schriftliche Tabellen zu entwerfen, wo er das Detail immer dem Ganzen gehörig unterordnete und sich auf die Weise einen anschaulichen Begriff davon zu machen suchte. –

Das simple Abschreiben des Hauptinhalts brachte für ihn schon ein vorzügliches Interesse in die Sache – denn indem er nun das Blatt, auf welches er die in dem Buche enthaltenen Materien niedergeschrieben hatte, beim Lesen des Buches vor sich hinlegte, erhielt er dadurch den Vorteil, daß er bei dem Einzelnen nie das Ganze aus den Augen verlor, welches doch beim philosophischen[218] Denken immer ein Haupterfordernis ist und auch die größte Schwierigkeit macht. –

Alles, was er noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Karte wie ein unbekanntes Land vor ihm, welches genauer kennen zu lernen er eine ordentliche Sehnsucht empfand. –

Die Umrisse, das Fachwerk war durch die allgemeine Übersicht des Ganzen einmal in seiner Seele gemacht, er strebte nun von den Lücken, die er erst jetzt empfinden konnte, eine nach der andern auszufüllen. – Und dasjenige, was ihm erst bloße leere Namen gewesen waren, wurden nun allmählich vollgefüllte deutliche Begriffe, und wenn er nun eben den Namen wieder las oder wieder dachte und ihm auf einmal alles so licht und helle wurde, was ihm vorher dunkel und verworren gewesen war, so bemächtigte sich seiner ein so angenehmes Gefühl dabei, als er noch nie empfunden hatte – er schmeckte zuerst die Wonne des Denkens. –

Die immerwährende Begierde, das Ganze bald zu überschauen, leitete ihn durch alle Schwierigkeiten des Einzelnen hindurch. In seiner Denkkraft ging eine neue Schöpfung vor. – Es war ihm, als ob es erst in seinem Verstande dämmerte und nun allmählich der Tag anbräche und er sich an dem erquickenden Lichte nicht satt sehen könnte. –

Er vergaß hierüber fast Essen und Trinken und alles, was ihn umgab, und kam unter dem Vorwande von Kränklichkeit in einer Zeit von sechs Wochen fast gar nicht von seinem Boden herunter – in dieser Zeit saß er vom Morgen bis an den Abend mit der Feder in der Hand bei seinem Buche und ruhete nicht eher, bis er vom Anfang bis zum Ende durch war.

Was hierbei seinen Eifer nie erlöschen ließ, war, wie schon gesagt, das beständige Vor-Augen-halten des Hauptinhalts – und das immerwährende Unterordnen und Klassifizieren der Materien in seinem Kopfe sowohl als auf dem Papiere. –

Er brachte also diesen Sommer, ohngeachtet seine äußern Verhältnisse sich eben nicht sehr verbessert hatten, doch ziemlich vergnügt zu.

Wenigstens mußte er die einsamen Stunden, welche er auf dem[219] Boden zubrachte, immer unter die glücklichsten seines Lebens zählen. – Auch war er überhaupt von nun an minder unglücklich, weil seine Denkkraft angefangen hatte, sich zu entwickeln. –

Wo er ging und stund, da meditierte er jetzt, statt daß er vorher bloß phantasiert hatte – und seine Gedanken beschäftigten sich mit den erhabensten Gegenständen des Denkens – mit den Vorstellungen von Raum und Zeit, von der höchsten vorstellenden Kraft usw. –

Allein schon damals war es ihm oft, wenn er sich eine Weile im Nachdenken verloren hatte, als ob er plötzlich an etwas stieße, das ihn hemmte und wie eine bretterne Wand oder eine undurchdringliche Decke auf einmal seine weitere Aussicht schloß – es war ihm dann, als habe er nichts gedacht – als Worte. –

Er stieß hier an die undurchdringliche Scheidewand, welche das menschliche Denken von dem Denken höherer Wesen verschieden macht, an das notwendige Bedürfnis der Sprache, ohne welche die menschliche Denkkraft keinen eignen Schwung nehmen kann – und welche gleichsam nur ein künstlicher Behelf ist, wodurch etwas dem eigentlichen reinen Denken, wozu wir dereinst vielleicht gelangen werden, ähnliches hervorgebracht wird.

Die Sprache schien ihm beim Denken im Wege zu stehen, und doch konnte er wieder ohne Sprache nicht denken. –

Manchmal quälte er sich stundenlang, zu versuchen, ob es möglich sei, ohne Worte zu denken. – Und dann stieß ihm der Begriff vom Dasein als die Grenze alles menschlichen Denkens auf – da wurde ihm alles dunkel und öde – da blickte er zuweilen auf die kurze Dauer seiner Existenz, und der Gedanke oder vielmehr Ungedanke vom Nichtsein erschütterte seine Seele – es war ihm unerklärlich, daß er jetzt wirklich sei und doch einmal nicht gewesen sein sollte – so irrte er ohne Stütze und ohne Führer in den Tiefen der Metaphysik umher. –

Manchmal, wenn er itzt im Chore sang und, statt daß seine Mitschüler sich miteinander unterredeten, einsam vor sich wegging und diese dann hinter ihm sagten: da geht der Melancholikus! so dachte er über die Natur des Schalles nach und suchte zu erforschen, was sich dabei mit Worten nicht ausdrücken ließ. – Dies[220] trat nun in die Stelle seiner vorigen romantischen Träume, womit er sich sonst so manche trübe Stunde verphantasiert hatte, wenn er an einem traurigen Wintertage in Schnee und Regen im Chore sang. –

Er liehe sich nun von dem Bücherantiquarius Wolfs Metaphysik und las auch die nach der einmal angefangenen Weise durch – und wenn er nun zu dem Schuster Schantz kam, so war der Stoff zu ihren philosophischen Gesprächen weit reichhaltiger wie vorher – und sie kamen von selbst auf alle die verschiedenen Systeme, welche von den Weltweisen der alten und neuern Zeiten vorgetragen und immer von einer unzähligen Menge nachgebetet sind.

Während der Zeit war nun auch der Direktor Ballhorn, von dessen Freundschaft Reiser so viel gehofft hatte und so sehr in seiner Hoffnung getäuscht war, nach einer kleinen Stadt nicht weit von Hannover als Superintendent befördert worden und ein andrer namens Schumann an dessen Stelle gekommen. –

Diese Veränderung interessierte Reisern eben nicht sehr, der damals an nichts als an seine Metaphysik dachte. – Der neue Direktor war ein alter Mann, welcher aber Kenntnisse und viel Geschmack besaß und von Pedanterei, welches bei alten Schulmännern ein so seltener Fall ist, ziemlich frei war.

Während dieser Veränderung fielen eine große Menge Schulstunden ohnedem aus. – Reisers Versäumnis wurde also eben so merklich nicht. – Und wenn nun ja eine Versäumnis von öffentlichen Schulstunden gut genutzt worden ist, so war es die seinige in welcher er in Zeit von ein paar Monaten mehr tat und sein Verstand mit weit mehr Begriffen als seine ganzen akademischen Jahre hindurch bereichert wurde. –

Nie hörte er wenigstens den ganzen Kursus der Philosophie so ausführlich wieder vortragen, als er ihn damals für sich durchdacht hatte – auch die übrigen Wissenschaften, als Dogmatik, Geschichte usw., hörte er nie auf der Universität so ausführlich wieder, als er sie zum Teil in Hannover auf der Schule gehört hatte.

Er hatte in seiner Jugend keinen Unterricht als im Rechnen und[221] Schreiben genossen, welcher itzt fast gänzlich für ihn verloren ging, weil er das Rechnen nicht zu üben Gelegenheit hatte und seine Hand durch das Nachschreiben verdarb. – Nun fügte es sich, daß er einige Information im Schreiben bekam, die ihm zwar wenig oder gar nichts einbrachte, wobei er aber doch merklich seine Hand übte; da er nun wieder anfing, die Schularbeiten mitzumachen, und dem Rektor seine Exerzitien brachte, so wunderte sich dieser sehr über die Verbesserung seiner Hand und gab ihm sogleich etwas abzuschreiben, welches aber dort im Hause geschehen mußte, so daß er auf diese Weise wieder Zutritt zu dem Rektor erhielt; welches ihn denn auch mit einiger Hoffnung, sich wieder in Kredit zu setzen, belebte, die aber bald niedergeschlagen wurde, da sein Vater einmal nach Hannover herüberkam und der Pastor Marquard demselben keinen andern Trost gab, als daß sein Sohn ein Schl ...l sei, aus dem nie etwas werden würde. –

Da sein Vater wieder wegreiste, begleitete er ihn bis vors Tor hinaus, und hier war es, wo ihm derselbe die tröstlichen Worte des Pastor Marquard hinterbrachte und ihm dabei die bittersten Vorwürfe machte, daß er die Wohltaten, welche man ihm erwiesen, so schlecht erkennte, wobei er ihn zugleich auf den Rock, den er trug, verwies und ihm diesen als ein unverdientes Geschenk von seinen Wohltätern schilderte. – Dies letztere brachte Reisern auf; denn der Rock, welcher von groben grauen Tuch war, das ihm ein völliges Bedientenansehen gab, war ihm immer verhaßt gewesen, und er ließ sich daher gegen seinen Vater verlauten, daß ein solcher Bedientenrock, den er zu seinem Ärger tragen müsse, eben kein großes Gefühl von Dankbarkeit bei ihm erwecken könne. –

Darüber geriet sein Vater, dem die Grundsätze von der Demütigung und Ertötung alles Stolzes und Eigendünkels aus den Schriften der Madam Guion heilig waren, in eine Art von Wut – drehte sich schnell von ihm und gab ihm seinen Fluch auf den Weg. – Reiser wurde ebenfalls hiedurch in einen Zustand versetzt, worin er sich noch nie befunden hatte, alles, was er bisher von seinem widrigen Schicksal gelitten und geduldet hatte, und[222] daß nun auch sein Vater sogar ihn von sich stieß und ihm seinen Fluch gab, fuhr ihm auf einmal durch die Seele.

Er stieß, indem er nach der Stadt zurückging, laute Gotteslästerungen aus und war der Verzweiflung nahe – er wünschte sich wirklich vom Erdboden verschlungen zu sein – und der Fluch seines Vaters schien ihn im Ernst zu verfolgen.

Dies hemmte wieder auf eine Weile alle seine guten Vorsätze und seinen bisher freiwillig ununterbrochenen Fleiß.

Der Sommer ging nun zu Ende – und ein anhaltender körperlicher Schmerz fing nun öfter wieder an, seinen Geist niederzudrücken. Er hatte von dieser Zeit an unaufhörliches Kopfweh, welches ein ganzes Jahr anhielt, so daß fast kein Tag und keine Stunde dazwischen ausfiel, wo er sich von diesem fortdaurenden Schmerz befreit gefühlt hätte. –

Der Schneider, bei dem er nun ein Jahr gewohnt hatte, sagte ihm auch das Logis auf, und er zog in einer abgelegenen Straße bei einem Fleischer ins Haus, wo noch einige Schüler nebst ein paar gemeinen Soldaten im Quartier lagen. –

Er mußte sich hier auch mit unten in der Stube aufhalten, und seine Einrichtung mit dem Klavier und dem Bücherbrette darunter blieb wie vorher – statt des Bodens aber erhielt er oben ein kleines Kämmerchen, wo er mit noch einem Chorschüler schlief, und im Sommer, wenn es warm war, jeder für sich allein sein konnte.

Der Umgang mit seinem Wirt, dem Fleischer, mit den beiden Soldaten, die dort im Quartier lagen, und ein paar lüderlichen Chorschülern, die noch nebst ihm da wohnten, konnte zur Bildung und Verfeinerung seiner Sitten eben nicht viel beitragen. –

Alles versammlete sich im Winter des Abends in der Stube, und weil er bei dem Geräusch und Lärmen doch nicht arbeiten konnte, so mischte er sich lieber mit unter den Haufen und amüsierte sich mit den Leuten, die nun einmal den nächsten Kreis um ihn her ausmachten, so gut er konnte.

Ohngeachtet seiner immerwährenden Kopfschmerzen arbeitete er doch auch, sooft er nur ein wenig in Ruhe sein konnte, für sich und lernte auf die Weise in Zeit von einigen Wochen Französisch,[223] indem er sich einen lateinischen Terenz mit der französischen Übersetzung liehe und sich täglich ununterbrochen selbst eine Lektion gab; er kam dadurch wenigstens so weit, daß er von der Zeit an jedes französische Buch ziemlich verstehen konnte.

Da sich indes sein äußerer Zustand nicht verbesserte und überdem noch körperlicher Schmerz ihn unaufhörlich drückte, so versetzte ihn dies in eine Seelenstimmung, wo ihm Youngs Nachtgedanken, die er damals zufälligerweise erhielt, eine höchst willkommene Lektüre waren – es deuchte ihm, als fände er hier alle seine vorigen Vorstellungen von der Nichtigkeit des Lebens und der Eitelkeit aller menschlichen Dinge wieder. – Er konnte sich nicht satt in diesem Buche lesen und lernte die Gedanken und Empfindungen, welche darin herrschen, beinahe auswendig.

Die einzige Linderung bei seinen Kopfschmerzen war, wenn er ausgestreckt rücklings auf dem Bette liegen konnte – in dieser Stellung blieb er denn oft ganze Tage lang und las – dies war der einzige ihm übriggebliebene Genuß des Lebens, an dem er sich noch festhielt, da sonst die tötendste Langeweile ihm das elende Leben, was er noch fortschleppte, unerträglich gemacht haben würde. –

Um sich nun zuweilen dem Geräusch, das ihn umgab, zu entziehen, scheute er manchmal weder Regen noch Schnee, sondern machte des Abends, wenn es dunkel wurde und er sicher war, daß er von niemanden gesehen, noch von irgendeinem Menschen würde angeredet werden, einen Spaziergang auf dem Walle um die Stadt; und bei diesen Spaziergängen war es, wo sich sein Geist immer etwas wieder ermannte und ein Funke von Hoffnung, sich aus seinem schrecklichen Zustande herauszuarbeiten, in seiner Seele wieder emporglimmte. –

Wenn er dann auf den Straßen, die an den Wall grenzten, in den Häusern Licht angesteckt sahe und sich nun dachte, daß in jeder erleuchteten Stube, deren in einem Hause oft so viele waren, eine Familie oder sonst eine Gesellschaft von Menschen oder ein einzelner Mensch lebte, und daß eine solche Stube also in dem Augenblick die Schicksale und das Leben und die Gedanken eines solchen Menschen oder einer solchen Gesellschaft von Menschen[224] in sich faßte, und daß er auch nun nach dem vollendeten Spaziergange in eine solche Stube wieder zurückkehren würde, wo er gleichsam hingebannt und wo der eigentliche Fleck seines Daseins wäre, so brachte dies bei ihm zuerst eine sonderbare demütigende Empfindung hervor, als sei nun sein Schicksal unter diesen unendlichen verwirrten Haufen sich einander durchkreuzender menschlicher Schicksale gleichsam verloren und werde dadurch klein und unbedeutend gemacht. – Dann erhoben aber auch eben diese Lichter in den einzelnen Stuben in den Häusern am Walle zuweilen seinen Geist wieder, wenn er einen Überblick des Ganzen daraus schöpfte und sich aus seiner eigenen kleinen einengenden Sphäre, wodurch er sich unter allen diesen im Leben unbemerkten und unausgezeichneten Bewohnern der Erde mitverlor, herausdachte und sich ein besonderes ausgezeichnetes Schicksal prophezeite, wovon die süße Vorstellung, indem er dann mit schnellen Schritten vorwärts ging, ihn aufs neue mit Hoffnung und Mut belebte.

Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in einem fremden ihm unbekannten Hause, wo er sich eine Anzahl Familien dachte, von deren Leben und Schicksalen er ebensowenig als sie von den seinigen wußte, hat nachher beständig sonderbare Empfindungen in ihm erweckt – die Eingeschränktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich.

Er fühlte die Wahrheit: man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind, nur einer.

Sich in das ganze Sein und Wesen eines andern hineindenken zu können, war oft sein Wunsch – wenn er so auf der Straße zuweilen dicht neben einem ganz fremden Menschen herging – so wurde ihm der Gedanke der Fremdheit dieses Menschen, der gänzlichen Unbewußtheit des einen von dem Namen und Schicksalen des andern so lebhaft, daß er sich, so dicht es der Wohlstand erlaubte, an einen solchen Menschen andrängte, um auf einen Augenblick in seine Atmosphäre zu kommen und zu versuchen, ob er die Scheidewand nicht durchdringen könnte, welche die Erinnerungen und Gedanken dieses fremden Menschen von den seinigen trennte. –[225] Noch eine Empfindung aus den Jahren seiner Kindheit ist vielleicht nicht unschicklich, hier herangezogen zu werden – er dachte sich damals zuweilen, wenn er andere Eltern als die seinigen hätte und die seinigen ihn nun nichts angingen, sondern ihm ganz gleichgültig wären. – – Über den Gedanken vergoß er oft kindische Tränen – seine Eltern mochten sein, wie sie wollten, so waren sie ihm doch die liebsten – und er hätte sie nicht gegen die vornehmsten und gütigsten vertauscht. – Aber zugleich kam ihm auch schon damals das sonderbare Gefühl von dem Verlieren unter der Menge, und daß es noch so unzählig viele Eltern mit Kindern außer den seinigen gab, worunter sich diese wieder verloren – –

Sooft er sich nachher in einem Gedränge von Menschen befunden hat, ist eben dies Gefühl der Kleinheit, Einzelnheit und fast dem Nichts gleichen Unbedeutsamkeit in ihm erwacht. – – Wieviel ist des mir gleichen Stoffes hier! welch eine Menge von dieser Menschenmasse, aus welcher Staaten und Kriegsheere, so wie aus Baumstämmen Häuser und Türme gebauet werden! –

Das waren ohngefähr die Gedanken, die damals ein dunkles Gefühl in ihm hervorbrachten, weil er sie nicht in Worte einzukleiden und sie sich nicht deutlich zu machen wußte.

Einmal, da vier Missetäter auf dem Rabensteine vor Hannover geköpft wurden, ging er unter der Menge von Menschen mit hinaus und sahe nun vier darunter, welche aus der Zahl der übrigen ausgetilget und zerstückt werden sollten. – Dies kam ihm so klein, so unbedeutend vor, da der ihn umgebenden Menschenmasse noch so viel war – als ob ein Baum im Walde umgehauen oder ein Ochse gefällt werden sollte – und da nun die Stücken dieser hingerichteten Menschen auf das Rad hinaufgewunden wurden und er sich selbst und die um ihn her stehenden Menschen ebenso zerstückbar dachte – so wurde ihm der Mensch so nichtswert und unbedeutend, daß er sein Schicksal und alles in dem Gedanken von tierischer Zerstückbarkeit begrub – und sogar mit einem gewissen Vergnügen wieder zu Hause ging und seinen Haarteig auf dem Wege verzehrte – denn es war damals gerade sein schreckliches Vierteljahr, wo er manche Tage bloß von diesem Teige lebte.[226] – Nahrung und Kleidung war ihm gleichgültig so wie Tod und Leben – ob nun eine solche bewegliche Fleischmasse, deren es eine so ungeheure Anzahl gibt, auf der Welt mehr umhergeht oder nicht! – Dann konnte er sich nicht enthalten, sich immer an den Platz der zerstückten und in Stücken auf das Rad gewundenen hingerichteten Missetäter zu stellen – und dachte dabei, was schon Salomo gedacht hat: ›Der Mensch ist wie das Vieh; wie das Vieh stirbt, so stirbt er auch.‹ –

Wenn er von dieser Zeit an ein Tier schlachten sahe, so hielt er sich immer in Gedanken damit zusammen – und da er es bei dem Schlächter auch so oft zu sehen Gelegenheit hatte, so ging eine ganze Zeitlang sein bloßes Denken dahin – den Unterschied zwischen sich und einem solchen Tier, das geschlachtet wird, auszumitteln. – Er stand oft stundenlang und sah so ein Kalb mit Kopf, Augen, Ohren, Mund und Nase an; und lehnte sich, wie er es bei fremden Menschen machte, so dicht wie möglich an dasselbe an, oft mit dem törichten Wahn, ob es ihm nicht vielleicht möglich würde, sich nach und nach in das Wesen eines solchen Tieres hineinzudenken – es lag ihm alles daran, den Unterschied zwischen sich und dem Tiere zu wissen – und zuweilen vergaß er sich bei dem anhaltenden Betrachten desselben so sehr, daß er wirklich glaubte, auf einen Augenblick die Art des Daseins eines solchen Wesens empfunden zu haben. – Kurz, wie ihm sein würde, wenn er z.B. ein Hund, der unter Menschen lebt, oder ein anderes Tier wäre – das beschäftigte von Kindheit auf schon oft seine Gedanken. – Und da er sich nun den Unterschied zwischen Körper und Geist gedacht hatte, so war ihm nichts wichtiger, als zugleich irgendeinen wesentlichen Unterschied zwischen sich und dem Tiere aufzufinden, weil er sich sonst nicht überreden konnte, daß das Tier, welches ihm in seinem Körperbau so ähnlich war, nicht ebenso wie er einen Geist haben sollte. –

Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstörung und Zerstückelung des Körpers? – Alle die Gedanken von so viel tausend Menschen, die vorher durch die Scheidewand des Körpers bei einem jeden voneinander abgesondert waren und nur durch die Bewegung einiger Teile dieser Scheidewand einander wieder mitgeteilt[227] wurden, schienen ihm nach dem Tode der Menschen in eins zusammenzufließen – da war nichts mehr, das sie absonderte und voneinander trennte – er dachte sich den übrig gebliebenen und in der Luft herumfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerflatterte. –

Und dann schien ihm aus der ungeheuren Menschenmasse wieder eine so ungeheure unförmliche Seelenmasse zu entstehen wo er immer nicht einsahe, warum gerade so viel und nicht mehr und nicht weniger da wären, und weil die Zahl ins Unendliche fortzugehen schien, das Einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts wurde.

Diese Unbedeutsamkeit, dies Verlieren unter der Menge war es vorzüglich, was ihm oft sein Dasein lästig machte.

Nun ging er einmal eines Abends traurig und mißmutig auf der Straße umher – es war schon in der Dämmerung, aber doch nicht so dunkel, daß er nicht von einigen Leuten hätte gesehen werden können, deren Anblick ihm unerträglich war, weil er ihnen ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu sein glaubte. –

Es war eine naßkalte Luft und regnete und schneiete durcheinander – seine ganze Kleidung war durchnetzt – plötzlich entstand in ihm das Gefühl, daß er sich selbst nicht entfliehen konnte.

Und mit diesem Gedanken war es, als ob ein Berg auf ihm lag – er strebte sich mit Gewalt darunter emporzuarbeiten, aber es war, als ob die Last seines Daseins ihn darnieder drückte.

Daß er einen Tag wie alle Tage mit sich aufstehen, mit sich schlafen gehen – bei jedem Schritte sein verhaßtes Selbst mit sich fortschleppen mußte. –

Sein Selbstbewußtsein mit dem Gefühl von Verächtlichkeit und Weggeworfenheit wurde ihm ebenso lästig wie sein Körper mit dem Gefühl von Nässe und Kälte; und er hätte diesen in dem Augenblick ebenso willig und gerne wie seine durchnetzten Kleider abgelegt – hätte ihm damals ein gewünschter Tod aus irgendeinem Winkel entgegengelächelt. –

Daß er nun unabänderlich er selbst sein mußte und kein anderer sein konnte; daß er in sich selbst eingeengt und eingebannt war – das brachte ihn nach und nach zu einem Grade der Verzweiflung,[228] der ihn an das Ufer des Flusses führte, welcher durch einen Teil der Stadt ging, wo dasselbe mit keinem Geländer versehen war. –

Hier stand er zwischen dem schrecklichsten Lebensüberdruß und der instinktmäßigen unerklärlichen Begierde fortzuatmen, kämpfend, eine halbe Stunde lang, bis er endlich ermattet auf einem umgehauenen Baumstamm niedersank, der nicht weit vom Ufer lag. Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefühl einer fieberhaften Kälte und das Klappern seiner Zähne ihn wieder zu sich selbst brachte und ihm zufälligerweise einfiel, daß er den Abend bei seinem Wirt, dem Fleischer, frische Wurst zu essen bekommen würde – und daß die Stube sehr warm geheizt sein würde. – Diese ganz sinnlichen und tierischen Vorstellungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue wieder an – er vergaß sich, so wie er sich nach der Hinrichtung der Missetäter vergessen hatte, ganz als Mensch und kehrte in seinen Gesinnungen und Empfindungen als Tier wieder heim. –

Als Tier wünschte er fortzuleben; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseins unerträglich gewesen.

Allein wie er sich schon so oft aus seiner wirklichen Welt in die Bücherwelt gerettet hatte, wenn es aufs äußerste kam, so fügte es sich auch diesmal, daß er sich gerade vom Bücherantiquarius die Wielandsche Übersetzung von Shakespeare liehe – und welch eine neue Welt eröffnete sich nun auf einmal wieder für seine Denk- und Empfindungskraft! –

Hier war mehr als alles, was er bisher gedacht, gelesen und empfunden hatte. – Er las Macbeth, Hamlet, Lear und fühlte seinen Geist unwiderstehlich mit emporgerissen – jede Stunde seines Lebens, wo er den Shakespeare las, ward ihm unschätzbar. – Im Shakespeare lebte, dachte und träumte er nun, wo er ging und stund – und seine größte Begierde war, das alles, was er beim Lesen desselben empfand, mitzuteilen – und der nächste, dem er es mitteilen konnte, und welcher Gefühl dafür hatte, war sein Freund Philipp Reiser, der in einer abgelegenen Gegend der Stadt wohnte, wo er sich eine neue Werkstätte angelegt hatte und[229] Klaviere zimmerte, – dabei sang er noch immer im Chore mit, aber nicht in dem, worin sich Anton Reiser befand. – Sie waren also durch ihre äußern Verhältnisse eine lange Zeit ohngeachtet ihrer ersten vertrauten Freundschaft voneinander getrennt worden. –

Nun aber, da Anton Reiser seinen Shakespeare unmöglich für sich allein genießen konnte, so wußte er zu keinem Bessern damit zu eilen als zu seinem romantischen Freunde. –

Diesem nun ein ganzes Stück aus dem Shakespeare vorzulesen und auf alle dessen Empfindungen und Äußerungen dabei mit Wohlgefallen zu merken, war die größte Wonne, welche Reiser in seinem Leben genossen hatte. –

Sie widmeten ganze Nächte zu dieser Lektüre, wo Philipp Reiser den Wirt machte, um Mitternacht Kaffee kochte und Holz im Ofen nachlegte – dann saßen sie beide bei einer kleinen Lampe an einem Tischchen – und Philipp Reiser hatte sich mit langem Halse herübergebeugt, sowie Anton Reiser weiter las und die schwellende Leidenschaft mit dem wachsenden Interesse der Handlung stieg. –

Diese Shakespearenächte gehören zu den angenehmsten Erinnerungen in Reisers Leben. – Aber wenn auch durch irgend etwas sein Geist gebildet wurde, so war es durch diese Lektüre, wogegen alles, was er sonst Dramatisches gelesen hatte, gänzlich in Schatten gesetzt und verdunkelt wurde. Selbst über seine äußern Verhältnisse lernte er sich auf eine edlere Art hinwegsetzen selbst bei seiner Melancholie nahm seine Phantasie einen höhern Schwung. –

Durch den Shakespeare war er die Welt der menschlichen Leidenschaften hindurchgeführt – der enge Kreis seines idealischen Daseins hatte sich erweitert – er lebte nicht mehr so einzeln und unbedeutend, daß er sich unter der Menge verlor – denn er hatte die Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespeare mit durchempfunden. –

Nachdem er den Shakespeare und so, wie er ihn gelesen hatte, war er schon kein gemeiner und alltäglicher Mensch mehr – es dauerte auch nun nicht lange, so arbeitete sich sein Geist unter allen[230] seinen äußern drückenden Verhältnissen, unter allem Spott und Verachtung, worunter er vorher erlag, empor – wie der Verfolg dieser Geschichte zeigen wird.

Die Monologen des Hamlet hefteten sein Augenmerk zuerst auf das Ganze des menschlichen Lebens – er dachte sich nicht mehr allein, wenn er sich gequält, gedrückt und eingeengt fühlte; er fing an, dies als das allgemeine Los der Menschheit zu betrachten. –

Daher wurden seine Klagen edler als vorher – die Lektüre von Youngs Nachtgedanken hatte dies zwar auch schon gewissermaßen bewirkt, aber durch den Shakespeare wurden auch Youngs Nachtgedanken verdrängt – der Shakespeare knüpfte zwischen Philipp Reisern und Anton Reisern das lose Band der Freundschaft fester. – Anton Reiser bedurfte jemanden, an den er alle seine Gedanken und Empfindungen richten konnte, und auf wen sollte wohl eher seine Wahl gefallen sein als auf denjenigen, der einmal seinen angebeteten Shakespeare mit durchempfunden hatte! –

Das Bedürfnis, seine Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, brachte ihn auf den Einfall, sich wieder eine Art von Tagebuch zu machen, worin er aber nicht sowohl seine äußern geringfügigen Begebenheiten wie ehemals, sondern die innere Geschichte seines Geistes aufzeichnen und das, was er aufzeichnete, in Form eines Briefes an seinen Freund richten wollte. –

Dieser sollte denn wiederum an ihn schreiben, und dies sollte für beide eine wechselseitige Übung im Stil werden. – Diese Übung bildete Anton Reisern zuerst zum Schriftsteller; er fing an, ein unbeschreibliches Vergnügen daran zu empfinden, Gedanken, die er für sich gedacht hatte, nun in anpassende Worte einzukleiden, um sie seinem Freunde mitteilen zu können – so entstanden ihm unter den Händen eine Anzahl kleiner Aufsätze, deren er sich zum Teil auch in reifern Jahren nicht hätte schämen dürfen. –

Die Übung war zwar einseitig, denn Philipp Reiser blieb mit seinen Aufsätzen zurück – aber Anton Reiser hatte doch nun jemanden, dem er Gefühl und Geschmack zutrauete, dessen Beifall[231] oder Tadel ihm nicht gleichgültig war, und an den er denken konnte, sooft er etwas niederschrieb. –

Nun war es sonderbar; wenn er im Anfang etwas niederschreiben wollte, so kamen ihm immer die Worte in die Feder: »Was ist mein Dasein, was mein Leben?« Diese Worte standen daher auch auf mehreren kleinen Stückchen Papiere, die er hatte beschreiben wollen und dann, wenn es nicht ging, wieder wegwarf. –

Seine dunkle Vorstellung vom Leben und Dasein, das wie ein Abgrund vor ihm lag, drängte sich immer zuerst in seiner Seele empor – er fühlte sich gedrungen, erst diesen wichtigsten Punkt seiner Zweifel und Besorgnisse zu berichtigen, ehe er irgend etwas anders zum Gegenstande seines Denkens machte. – Es war also sehr natürlich, daß ihm wider seinen Willen diese Worte immer wieder in die Feder kamen, wenn er sich bemühte, Gedanken niederzuschreiben. –

Endlich arbeitete sich denn doch der Ausdruck durch die Gedanken durch – und das erste, was ihm in ziemlich passende Worte einzukleiden gelang, war etwas Metaphysisches über Ichheit und Selbstbewußtsein. –

Denn da er nun weiter denken und Gedanken niederschreiben wollte, so lag ihm natürlicherweise nichts näher als dies: er wollte erst mit sich selbst gleichsam in Richtigkeit sein, ehe er zu etwas anderm schritte. –

Nun fing er an, den Begriff des Individuums zu verfolgen, der ihm schon seit einigen Jahren, da er zuerst etwas von Logik gehört hatte, vorzüglich wichtig geworden war – und da er nun endlich auf den höchsten Grad des Bestimmtseins von allen Seiten und des vollkommen sich selbst Gleichseins stieß – so war es ihm nach einigem Nachdenken, als ob er sich selbst entschwunden wäre – und sich erst in der Reihe seiner Erinnerungen an das Vergangene wieder suchen müßte. – Er fühlte, daß sich das Dasein nur an der Kette dieser ununterbrochenen Erinnerungen festhielt. –

Die wahre Existenz schien ihm nur auf das eigentliche Individuum begrenzt zu sein – und außer einem ewig unveränderlichen, alles mit einem Blick umfassenden Wesen konnte er sich kein wahres Individuum denken. –[232] Am Ende seiner Untersuchungen dünkte ihm sein eignes Dasein eine bloße Täuschung, eine abstrakte Idee – ein Zusammenfassen der Ähnlichkeiten, die jeder folgende Moment in seinem Leben mit dem entschwundenen hatte. – Durch diese Begriffe von seiner eignen Eingeschränktheit veredelten sich seine Begriffe von der Gottheit – er fing an, nun in diesem großen Begriffe sein eignes Dasein zu fühlen, das ihm ohnedem unter den Händen zu verschwinden, ohne Zweck, abgerissen und zerstückt zu sein schien. – –

Aus diesen Reflexionen bildete sich der erste schriftliche Aufsatz, den er entwarf, und dem er die Form eines Briefes an seinen Freund gab, mit welchem er sich über diese Materie oft zu unterreden pflegte, und der ihn wenigstens immer zu verstehen schien.

Dabei dauerten seine Kopfschmerzen immer fort – allein er gewöhnte sich zuletzt so daran, daß ihm sein Zustand ordentlich gefährlich oder unnatürlich vorkam, wenn er einen Tag einmal keine Kopfschmerzen hatte. –

Seine Zusammenkünfte mit Philipp Reisern wurden nun immer häufiger – und er erhielt unvermuteterweise zu diesem noch einen Freund; dies war der Sohn des Kantors, namens Winter, einer seiner Mitschüler, gegen dessen Miene und Gesichtsbildung er fast immer eine Art von Antipathie gehegt und sich zugleich von ihm verachtet geglaubt hatte. –

Dieser wußte von seinem Vater, daß Anton Reiser einmal Verse gemacht hatte, und weil er nun selbst für jemanden ein Gedicht auf einen Geburtstag zu machen versprochen hatte, so suchte er Reisern auf und bat ihn um die Verfertigung dieses Gedichts, das er selbst auszuarbeiten nicht Lust oder Zeit hatte. – Dies war für Reisern die erste Veranlassung, seine ganz vernachlässigte Poesie wieder hervorzusuchen. – Das kleine Gedicht gelang ihm nicht übel. – Winter besuchte ihn von der Zeit an öfter und versprach ihm einstmals, daß er ihm die Bekanntschaft eines merkwürdigen Mannes verschaffen wolle, der übrigens ganz im Dunkeln lebe und nichts weiter als ein Essigbrauer sei. – Reiser war sehr begierig auf diese Bekanntschaft – es zog sich aber noch eine ganze Weile damit hin. –[233] Durch die Verse, welche ihm für Winter gelungen waren, war seine schlummernde Neigung für die Poesie wieder aufgeweckt allein seine Trägheit zog ihn zu der harmonischen Prosa zurück, wozu sich sein Ohr durch die wiederholte Lektüre der vortrefflichen Ebertschen Übersetzung von Youngs Nachgedanken gewöhnt hatte – und nun fehlte es nur an einer äußern Veranlassung, die seiner Einbildungskraft einen ungewöhnlichen Schwung zu geben vermochte. –

Diese Veranlassung ereignete sich an einem trüben und regnigten Sonntagnachmittage – wo er im Chore sang – er hatte erst mit Winter gesprochen, und dieser erkundigte sich unter andern nach seiner Lektüre und wunderte sich, daß er ihn beständig lesend getroffen habe. – Reiser antwortete ihm, das sei ja noch das einzige, wodurch er sich wegen der Verachtung, der er so allgemein in der Schule und im Chore ausgesetzt wäre, einigermaßen schadlos halten könnte. –

Durch dies Gespräch mit Winter, da er in kurzem seine Situation überdachte, war sein Herz einmal lebhaften Eindrücken geöffnet worden – und nun fügte es sich gerade, daß eben der Verclas, mit dem er einst nebst G ... den sterbenden Sokrates aufgeführt hatte, ihn zum Gegenstande seines groben Witzes machte und durch allerlei Anspielungen ihn bei seinen Mitschülern wieder lächerlich zu machen suchte, die denn auch bald mit einstimmten, so daß Reiser fast eine halbe Stunde lang das Ziel ihrer witzigen Einfälle war. –

Er sagte auf alles dies kein Wort und kränkte sich, indem er einsam vor sich wegging, innerlich darüber; und ob er sich gleich bemühte, seine Kränkung in Verachtung zu verwandeln, so wollte es ihm doch nicht recht damit gelingen; bis er sich endlich unvermerkt in eine bittere menschenfeindliche Laune hineinphantasierte, die durch nichts als das Andenken an seinen Philipp Reiser wieder gemildert wurde. – Da nun auch der Vorsatz, seine Empfindungen und Gedanken an ihn niederzuschreiben, herrschend geworden war, so behielt derselbe auch diesmal selbst über seinen Verdruß und seine Kränkung zuletzt die Oberhand; er suchte sich das Kränkende, was er empfunden hatte und noch[234] empfand, in Worte einzukleiden, um es seiner Einbildungskraft desto lebhafter vorstellen zu können. – Und ehe das Chorsingen noch geendigt war, war auch schon der Aufsatz, den er zu Hause niederschreiben wollte, unter allen Geräusch und Spott und Hohngelächter, das ihn umgab, völlig vollendet – und die Freude darüber erhob ihn gewissermaßen über sich selbst und seinen eigenen Kummer. – Sobald er zu Hause kam, schrieb er mit einer sonderbaren gemischten wehmütigen Empfindung, voll Schmerz über seinen Zustand und voll Freude, daß es ihm gelungen war, durch die Sprache ein lebhaftes Bild von seinem Zustande zu entwerfen, folgende Worte nieder:


An Reiser!

Wie traurig ist doch das Dasein der Menschen – und dieses nichtige Dasein machen wir uns noch selbst einander unerträglich, statt daß wir durch vertrauliche Geselligkeit uns in dieser Wüste des Lebens einander unsre Last erleichtern sollten. – –

Ist es nicht genug, daß wir im beständigen Wahn und Irrtum wie in einem bezauberten Lande herumirren?

Müssen uns auch noch Ungeheuer anschreien? – Muß auch noch ein boshafter Satyr uns mit seinem Hohngelächter die Seele durchbohren? –

Wie öde, wie traurig ist hier alles um mich her! – Und ich muß verlassen und einsam hier herumirren – keine Stütze, kein Führer! –

Wohl mir! einen Haufen erblick ich dort; Menschen, mir gleich, auch diese Wüste durchirrend. –

»O nehmt mich auf, Freunde, nehmt mich auf, daß ich mit euch diese Wüste durchziehe; und sie wird mir zur grünenden Aue werden!«

Sie nehmen mich auf – wohl mir! – –

Weh mir! – was seh ich? – Sind das noch die Menschen, meine Brüder? –

Ach, ihre Larve fällt ab – und Teufel sinds – und zur Hölle wird mir nun die Wüste. –[235]

Ich fliehe, und ihr Hohngelächter heulet mir nach – –

›So habt ihr mich betrogen, menschliche Larven? – Ha, keine Larve soll mich wieder betrügen! – Nun sei mir willkommen, Nacht, und du Einsamkeit, und du, schwärzeste Melancholei. – Alle ihr lachenden Scherze und alle ihr tobenden Freuden, Larven des Todes, seid auf ewig von mir verbannt!‹ –

So ging ich und dachte, und finsterer Gram erfüllte meine Seele.

Als plötzlich ein Jüngling vor mir stand – den Freund verkündigte sein Blick – Empfindung sprach sein sanftes Auge – schleunig wollt ich entfliehn – aber er faßte so vertraulich meine Hand – und ich blieb stehn – er umarmte mich, ich ihn – unsre Seelen flossen zusammen. –

Und um uns wards Elysium. –


Reiser hätte wirklich kein wahreres Bild als dieses von seinem damaligen Zustande entwerfen können – in allem, was er sagte, war nichts Übertriebenes – denn die Menschen, mit denen er zunächst durchs Leben ging, wurden wirklich für ihn quälende Geister – und zu den anschreienden Ungeheuern gehörte vorzüglich Verclas, dessen grober und doch boshafter Witz Reisern den Sonntagnachmittag bis tief in die Seele gekränkt hatte, da dieser Verclas doch sonst immer von ihm ein Freund hatte sein wollen – wenigstens war er und der Landesverwiesene G ... noch die einzigen, die nach der Aufführung der Komödie mit Reisern umgingen, weil sie mit ihm ein gleiches Schicksal des Hasses und der Verachtung aller ihrer Mitschüler teilten – und selbst dieser Verclas stellte sich nun mit auf die Seite derer, welchen Reiser ein Gegenstand des Spottes war – und veranlaßte diesen Spott sogar durch seine groben Witzeleien, womit er sich auf Reisers Kosten lustig machte. – Dies alles vereinigte sich nun, ihn in die menschenfeindliche Laune zu versetzen, worin er den vorhergehenden Aufsatz entwarf. – Durch das Andenken an Philipp Reisern, und weil doch auch der Sohn des Kantors, sein ehemaliger Feind, anfing, sein Freund zu werden, milderte dies schon seine bittere Laune so weit, daß er am Schluß seines Aufsatzes[236] einlenkte und den sanften Empfindungen wieder Gehör gab. –

Auf diese Weise hatte er nun in seinem Tagebuche schon verschiedene kleine Aufsätze an seinen Freund entworfen, als der Frühling wieder herankam und zu Ostern die gewöhnliche öffentliche Schulprüfung gehalten wurde, wobei er denn auch erschien. –

Aber wie sehr wurde sein Mut niedergeschlagen, da er sich gegen die übrigen betrachtete und sich gerade unter allen am schlechtesten gekleidet sahe – er saß da wie verloren; auf ihn wurde gar keine Rücksicht genommen – keine einzige Frage an ihn getan. –

Den Vormittag hielt er es aus – aber als er den Nachmittag wieder hinging und sich aufs neue unter dem ihn umgebenden Haufen wie verloren sahe – konnte er es nicht länger aushalten – er ging wieder fort, ehe noch die Prüfung anging. –

Und nun eilte er gerade zum Tore hinaus – es war ein trüber neblichter Himmel – und ging auf ein kleines Wäldchen zu, das nicht weit von Hannover liegt. –

Sobald er aus dem Gewühle der Stadt war und die Türme von Hannover hinter sich sah, bemächtigten sich seiner tausend abwechselnde Empfindungen. – Alles stellte sich ihm auf einmal aus einem andern Gesichtspunkte dar – er fühlte sich aus alle den kleinlichen Verhältnissen, die ihn in jener Stadt mit den vier Türmen einengten, quälten und drückten, auf einmal in die große offene Natur versetzt und atmete wieder freier – sein Stolz und Selbstgefühl strebte empor – sein Blick schärfte sich auf das, was hinter ihm lag, und faßte es in einem kleinen Umfange zusammen. –

Er sahe da die Priester mit ihren schwarzen Mänteln und Kragen die Treppe hinaufsteigen und seine Mitschüler versammlet und Prämien unter sie austeilen, und dann wie ein jeder wieder nach Hause ging und sich alles so im Zirkel drehte – und in dem Umfange der Stadt, die nun hinter ihm lag, und von der er sich immer weiter entfernte, alles das sich durchkreuzende Gewimmel. – Alles schien ihm da so dicht, so klein ineinander zu laufen, wie der zusammengedrängte[237] Haufen Häuser, den er noch in der Ferne sahe – und nun dachte er sich hier auf dem freien Felde die Stille, und daß ihn niemand bemerkte, niemand ihm eine hämische Miene machte – und dort das lärmende Gewühl, das Rasseln der Wagen, denen er aus dem Wege gehn mußte, die Blicke der Menschen, die er scheute – das alles malte sich in seiner Einbildungskraft im kleinen und erweckte ein wunderbares Gefühl in ihm, wie am Abend der Tag sich von der Dämmerung scheidet und die eine Hälfte des Himmels noch vom Abendrot erhellt ist, indes die andere schon im Dunkel ruht. –

Er fühlte ungewöhnliche Kraft in seiner Seele, sich über alles das hinwegzusetzen, was ihn darnieder drückte – denn wie klein war der Umfang, der alle das Gewirre umschloß, in welches seine Besorgnisse und Bekümmernisse verflochten waren, und vor ihm lag die große Welt. –

Aber dann kehrte wieder das wehmütige Gefühl zurück: wo sollte er nun in dieser großen öden Welt festen Fuß fassen, da er sich aus allen Verhältnissen herausgedrängt sahe? – Da wo auf einem kleinen Fleck der Erde die menschlichen Schicksale zusammenlaufen, war es nichts, gar nichts! –

Ihm fiel ein, daß verdrängt zu werden von Kindheit an sein Schicksal gewesen war – wenn er bei irgend etwas zusehen wollte, wobei es darauf ankam, sich hinzuzudrängen, so war jeder andere dreister wie er und drängte sich ihm vor – er glaubte, es sollte etwa einmal eine Lücke entstehen, wo er, ohne jemanden vor sich hinwegzudrängen, sich in die Reihe mit einfügen könnte – aber es entstand keine solche Lücke – und er zog sich von selbst zurück und sahe nun in der Ferne dem Gedränge zu, indem er einsam dastand. –

Und wenn er nun so einsam dastand, so gab ihm der Gedanke, daß er dem Gedränge nun so ruhig zusehen konnte, ohne sich selbst hineinzumischen, schon einigen Ersatz für die Entbehrung desjenigen, was er nun nicht zu sehen bekam – allein fühlte er sich edler und ausgezeichneter als unter jenem Gewimmel verloren. –

Sein Stolz, der sich emporarbeitete, siegte über den Verdruß, den er zuerst empfand – daß er an den Haufen sich nicht anschließen[238] konnte, drängte ihn in sich selbst zurück – und veredelte und erhob seine Gedanken und Empfindungen. –

Dies war nun auch der Fall bei dem einsamen Spaziergange an dem trüben und regnigten Nachmittage, wo er den hämischen Blicken seiner versammleten Mitschüler und der gänzlichen Vernachlässigung und dem unerträglichen Nichtbemerktwerden, das ihm bevorstand, entfloh, indem er aus dem Tore von Hannover dem einsamen Walde zueilte. –

Dieser einsame Spaziergang entwickelte auf einmal mehr Empfindungen in seiner Seele und trug mehr zur eigentlichen Bildung seines Geistes bei – als alle Schulstunden, die er je gehabt hatte, zusammengenommen. –

Dieser einsame Spaziergang war es, welcher Reisers Selbstgefühl erhöhte, seinen Gesichtskreis erweiterte und ihm eine anschauliche Vorstellung von seinem eignen wahren, isolierten Dasein gab; das bei ihm auf eine Zeitlang an keine Verhältnisse mehr geknüpft war, sondern in sich und für sich selbst bestand. –

Indem er einen Blick auf das Ganze des menschlichen Lebens warf, lernte er zuerst das Große im Leben von dessen Detail unterscheiden.

Alles, was ihn gekränkt hatte, schien ihm klein, unbedeutend und nicht der Mühe des Nachdenkens wert. –

Aber nun stiegen andre Zweifel, andre Besorgnisse in seiner Seele auf – die er schon lange bei sich genährt hätte – über den in undurchdringliches Dunkel gehüllten Ursprung und Zweck, Anfang und Ende seines Daseins – über das Woher und Wohin bei seiner Pilgrimschaft durchs Leben – die ihm so schwer gemacht wurde, ohne daß er wußte, warum? – Und was nun endlich aus dem allen kommen sollte. –

Dies erregte in ihm eine tiefe Melancholie. So wie er mühsam über die dürre Heide vor dem Walde im gelben Sande fortwanderte, umzog sich der Himmel immer trüber, indes ein feiner Staubregen seine Kleider durchnetzte – als er in den Wald kam, schnitt er sich einen Dornstock und wanderte weiter fort – da kam er an ein Dorf und machte sich eben allerlei süße Vorstellungen von dem stillen Frieden, der in diesen ländlichen Hütten herrschte, als[239] er sich in einem der Häuser ein paar Leute, die wahrscheinlich Mann und Frau waren, zanken und ein Kind schreien hörte. –

Also ist überall Unmut und Mißvergnügen und Unzufriedenheit, wo Menschen sind, dachte er und setzte seinen Stab weiter fort. –

Die einsamste Wüste wurde ihm wünschenswert – und da ihn endlich auch in dieser die tödliche Langeweile quälte, so blieb das Grab sein letzter Wunsch – und weil er nun nicht einsah, warum er sich die Jahre seines Lebens hindurch in der Welt von allen Seiten hatte müssen drücken, stoßen und wegdrängen lassen, so zweifelte er endlich an einer vernünftigen Ursach seines Daseins – sein Dasein schien ihm ein Werk des schrecklichen blinden Ohngefährs. –

Es wurde früher wie gewöhnlich Abend, weil der Himmel trübe war und es stärker anfing zu regnen – und da er zu Hause wieder anlangte, war es schon völlig dunkel – er setzte sich bei seiner Lampe nieder und schrieb an Philipp Reisern:

›Vom Regen durchnetzt und von Kälte erstarrt kehr ich nun zu dir zurück, und wo nicht zu dir – zum Tode – denn seit diesem Nachmittage ist mir die Last des Lebens, wovon ich keinen Zweck sehe, unerträglich. – Deine Freundschaft ist die Stütze, an der ich mich noch festhalte, wenn ich nicht unaufhaltsam in dem überwiegenden Wunsche der Vernichtung meines Wesens versinken will.‹ –

Und nun erwachte auf einmal wieder der Gedanke, sich den Beifall seines Freundes durch den Ausdruck seiner Empfindungen zu erwerben. – Dies war gleichsam die neue Stütze, woran sich seine Lebenslust wieder festhielt – und da den Nachmittag alle seine Empfindungen so äußerst stark und lebhaft gewesen waren, so wurde es ihm nicht schwer, sie wieder zurückzurufen. – Er hub also an:


Dir, Freund, will ich mein Leiden klagen,

O könnten dir es Worte sagen:

Ich weiß, du fühltest meinen Schmerz –

Mich kränkt nicht hoffnungslose Liebe,

Nicht kränkten unerfüllte Triebe

Nach Ehr und Gold mein Herz. –[240]


Dieser Anfang bezog sich zum Teil auf Philipp Reisers verliebte Launen, womit ihn dieser oft quälte, indem er ihm alle die allmählichen Fortschritte erzählte, die er in der Gunst seines Mädchens getan hatte – und seine Hoffnungen und Aussichten, die sich alle auf die Erreichung der Gegengunst seines Mädchens beschränkten. – Wofür nun Anton Reiser gar keinen Sinn hatte, dem es nie eingefallen war, sich die Liebe eines Mädchens zu erwerben, weil er es für ganz unmöglich hielt, daß ihm bei seiner schlechten Kleidung und bei der allgemeinen Verachtung, der er ausgesetzt war, je ein solcher Versuch gelingen würde. –

Denn so wie er die Verachtung, welche auf seinen Geist fiel, gleichsam mit zu sich selber rechnete, so rechnete er auch die schlechte Kleidung mit zu seinem Körper, der ihm denn ebenso wenig liebenswürdig als sein Verstand achtungswürdig vorkam. – Kurz, es war ihm der ungereimteste Gedanke von der Welt, daß er je von einem Frauenzimmer geliebt werden sollte. – Denn von den Helden, die in den Romanen und Komödien, die er gelesen hatte, von Frauenzimmern geliebt wurden, machte er sich ein so hohes Ideal, das er nie zu erreichen imstande zu sein glaubte. –

Die eigentlichen Liebesgeschichten waren ihm daher auch höchst langweilig, und am langweiligsten die Erzählungen von den Liebesabenteuern, womit ihn sein Freund Philipp Reiser unterhielt, und die er manche Stunde bloß aus Gefälligkeit für ihn anhörte.

Übrigens fielen diese Erzählungen seines Freundes immer sehr ins Romanhafte. – Die ganze Prozedur vom ersten freundschaftlichen Händedruck bis zur eigentlichen wechselseitigen Liebeserklärung mit allen Zweifeln, Besorgnissen und allmählichen Fortschritten, die dazwischen liegen, ging ihren vorgeschriebenen Gang wie in den Romanen – und was nun Anton Reiser in den Romanen gänzlich übergeschlagen oder doch nur flüchtig durchgelesen hatte, das mußte er sich jetzt von seinem Freunde der Länge nach erzählen lassen. –

Der Gedanke, daß ihn z.B. nicht hoffnungslose Liebe, sondern ganz andre Dinge kränkten, war also der natürlichste Eingang zu dem Gedicht an Philipp Reisern.[241]

Seine Zweifel und Besorgnisse wegen seines ängstlichen zwecklosen Daseins waren es, die ihn niederdrückten, und er fuhr fort:


Die Qual, die meine Seele fühlet,

Die mörderisch im Herzen wühlet,

Verbannet jede andre Pein –

Wer gab, in Tiefen hinzuschauen,

Um selbst mein Elend mir zu bauen,

Mir doch den tollen Vorwitz ein?


Grundlose Tiefen, die den Blicken

Nur Nacht und Graun entgegen schicken,

Und lohnen mit Melancholei –

Sie kömmt, daß auf dem ehrnen Throne

Sie nun in meiner Seele wohne,

Und rufet ihr Gefolg herbei. –


Nun kam das Gefolge: die Sorgen, der Gram:


Ihm folgt, den Tod in ihren Blicken,

Verzweiflung, ihre Köcher schicken

Die letzten Pfeile auf mich ab –


Nun sank die Melodie der aufeinanderfolgenden Empfindungen wieder in sanftes Mitleid mit sich selber zurück:


Ja, jede Lust muß ich nun meiden,

Mir blühen nicht des Lenzes Freuden, usw.


Hievon erhob sich der Gang der Ideen zu allgemeinen Betrachtungen über das Leben, die sich aber zuletzt wieder in eben den schrecklichen Zweifeln endigten, von welchen die Melodie ausgegangen war:


Mein Pfad geht über dürre Heide,

Hier flieht mich höhnend jede Freude

Und läßt nur Ekel mir zurück.[242]

Ich wandre – doch wohin ich reise?

Woher? – das sage mir der Weise,

Der mehr als ich mich selber kennt –

Mein Dasein – das sich kaum entschwinget

Dem Augenblick, der es verschlinget,

Und bang nach seinem Ziele rennt;


Wem soll ich dieses Dasein danken?

Wer setzt ihm diese engen Schranken?

Aus welchem Chaos stiegs empor?

In welche greuelvolle Nächte

Sinkts – wenn des Schicksals ehrne Rechte

Mir winket zu des Todes Tor? – –


Dies Gedicht floß gleichsam aus seiner Seele. – Selbst der Reim und das Versmaß machte ihm nur wenige Schwierigkeit, und er schrieb es in weniger als einer Stunde nieder. – Nachher fing er bald an, Gedichte zu machen, bloß um Gedichte zu machen, und dies gelang ihm nie so gut. –

Aber der Frühling und Sommer des Jahres 1775 verfloß ihm nun ganz poetisch. – Die angenehmen Shakespearenächte, welche er im Winter mit Philipp Reisern zugebracht hatte, wurden nun durch noch angenehmere Morgenspaziergänge verdrängt. –

Nicht weit von Hannover, wo der Fluß einen künstlichen Wasserfall bildet, ist ein kleines Gehölz, welches man nicht leicht irgendwo angenehmer und einladender finden kann. –

Hierher wurden Wallfahrten noch vor Sonnenaufgang angestellt – die beiden Wanderer nahmen sich ihr Frühstück mit, und wenn sie nun im Walde angelangt waren, so beraubten sie eine Menge Baumstämme ihres Mooses und bereiteten sich einen weichen Sitz, worauf sie sich lagerten und, wenn sie ihr Frühstück verzehrt hatten, sich einander wechselsweise vorlasen. – Hierzu wurden besonders Kleists Gedichte ausgewählt, die sie bei dieser Gelegenheit beinahe auswendig lernten.

Wenn sie dann am andern Tage wieder hinkamen, so suchten sie im ganzen Wäldchen erst ihren gestrigen Platz wieder und fanden[243] sich nun hier wie zu Hause in der großen freien Natur, welches ihnen eine ganz besondere herzerhebende Empfindung war. – Alles in diesem großen Umkreise um sie her gehörte ihren Augen, ihren Ohren und ihrem Gefühl – das junge Grün der Bäume, der Gesang der Vögel und der kühle Morgenduft.

Wenn sie dann wieder heimkehrten, so ging Philipp Reiser in seine Werkstatt und machte Klaviere, indes Anton Reiser die Schule besuchte, wo nun größtenteils schon eine ganz andere Generation seiner Mitschüler war, so daß er auch hier mit leichterm Herzen hingehen konnte. –

In manchen Stunden suchte dann Anton Reiser auch seine geliebte Einsamkeit wieder, ob er nun gleich einen Freund hatte – und wenn irgendein schöner Nachmittag war, so hatte er sich auf einer Wiese vor Hannover längst dem Flusse ein Plätzchen ausgesucht, wo ein kleiner klarer Bach über Kiesel rollte, der sich zuletzt in den vorbeigehenden Fluß ergoß. – Dies Plätzchen war ihm nun, weil er es immer wieder besuchte, auch gleichsam eine Heimat in der großen ihn umgebenden Natur geworden; und er fühlte sich auch wie zu Hause, wenn er hier saß, und war doch durch keine Wände und Mauern eingeschränkt, sondern hatte den freien ungehemmten Genuß von allem, was ihn umgab. Dies Plätzchen besuchte er nie, ohne seinen Horaz oder Virgil in der Tasche zu haben. – Hier las er Blandusiens Quell, und wie die eilende Flut


Obliquo laborat trepidare rivo.


Von hier sahe er die Sonne untergehen und betrachtete die sich verlängernden Schatten der Bäume. – An diesem Bache verträumte er manche glückliche Stunde seines Lebens. – Und hier besuchte ihn auch zuweilen die Muse, oder vielmehr, er suchte sie. – Denn er bemühte sich jetzt, ein großes Gedicht zustande zu bringen, und weil er diesmal bloß dichten wollte, um zu dichten, so gelang es ihm nicht wie vorher; der Wunsch, ein Gedicht zu machen, war diesmal eher bei ihm da als der Gegenstand, den er besingen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gutes zu folgen pflegt. –[244] Die Gedanken waren diesmal gesucht oder gemein – man sahe, was er schrieb, hatte sollen ein Gedicht werden. – Indes schimmerte auch durch diese schlechten Verse allenthalben seine schwermütige Laune durch – jedes lachende und angenehme Bild war gleichsam mit einem Flor überzogen. – Die Blätter färbten sich nur mit jungem Grün, um wieder zu verwelken. – Der Himmel war nur heiter, um sich wieder zu trüben. –

Philipp Reiser erteilte diesem Gedichte seinen Beifall nicht; und doch hatte Anton Reiser bei jedem Reime, den er mühsam hersetzte, darauf gerechnet. – Aber sein Freund war ein strenger und unparteiischer Richter, der nicht leicht einen matten Gedanken, einen gesuchten Reim oder ein Flickwort ungeahndet ließ. – Besonders machte er sich über eine Stelle in Anton Reisers Gedicht lustig, die hieß:


So wechselt Lust und Schmerz im ganzen Leben ab,

Und selbst das Leben sinkt ins stille kühle Grab. –


Philipp Reiser konnte nicht aufhören, über diese Stelle, die er in einem komischen Tone deklamierte, seinen Witz spielen zu lassen. – Er nannte seinen Freund seinen lieben Hans Sachs – und machte ihm mehr dergleichen Lobsprüche, die eben nicht allzu aufmunternd waren. – Indes ließ er ihn doch nicht ganz sinken – sondern hob einige erträgliche Stellen aus dem Gedicht heraus, denen er denn seinen Beifall nicht ganz versagte. –

Durch eine solche wechselseitige Mitteilung und fruchtbare Kritik wurde nun das Band zwischen diesen beiden Freunden immer fester geknüpft, und Anton Reisers Streben, er mochte Verse oder Prosa niederschreiben, ging unablässig dahin, sich den Beifall seines Freundes zu erwerben. –

Damals ereignete sich nun ein Vorfall, der Anton Reisers Herzen eben nicht viel Ehre zu machen scheint, ob er gleichwohl in der Natur der menschlichen Seele gegründet ist. –

Der Sohn des Pastor Marquard, welcher während der Zeit die Universität bezogen hatte und von dort schwindsüchtig wieder zurückgekommen war, wurde, nachdem man alle möglichen Mittel[245] vergeblich angewandt, von den Ärzten aufgegeben, die in diesem Frühjahr seinen Tod als gewiß prophezeiten; und Reisers erste Gedanken, da er dies hörte, waren, wie er auf diesen Vorfall ein Gedicht machen wollte, das ihm Ruhm und Beifall und auch vielleicht die Gunst des Pastor Marquard wieder zuwege brächte. Kurz, er hatte das Gedicht schon acht Tage vorher angefangen, ehe der junge Marquard starb. –

Statt nun daß er dies Gedicht hätte machen sollen, weil er über diesen Vorfall betrübt war, suchte er sich vielmehr selbst in eine Art von Betrübnis zu versetzen, um auf diesen Vorfall ein Gedicht machen zu können. – Die Dichtkunst machte ihn also diesmal wirklich zum Heuchler. –

Allein der junge Marquard hatte sich auch die letzte Zeit um Reisern eben nicht viel bekümmert und sich seiner gegen die Spöttereien und Beleidigungen seiner Mitschüler nicht angenommen – sondern, so wie es zuweilen kam, wohl selbst mit eingestimmt. –

Daß Reisern also sein Gedicht auf den jungen Marquard mehr am Herzen lag als der junge Marquard selbst, war wohl sehr natürlich, obgleich es wieder nicht zu billigen war, daß er Empfindungen log, die er nicht hatte – er war auch dabei nicht ganz einig mit sich selber, sondern sein Gewisse machte ihm häufige Vorwürfe, die er denn dadurch übertäubte, daß er sich selbst zu überreden suchte, er empfinde wirklich eine solche Wehmut über den frühen Tod des jungen Marquard, der in der Blüte seiner Jahre allen Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft dieses Lebens entrissen ward. –

Weil nun dies Gedicht im Grunde Heuchelei war, so gelang es ihm auch wiederum nicht und erhielt auch den Beifall seines Freundes nicht, der fast an jeder Zeile etwas zu tadeln fand – auch der Pastor Marquard, dem er das Gedicht überreichen ließ, nahm keine besondere Rücksicht darauf, und er erreichte also seinen Zweck dadurch gar nicht. –

Aber es ereignete sich bald darauf ein Vorfall, der ihm Veranlassung gab, sich auf eine weniger affektierte Art in poetische Begeisterung zu versetzen. Es fügte sich nämlich im Anfang des Sommers, daß ein junger Mensch von neunzehn Jahren, der ein[246] ansehnliches Vermögen besaß und ein sehr guter Freund von Philipp Reisern war, beim Baden im Flusse ertrank. –

Philipp Reiser trug bei dieser Gelegenheit seinem Freunde auf, daß er auf diesen Vorfall ein Gedicht, so gut es nur in seinen Kräften stünde, verfertigen sollte – er wollte es drucken lassen, und wenn es auch nicht gedruckt würde, so würde es doch immer, wenn es gut geriete, als ein Produkt des Geistes schätzbar sein.

Dieser Auftrag von seinem Freunde machte Anton Reisers ganzen Ehrgeiz rege; er suchte sich den Vorfall so lebhaft wie möglich vors Auge zu bringen, und nachdem er anderthalb Tage lang Ausdruck gegen Ausdruck abgewogen und seine Seelenkräfte angestrengt hatte, um sich den Beifall seines Freundes zu verdienen, waren ihm am Ende folgende Strophen gelungen:


Wenn seufzend unterm Druck schwer auf ihn ruh'nder Jahre

Ein frommer Greis erblaßt, wird Wehmut unser Herz;

Doch legt ein rascher Tod den Jüngling auf die Bahre,

Der kaum zu blühn begann – so wird die Wehmut Schmerz.


Der braunen Nacht entstieg der schönste Sommermorgen,

Und ruhig atmete noch früh des Jünglings Brust –

Ein sanfter Schlaf verscheucht rund um ihn her die Sorgen,

Bis ihn Aurora weckt zu einem Tag voll Lust.


Er sahe diesen Tag – und tausend frohen Tagen

Sah er entgegen noch voll starker Zuversicht –

Nicht bange Ahndungen, die seinen Tod ihm sagen,

Beklemmen seine Brust, die nur von Freuden spricht. –


Am heitern Himmel glänzt die unumwölkte Sonne

Dem Jüngling freundlich zu und winkt ihn auf die Flur –

Da strahlte um ihn her in hoher stiller Wonne

Und ernst in ihrer Pracht die feiernde Natur.


Doch welch ein Schatten bebt dort durch den goldnen Schimmer? –[247]

Und immer näher bebt's? – o Jüngling, zieh zurück

Den allzukühnen Fuß – zu spät! – Welch ein Gewimmer! –

Ach Gott! – den Jüngling trifft sein trauriges Geschick.


Es lauerte der Tod auf ihn in stillen Fluten,

Und über seinen Raub rauscht er nun stolz dahin –

Des Jünglings Freunde sehn's, und ihre Herzen bluten,

Sie fühlen den Verlust und klagen laut um ihn.


Doch welch ein Wonnetod, wo solche Zähren fließen,

Wo sanft ein Auge weint, aus dem der Himmel lacht –

O selig, wenn nun einst sich meine Augen schließen,

Wenn dann auch um mich hier die Freundschaft zärtlich klagt!


Das letztere bezog sich auf den Umstand, daß ein junges schönes Frauenzimmer, die eine nahe Anverwandtin von dem Ertrunkenen war, und mit deren Bruder sich dieser eben gebadet hatte, auf die erhaltene Nachricht von dem unglücklichen Vorfall sogleich aus der Stadt herbeieilte und bei der Menge Menschen, die am Flusse standen, ihre Tränen nicht verbarg, welches Anton Reiser mit Rührung bemerkte, so daß er den Toten fast beneidet hätte, um den solche Tränen flossen. –

Reiser war nämlich auch in der Absicht, sich zu baden, an den Fluß gegangen, und eben, da er hinkam, war der junge Mensch ertrunken, dessen Gefährte sich noch nicht einmal wieder angekleidet hatte; er sahe darauf die gleichgültigen und bei der Sache uninteressierten Zuschauer sich allmählich versammlen, sahe den Körper des jungen Menschen, den er selbst durch Philipp Reisern sehr gut gekannt hatte, herausziehen und alle Mittel, ihn wieder zum Leben zu bringen, vergeblich anwenden – dies alles machte einen so lebhaften Eindruck auf ihn, daß das Gedicht, welches er auf diesen Vorfall verfertigte, eine gewisse Wahrheit im Ausdruck erhielt und sich dadurch von dem Gedicht auf den Tod des jungen Marquard sehr merklich unterschied.

Dies Gedicht fand nun, einige Härten ausgenommen, Philipp[248] Reisers Beifall wieder, welches für Anton Reisern so aufmunternd war, daß er nun auch ohne Veranlassung durch eigne Aufsätze in Prosa und in Versen sich seines Freundes Beifall zu erwerben suchte. –

Allein die Aufsätze und Gedichte ohne eigentliche Veranlassung wollten ihm nie recht gelingen – er quälte sich vierzehn Tage lang mit einem Gegenstande, den er sich zu besingen vorgenommen hatte; dies war eine Gegeneinanderstellung des Weltmanns, dessen Hoffnung sich mit diesem Leben endigt, und des Christen, der eine frohe Aussicht auf die Zukunft jenseits des Grabes hat. –

Diese Idee war ein Überbleibsel seiner Lektüre von Youngs Nachtgedanken, und da ihm der Gegenstand, worüber er Verse machen wollte, gleichgültig war, indem er keine besondre Veranlassung zum Dichten als seine Neigung und das Streben nach dem Beifall seines Freundes hatte, so drängte sich ihm das Resultat seiner Lektüre von Youngs Nachtgedanken am ersten auf, dem er noch eine ziemlich vernünftige Wendung gab, indem er seinen Christen alle erlaubten Freuden des Weltmanns genießen ließ und ihm dennoch den Vorteil einer frohen Aussicht in die Ewigkeit dazu gab, so daß er gegen den Weltmann auf allen Seiten gewinnen mußte. – Aus dieser zwar richtigen, aber zu gesuchten und gekünstelten Idee entstand denn folgendes zweite Gedicht, das wiederum Reisers Beifall nicht erhielt, und womit er auch selbst, ohngeachtet der Mühe, die es ihm gekostet hatte, nie zufrieden war:


Der Weltmann und der Christ

Einst gingen übern Blumenwiesen

Ein Christ und Weltmann einen Pfad:

Hier, wo der Freude Bäche fließen,

Ward jeder süßer Freuden satt.


Der Weltmann nutzte klug sein Leben,

Er hielts für seine Ewigkeit –

Nie konnte sich sein Geist erheben

Bis über sich und Welt und Zeit.[249]


Mit Klugheit nutzt' er jede Freude,

Die die Natur umsonst ihm bot:

Ihm lacht die Flur im Blumenkleide,

Ihm glänzet früh das Morgenrot. –


Vor diesen edlern Erdenfreuden

Verschloß auch nicht der Christ die Brust,

Und, nicht geboren nur zu Leiden,

Genoß auch er des Weltmanns Lust.


Nur mit dem kleinen Unterscheide:

Der Freude Anfang war ihm da,

Wo jener seiner kurzen Freude

Furchtbarem End' entgegen sah. –


Dieser Sommer war also für Anton Reiser ein recht poetischer Sommer. – Seine Lektüre mit dem Eindruck, den die schöne Natur damals auf ihn machte, zusammengenommen, tat eine wunderbare Wirkung auf seine Seele; alles erschien ihm in einem romantischen bezaubernden Lichte, wohin sein Fuß trat. –

Aber ohngeachtet seines genauen Umganges mit Reisern liebte er dennoch vorzüglich die einsamen Spaziergänge. – Nun war vor dem neuen Tore in Hannover der Gang auf der Wiese längst dem Flusse nach dem Wasserfall zu besonders einladend für seine romantischen Ideen.

Die feierliche Stille, welche in der Mittagsstunde auf dieser Wiese herrschte; die einzelnen hie und da zerstreuten hohen Eichbäume, welche mitten im Sonnenschein, so wie sie einsam standen, ihren Schatten auf das Grüne der Wiese hinwarfen – ein kleines Gebüsch, in welchem man versteckt das Rauschen des Wasserfalls in der Nähe hörte – am jenseitigen Ufer des Flusses der angenehme Wald, in welchem er mit Reisern des Morgens in der Frühe spazieren gegangen war – in der Ferne weidende Herden; und die Stadt mit ihren vier Türmen und dem umgebenden, mit Bäumen bepflanzten Walle, wie ein Bild in einem optischen Kasten. – Dies zusammengenommen versetzte ihn allemal in jene[250] wunderbare Empfindung, die man hat, sooft es einem lebhaft wird, daß man in diesem Augenblicke nun gerade an diesem Orte und an keinem andern ist, daß dies nun unsere wirkliche Welt ist, an die wir so oft als an eine bloß idealische Sache denken. –

Es fällt einem ein, daß man sich bei der Lektüre von Romanen immer wunderbarere Vorstellungen von den Gegenden und Örtern gemacht hat, je weiter man sie sich entfernt dachte. Und nun denkt man sich mit allen großen und kleinen Gegenständen, die einen jetzt umgeben, z.B. in Vorstellung eines Einwohners von Peking – dem dies alles nun ebenso fremd, so wunderbar deuchten müßte – und die uns umgebende wirkliche Welt bekommt durch diese Idee einen ungewohnten Schimmer, der sie uns ebenso fremd und wunderbar darstellt, als ob wir in dem Augenblick tausend Meilen gereist wären, um diesen Anblick zu haben. – Das Gefühl der Ausdehnung und Einschränkung unsers Wesens drängt sich in einen Moment zusammen, und aus der vermischten Empfindung, welche dadurch erzeugt wird, entsteht eben die sonderbare Art von Wehmut, die sich unserer in solchen Augenblicken bemächtigt. –

Reiser fing schon damals an, über dergleichen Erscheinungen bei sich selber nachzudenken und zu untersuchen, wie die Gegenstände solche Eindrücke auf ihn machen könnten – allein die Eindrücke selbst waren noch zu lebhaft, als daß er kaltblütige Reflexionen darüber hätte anstellen können – auch war seine Denkkraft noch nicht geübt und nicht stark genug, sich die aufsteigenden Bilder der Phantasie gehörig unterzuordnen – dazu kam eine gewisse Trägheit und Hinsinken in der Behaglichkeit des Genusses, wodurch ebenfalls seine Reflexionen wieder gehemmt wurden. –

Demohngeachtet aber hatte er schon seit dem vorigen Sommer im Sinn gehabt, einen Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften zu schreiben und diesen in das Hannoversche Magazin einrücken zu lassen – er sammlete hiezu beständig Ideen und hatte genug Gelegenheit, sie zu sammlen, weil seine eigene Erfahrung sie ihm täglich an die Hand gab. – Allein mit dem ganzen Aufsatze kam er doch nicht zustande.[251]

Auch konnte er damals nicht begreifen, warum die einzelnen auf der Wiese hin und her zerstreuten hohen Bäume mit ihrem Schatten in der Mittagssonne einen so wunderbaren Eindruck auf ihn machten – er fiel nicht darauf, daß eben der einsame Stand derselben in großen und unregelmäßigen Zwischenräumen der Gegend das majestätische feierliche Ansehen gab, wodurch sein Herz immer so gerührt wurde. – Diese einsamen Bäume machten ihm seine eigne Einsamkeit, indem er unter ihnen umherwandelte, gleichsam heilig und ehrwürdig – sooft er unter diesen Bäumen ging, lenkten sich seine Gedanken auf erhabene Gegenstände, seine Schritte wurden langsamer, sein Haupt gesenkt und sein ganzes Wesen ernster und feierlicher – dann verlor er sich in dem naheliegenden niedrigen Gebüsch und setzte sich in den Schatten eines Gesträuchs, wo er denn beim Geräusch des nahen Wasserfalls sich entweder in angenehmen Phantasien wiegte oder las.

Es ging auf die Weise fast kein Tag hin, wo seine Phantasie nicht mit neuen Bildern aus der wirklichen sowohl als aus der idealischen Welt genährt worden wäre. –

Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahre die Leiden des jungen Werthers erschienen waren, welche nun zum Teil in alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei usw., eingriffen. –

Er bekam sie im Anfange des Sommers durch Philipp Reisern in die Hände, und von der Zeit an blieben sie seine beständige Lektüre und kamen nicht aus seiner Tasche. – Alle die Empfindungen, die er an dem trüben Nachmittage auf seinem einsamen Spaziergange gehabt hatte, und welche das Gedicht an Philipp Reisern veranlaßten, wurden dadurch wieder lebhaft in seiner Seele. – Er fand hier seine Idee vom Nahen und Fernen wieder, die er in seinen Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften bringen wollte – seine Betrachtungen über Leben und Dasein fand er hier fortgesetzt. – Wer kann sagen, das ist, da alles mit Wetterschnelle vorbeiflieht? – Das war eben der Gedanke, der ihm schon so lange seine eigne Existenz wie Täuschung, Traum und Blendwerk vorgemalt hatte. –[252] Was aber nun die eigentlichen Leiden Werthers anbetraf, so hatte er dafür keinen rechten Sinn. – Die Teilnehmung an den Leiden der Liebe kostete ihm einigen Zwang – er mußte sich mit Gewalt in diese Situation zu versetzen suchen, wenn sie ihn rühren sollte – denn ein Mensch, der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes, ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein, weil es ihm unmöglich fiel, sich selbst jemals als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer zu denken. – Wenn Werther von seiner Liebe sprach, so war ihm nicht viel anders dabei, als wenn ihn Philipp Reiser von den allmählichen Fortschritten, die er in der Gunst seines Mädchens getan hatte, oft stundenlang unterhielt. –

Aber die allgemeinen Betrachtungen über Leben und Dasein, über das Gaukelspiel menschlicher Bestrebungen, über das zwecklose Gewühl auf Erden, die dem Papier lebendig eingehauchten echten Schilderungen einzelner Naturszenen und die Gedanken über Menschenschicksal und Menschenbestimmung waren es, welche vorzüglich Reisers Herz anzogen.

– Die Stelle, wo Werther das Leben mit einem Marionettenspiel vergleicht, wo die Puppen am Draht gezogen werden, und er selbst auf die Art mit spielt oder vielmehr mit gespielt wird, seinen Nachbar bei der hölzernen Hand ergreift und zurückschaudert – erweckte bei Reisern die Erinnerung an ein ähnliches Gefühl, das er oft gehabt hatte, wenn er jemanden die Hand gab. Durch die tägliche Gewohnheit vergißt man am Ende, daß man einen Körper hat, der ebensowohl allen Gesetzen der Zerstörung in der Körperwelt unterworfen ist als ein Stück Holz, das wir zersägen oder zerschneiden, und daß er sich nach eben den Gesetzen wie jede andere von Menschen zusammengesetzte körperliche Maschine bewegt. – Diese Zerstörbarkeit und Körperlichkeit unsers Körpers wird uns nur bei gewissen Anlässen lebhaft – und macht, daß wir vor uns selbst erschrecken, indem wir plötzlich fühlen, daß wir etwas zu sein glaubten, was wir wirklich nicht sind und statt dessen etwas sind, was wir zu sein uns fürchten. – Indem man nun einem andern die Hand gibt und bloß den Körper sieht und berührt, indem man von dessen Gedanken keine Vorstellung hat,[253] so wird dadurch die Idee der Körperlichkeit lebhafter, als sie es bei der Betrachtung unseres eignen Körpers wird, den wir nicht so von den Gedanken, womit wir ihn uns vorstellen, trennen können und ihn also über diese Gedanken vergessen.

Nichts aber fühlte Reiser lebhafter, als wenn Werther erzählt, daß sein kaltes freudenloses Dasein neben Lotten in gräßlicher Kälte ihn anpackte. – Dies war gerade, was Reiser empfand, da er einmal auf der Straße sich selbst zu entfliehen wünschte und nicht konnte und auf einmal die ganze Last seines Daseins fühlte, mit der man einen und alle Tage aufstehen und sich niederlegen muß. – Der Gedanke wurde ihm damals ebenfalls unerträglich und führte ihn mit schnellen Schritten an den Fluß, wo er die unerträgliche Bürde dieses elenden Daseins abwerfen wollte – und wo seine Uhr auch noch nicht ausgelaufen war. –

Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen bis auf den Punkt der Liebe im Werther wieder zu finden. – ›Laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.‹ – An diese Worte dachte er, sooft er das Buch aus der Tasche zog – – er glaubte sie auf sich vorzüglich passend. – Denn bei ihm war es, wie er glaubte, teils Geschick, teils eigne Schuld, daß er so verlassen in der Welt war; und so wie mit diesem Buche konnte er sich doch auch selbst mit seinem Freunde nicht unterhalten. –

Fast alle Tage ging er nun bei heiterm Wetter mit seinem Werther in der Tasche den Spaziergang auf der Wiese längst dem Flusse, wo die einzelnen Bäume standen, nach dem kleinen Gebüsch hin, wo er sich wie zu Hause fand und sich unter ein grünes Gesträuch setzte, das über ihm eine Art von Laube bildete – weil er nun denselben Platz immer wieder besuchte, so wurde er ihm fast so lieb wie das Plätzchen am Bache – und er lebte auf die Weise bei heiterm Wetter mehr in der offenen Natur als zu Hause, indem er zuweilen fast den ganzen Tag so zubrachte, daß er unter dem grünen Gesträuch den Werther und nachher am Bache den Virgil oder Horaz las. –

Allein die zu oft wiederholte Lektüre des Werthers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine Denkkraft um vieles zurück, indem[254] ihm die Wendungen und selbst die Gedanken in diesem Schriftsteller durch die öftere Wiederholung so geläufig wurden, daß er sie oft für seine eigenen hielt und noch verschiedene Jahre nachher bei den Aufsätzen, die er entwarf, mit Reminiszenzien aus dem Werther zu kämpfen hatte, welches der Fall bei mehrern jungen Schriftstellern gewesen ist, die sich seit der Zeit gebildet haben. – Indes fühlte er sich durch die Lektüre des Werthers ebenso wie durch den Shakespeare, sooft er ihn las, über alle seine Verhältnisse erhaben; das verstärkte Gefühl seines isolierten Daseins, indem er sich als ein Wesen dachte, worin Himmel und Erde sich wie in einem Spiegel darstellt, ließ ihn, stolz auf seine Menschheit, nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen sein, das er sich in den Augen andrer Menschen schien. – Was Wunder also, daß seine ganze Seele nach einer Lektüre hing, die ihn, sooft er sie kostete, sich selber wiedergab! –

Nun fiel auch in diesen Zeitpunkt gerade die neue Dichterepoche, wo Bürger, Hölty, Voß, die Stollberge usw. auftraten und ihre Gedichte zuerst in den Musenalmanachen drucken ließen, die damals ihren Anfang genommen hatten. – Der diesjährige Musenalmanach enthielt vorzüglich vortreffliche Gedichte von Bürger, Hölty, Voß usw. –

Die beiden Balladen Leonore von Bürger und Adelstan von Hölty lernte Reiser sogleich auswendig, wie er sie las – und diese beiden auswendig gelernten Balladen sind ihm nachher auf seinen Wanderungen oft sehr zustatten gekommen. Schon damals versammlete er öfters in der Dämmerung des Abends entweder bei seinem Wirt zu Hause oder bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, einen Zirkel um sich her und deklamierte Leonore oder Adelstan und Röschen – und teilte auf die Weise mit den Verfassern das Vergnügen des Genusses von dem Beifall, den ihre Werke erhielten – denn so gut war er gesinnt, daß er diesen Beifall immer in ihrer Seele fühlte und sie sich in denselben Zirkel wünschte. – Aber seine Verehrung gegen die Verfasser solcher Werke, wie die Leiden des jungen Werthers und verschiedene Gedichte im Musenalmanach waren, fing auch nun an, ausschweifend zu werden – er vergötterte diese Menschen in seinen Gedanken und würde es[255] schon für eine große Glückseligkeit gehalten haben, nur einmal ihres Anblicks zu genießen. – Nun lebte Hölty damals in Hannover, und ein Bruder desselben war Reisers Mitschüler – und hätte ihn leicht mit dem Dichter bekannt machen können. – Aber so weit ging damals noch Reisers Selbstverkennung, daß er es nicht einmal wagte, Höltys Bruder diesen Wunsch zu entdecken, und sich selbst mit einer Art von bitterm Trotz dies ihm so naheliegende und so sehr gewünschte Glück versagte – indes suchte er jede Gelegenheit auf, mit Höltys Bruder zu sprechen, und jede Kleinigkeit, welche dieser ihm von dem Dichter erzählte, war ihm wichtig – und wie oft beneidete er diesen jungen Menschen, daß er der Bruder desjenigen war, welchen Reiser fast unter die Wesen höherer Art zählte; daß er mit ihm vertraulich umgehn, ihn, sooft er wollte, sprechen und ihn ›du‹ nennen konnte.

Diese ausschweifende Ehrfurcht gegen Dichter und Schriftsteller nahm nachher mehr zu als ab; er konnte sich kein größeres Glück denken, als dereinst einmal in diesem Zirkel Zutritt zu haben – denn er wagte es nicht, sich ein solches Glück anders als im Traume vorzuspiegeln. –

Seine Spaziergänge wurden ihm nun immer interessanter; er ging mit Ideen, die er aus der Lektüre gesammlet hatte, hinaus und kehrte mit neuen Ideen, die er aus der Betrachtung der Natur geschöpft hatte, wieder herein. – Auch machte er wieder einige Versuche in der Dichtkunst, die sich aber immer um allgemeine Begriffe herumdrehten und sich wieder zu seiner Spekulation hinneigten, die doch immer seine Lieblingsbeschäftigung war. –

So ging er einmal auf der Wiese, wo die hin und her zerstreuten hohen Bäume standen, und seine Ideen stiegen auf einer Art von Stufenleiter bis zu dem Begriff des Unendlichen empor. – Dadurch verwandelte sich seine Spekulation in eine Art von poetischer Begeisterung, wozu sich denn die Begierde, den Beifall seines Freundes zu erhalten, gesellte – er dachte sich ein Ideal eines Weisen, eines Menschen, der so viele Ideen hat, als einem Sterblichen nur möglich sind – und der dennoch immer eine Lücke in sich fühlt, die nur durch die Idee vom Unendlichen ausgefüllt[256] werden kann, und so brachte er dann wieder mit einigem Zwang wegen des Ausdrucks folgendes Gedicht zuwege:


Die Seele des Weisen

Des Weisen Seel' in ihrem Fluge

Erhub sich über Wolken hoch;

Und folgte kühn dem innern Zuge,

Der mächtig himmelan sie zog. –


Sie strebt, das Leere auszufüllen,

Das sie in sich mit Ekel sieht,

Und forscht, um die Begier zu stillen,

Nach Wahrheit, die ihr stets entflieht.


Sie türmt Gedanken auf Gedanken,

Durchschauet kühn der Himmel Heer,

Erschwingt den Weltbau ohne Schranken,

Doch der Gedanke läßt sie leer. –


Sie wagt es nun, sich selbst zu denken,

Sich, die so oft sich selbst enflieht;

Wagt's, in ihr Sein sich zu versenken,

Und sieht, daß sie sich selbst nicht g'nügt. –


Da hub sich hoch mit Adlerschwingen

Des Weisen Seele über sich –

Zu dir, den alle Wesen singen,

Und dachte, Gott, Jehova, dich.


Und nun fühlt sie die weite Leere

In sich erfüllt mit Seligkeit,

Und schwimmt in einem Freudenmeere,

Weil sie sich ihres Gottes freut.[257]


So wie er nun den Begriff von Gott in ein Gedicht gezwängt hatte, suchte er auch den Begriff von der Welt in Verse zu bringen. – So lief seine ganze Dichtkunst auf allgemeine Begriffe hinaus. – Das Detail der Natur in und außer dem Menschen zu schildern, dahin zog ihn seine Neigung nie. – Seine Einbildungskraft arbeitete beständig, die großen Begriffe von Welt, Gott, Leben, Dasein usw., die er mit seinem Verstande zu umfassen gesucht hatte, nun auch in poetische Bilder zu kleiden – und diese poetischen Bilder selbst waren immer das Große in der Natur, als Wolken, Meer, Sonne, Gestirne usw.

Das Gedicht über die Welt war weit mehr Spekulation als Gedicht und wurde daher das Gezwungenste, was man sich denken kann, es hub sich an:


Der Mensch entschwinget sich dem Staube

Und mit ihm seine Welt –

Dem Grabe wird der Mensch zum Raube

Und mit ihm seine Welt –


Philipp Reiser tadelte dies Gedicht durchweg, ausgenommen folgenden Vers, den er erträglich fand:


Der häuft sich seine Welt mit Schätzen

Und der mit Lorbeern an;

Und jeder findet sein Ergötzen

Am Spiel, das er ersann. –


Reisers Phantasie lag jetzt mit seiner Denkkraft im Kampfe; sie wollte bei jeder Gelegenheit in das Gebiet derselben eingreifen und die allerabstraktesten Begriffe wieder in Bilder hüllen. – Dies war für Reisern oft ein ängstlicher qualvoller Zustand – und in einem solchen Zustande hatte er das Gedicht über die Welt hervorgebracht, das weder eigentliche Spekulation noch Poesie, sondern ein verunglücktes Mittelding von beiden war.

Da nun eine Zeitlang regnigtes Wetter einfiel, so wich Reiser dennoch nicht von seiner einsamen poetischen Lebensart ab.

Er schloß sich in seine Kammer ein, wo er ein altes baufälliges[258] Klavier für sich selbst, so gut er konnte, wieder zurecht brachte und es mit vieler Mühe stimmte. – Bei diesem Klaviere saß er nun den ganzen Tag und lernte, da er die Noten kannte, fast alle Arien aus der Jagd, aus dem Tod Abels usw. für sich selber singen und spielen – dazwischen las er den Tom Jones von Fielding und Hallers Gedichte verschiedenemal durch und brachte einige Wochen in dieser Einsamkeit fast ebenso vergnügt zu als die, wo er in seinem vorigen Logis auf dem Boden Philosophie studierte. – Hallers Gedichte konnte er beinahe auswendig.

Hier besuchte ihn Philipp Reiser einmal eines Nachmittags und gab ihm den Auftrag, eine Chorarie zu verfertigen, die er alsdann in Musik setzen wolle. – Dies war für Anton Reisern ein so ehrenvoller und ermunternder Auftrag, daß er sich, sobald er allein war, zum Dichten hinsetzte, und indem er immer einen Akkord auf dem Klavier dazwischen anschlug, in weniger als einer Stunde folgende Verse hervorgebracht hatte:


Der Herr ist Gott – o falle nieder

Und rausche mächtig hohe Lieder

Dem Ewgen, der dich schuf, Natur!

Rauscht eures Gottes Lob, ihr Winde,

Verkündigt es, ihr stillen Gründe,

Ihr Blumen, duftet's auf der Flur!


– – – – – –

Ihr Wolken donnert ihm zu Ehren,

Seid nicht zu seinem Lobe stumm,

Ihr Höhlen und ihr Felsengänge,

Und widerhallt die Lobgesänge

Zu eures großen Schöpfers Ruhm!


Und was nur lebt und denkt auf Erden,

Das müsse ganz zum Danke werden

Und loben Gott durch Fröhlichkeit –

So wird dem Schöpfer aller Wesen

Von dem, was er zum Sein erlesen,

Ein ewigtönend Lied geweiht.[259]


Philipp Reiser setzte also diese Verse in Musik, und sie wurden nun wirklich im Chore gesungen, ohne daß jemand den Verfasser wußte. – Das neue Stück fand viel Beifall, und jedermann war besonders mit dem Text zufrieden – es schmeichelte auch Anton Reisern nicht wenig, da er seine eignen Worte von seinen Mitschülern, die ihn so verachteten, singen und sie ihren Beifall darüber bezeigen hörte, – aber er sagte keinem einzigen, daß die Verse von ihm wären – sondern genoß lieber bei sich selbst des stillen Triumphs, den ihm dieser ungesuchte Beifall gewährte. –

Seine Gedanken waren es doch, die jetzt zu so oft wiederholten Malen, als das neue Stück gesungen wurde, die Aufmerksamkeit einer Anzahl Menschen, die sangen, und derer, die zuhörten, beschäftigten – wenn irgend etwas fähig ist, der Eitelkeit eines Menschen, der Verse macht, Nahrung zu geben, so ist es, wenn man die Gedanken und Ausdrücke desselben für würdig hält, in Musik gesetzt zu werden. – Jedes Wort scheint dadurch gleichsam einen höhern Wert zu erhalten – und die Empfindung, welche Anton Reisern darüber anwandelte, wenn er seine Arien singen hörte, mag vielleicht bei einem jeden, der einmal sein eigenes Singestück vollstimmig und bei einer beträchtlichen Anzahl Zuschauer aufführen hörte, sich im Innern seiner Seele geregt haben; auch hat man lebende Beispiele davon, was dergleichen Triumphe für unerhörte Ausbrüche der Eitelkeit bei gewissen Personen veranlaßt haben. –

Anton Reisers Triumph dauerte nicht lange – denn sobald man erfuhr, wer der Verfasser dieser Verse sei, so fand man daran allerlei zu tadeln, und einige von den Chorschülern, welche Kleists Gedichte gelesen hatten, behaupteten geradezu, daß sie aus dem Kleist ausgeschrieben wären. – Nun mochten freilich wohl Reminiszenzien darin sein, aber der letzte Gedanke, von dem, was Gott zum Sein erlesen habe, drehte sich wieder um Reisers metaphysische Spekulation, inwiefern nur den lebenden und denkenden Geschöpfen eigentliches Dasein zugeschrieben werden könne. – Philipp Reiser war mit diesem Gedichte auch insoweit zufrieden, bis auf die Natur, die wie eine Dame vor Gott niederknieen sollte – welches zu gewagte Bild er tadelte. –[260] Während daß Philipp Reiser also Klaviere machte, um zu leben, beschäftigte sich Anton Reiser damit, Verse zu machen, welche jener ihm kritisieren mußte, der selbst nie einen Vers zu machen versucht hatte und also auch nicht eifersüchtig war auf ihn – vielmehr gab er ihm zuweilen selbst ein Thema zu bearbeiten – wie unter andern einmal, daß er Philipp Reisers Zustand, seine verliebten Leiden, sein Emporarbeiten und wieder Sinken in dessen Namen besingen sollte – und ohne daß damals noch an den Mond so viele Seufzer und verliebte Klagen wie nachher im Siegwart und unzähligen Liedern gerichtet waren, hub Reiser seinen Gesang an:


Was blickest du so mitleidsvoll

Vom Himmel, stiller Mond, mich an?

Weißt du vielleicht den Kummer wohl,

Den ich nur leise klagen kann? usw.


Und dann in einem der folgenden Verse in Beziehung auf Reisers Zustand:


Oft will ich mich erheben

Und sinke schwer zurück;

Und fühle dann mit Beben

Mein trauriges Geschick. –


Bei diesem allen versäumte auch Anton Reiser damals seine öffentlichen Schulstunden nicht, wo der neue Direktor, der, wie schon erwähnt ist, bei ein wenig Pedanterie doch im Grunde ein Mann von Geschmack sowohl als Kenntnissen war, Deklamationsübungen anstellte, die Reisers ganzen Ehrgeiz rege machten. –

Allein derjenige, welcher nun zum Deklamieren öffentlich auftreten wollte, mußte wenigstens ein gutes Kleid haben, welches Reisern fehlte, der außer seinem Kleide von bedientenmäßigen grauen Tuche nichts als einen alten Überrock hatte, und in keinem von beiden wagte er es aufzutreten. – Seine schlechte Kleidung[261] war es also, welche ihm hier aufs neue im Wege stand und seinen Mut niederschlug.

Endlich wurde denn doch auch dies Hindernis gehoben, indem der Prinz wieder so viel für ihn hergab, daß ihm ein gutes Kleid konnte geschafft werden. –

Und nun ging alle sein Denken und Trachten dahin, wie er ein Gedicht verfertigen wolle, das er für würdig hielt, es öffentlich zu deklamieren. –

Nun war es gar nicht gewöhnlich, daß irgend jemand ein Gedicht, welches er deklamieren wollte, selbst verfertigte, sondern ein jeder schrieb sich irgendwo eins aus und legte beim Deklamieren das Papier vor sich hin oder gab es dem Direktor, welcher nachlas. –

Reiser hatte sich nun aber einmal darauf gesetzt, das Gedicht, welches er zuerst deklamieren wollte, selbst verfertigt zu haben – er war nun nur noch um einen würdigen Stoff verlegen, vorzüglich wünschte er einen solchen Stoff zu bearbeiten, wobei sich viel Deklamation anbringen ließe. –

Und da er nun einmal an einem schönen Abend bei hellem Mondschein ganz voll von diesem Gedanken um den Wall spazieren ging, so erinnerte er sich an ein Gedicht gegen die Gottesleugner, das er ein paar Jahre vorher wegen des deklamatorischen Ausdrucks, der darin herrschte, fast auswendig gelernt hatte, das ihm aber in Ansehung der Gedanken jetzt höchst abgeschmackt vorkam – indes wurde dieser Gegenstand ihm in dem Augenblick so lebhaft – daß er noch einmal den Spaziergang um den Wall machte und während dieser Zeit sein Gedicht der Gottesleugner in seinem Kopfe vollendet hatte. –

Seine Gedanken hatten eine eigne Wendung genommen, welche von der alltäglichen in dem Gedichte, das er auswendig wußte, ganz verschieden war. – Er dachte sich den Gottesleugner als den Sklaven des Sturmwindes, des Donners, der tobenden Elemente, der Krankheit und der Verwesung, kurz als den Sklaven aller der unvernünftigen leblosen Wesen, die stärker sind als er, und die nun seine Herren geworden sind, da er den Geist voll ewger Huld nicht verehren will. – Das Bedürfnis, einen Gott zu glauben, erwachte[262] bei dieser Gelegenheit, da er erst bloß damit umging, ein Gedicht zu verfertigen und zu deklamieren, so mächtig in Reisers Seele, daß er gegen den, der diesen Trost ihm rauben wolle, gleichsam eine Art von gerechter Erbitterung fühlte und sich in diesem Feuer erhalten konnte, bis sein Gedicht vollendet war, das sich mit der frohen Überzeugung von dem Dasein einer vernünftigen Ursach aller Dinge, welche sind und geschehn, anhub und endigte, und bei aller Unregelmäßigkeit und dem oftmals Gezwungnen im Ausdruck doch ein Ganzes von Empfindungen ausmachte, welches Reisern bis jetzt hervorzubringen noch nicht gelungen war. – Die Mitteilung dieses Gedichts wird daher in dieser Rücksicht nicht überflüssig sein, wenn es gleich um sein selbst willen keine Aufbewahrung verdiene:


Der Gottesleugner

Es ist ein Gott – wohl mir! Dem Vater meiner Tage,

Ihm dank' ich mein Geschick – er wog mir jeden Schmerz

Und jede Freude zu – er kennet jede Plage,

Die ich hier leiden soll – drum weine nicht, mein Herz!


Wenn sich der Morgen schön aus brauner Nacht enthüllet,

So töne froh dein Lied dem Ewgen, der ihn schuf!

Und wenn sein Donner laut in hohlen Lüften brüllet,

So töne froh dein Lied dem Ewgen, der ihn schuf!


O freue früh und spät dich seiner, meine Seele!

Lob' ihn – denn ein Gedank' an ihn ist Seligkeit,

Und leben ohne Gott und denken – ist die Hölle,

Und jeder Seelenblick ein Quell von ewgem Leid.


Du, der du zweifelst, ob ein Gott im Himmel wohnet,

Tor, o verbanne schnell den Zweifel aus der Brust –

Der dir mit tausend Qual und mit der Hölle lohnet,

Und denke einen Gott – und fühle Himmelslust![263]


Du kannst, du willst ihn nicht, den guten Gott, erkennen,

Den Geist voll ewger Huld, zum Herren über dir? –

Wohl! – so erkenne denn die Qualen, die dich brennen,

Der Elemente Wut zu Herren über dir –


Droht dir am Himmel hoch ein schwarzes Donnerwetter,

Braust dort das hohle Meer – ruft hier ein offnes Grab –

Dann, Frevler, bete an! – denn das sind deine Götter,

Die dir Vernünftigen dein toller Wahnsinn gab!


Und droht die Krankheit dir mit schreckendem Gefieder –

Nagt nun am Herzen dir – und grinset dann der Tod,

Des Grabes Schreckenbild dich an – so falle nieder

Vor ihm und bet ihn an! – Verwesung ist dein Gott!


Dann sinke in dein Grab – vereine mit dem Staube

Die Seele, die dein Wahn hier in dir selbst begrub –

Und werde, wenn du kannst, dem ewgen Nichts zum Raube,

Du, den zum denkenden Geschöpfe Gott erhub. –


Wer seinen Gott verkennt, dem wird die Welt zur Hölle –

Er selbst ist nur ein Traum, und um ihn her ist Wahn –

Doch denke einen Gott, und schnell wirds um dich helle –

Und deine Seele schwingt sich mächtig himmelan. –


Durch die Empfindungen, welche während der Zeit, daß er dies Gedicht verfertigte, in ihm abwechselten, war wirklich seine ganze Seele erschüttert – er bebte vor dem schrecklichen Abgrunde des blinden Ohngefährs, an dessen Rande er schon stand, mit Schaudern und Entsetzen zurück und schmiegte sich gleichsam mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in die tröstende Idee von dem Dasein eines alles regierenden und lenkenden gütigen Wesens hinein. –

Da nun dies Gedicht auch seines Freundes völligen Beifall fand, so lernte er es auswendig, und den nächsten Tag in der Woche, da Deklamationsübung war, nahm er sich vor, es zu deklamieren. –[264] Er erschien hierbei mit seinem neuangeschafften Kleide, das sich ziemlich gut ausnahm und das erste feine Kleid war, welches er in seinem Leben trug – das war ein nicht unbedeutender Umstand bei ihm. – Das neue Kleid, wodurch er sich nun seinen Mitschülern, von denen er so lange durch seine schlechte Kleidung ausgezeichnet gewesen war, wieder gleichgesetzt sahe, flößte ihm Mut und Zutrauen zu sich selber ein; und was das Sonderbarste war, so schien es ihm auch mehr Achtung bei andern zu erwerben, die nun erst mit ihm sprachen, da sie sich vorher gar nicht um ihn bekümmert hatten. –

Und da er nun vollends in dem Hörsaale, wo er so lange ein Gegenstand der allgemeinen Verachtung gewesen war, auf dem Katheder vor seinen versammleten Mitschülern öffentlich auftrat, um sein von ihm selbst verfertigtes Gedicht zu deklamieren, so erhob sich sein niedergedrückter Geist zum ersten Male wieder, und es erwachten wieder Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft in seiner Seele. –

Er hatte dem Direktor eine Abschrift von dem Gedichte zum Nachlesen gegeben, die ihm dieser wieder zurückgab, ohne daß Reiser in Versuchung geriet, ihm zu sagen, daß er das Gedicht selbst verfertigt habe – er war mit dem innern Bewußtsein davon zufrieden, und es war ihm angenehm, wenn seine Mitschüler sich bei ihm erkundigten, wo das Gedicht, das er deklamiert hätte, stünde, und er ihnen dann irgendeinen Dichter nannte, woraus er es abgeschrieben habe. –

Reiser bat sich vom Direktor die Erlaubnis aus, in der künftigen Woche noch einmal deklamieren zu dürfen, und da er diese erhielt, änderte er das Gedicht an Philipp Reisern:


Dir, Freund, will ich mein Leiden klagen


etwas um und gab ihm die Überschrift: ›Die Melancholie.‹ – Er ließ dies Gedicht nun anfangen:


Der Seele Leiden will ich klagen –

Könnt ihr es, Worte, halb nur sagen,

O sagts und lindert meinen Schmerz![265]


Die letzte Strophe:


Wem soll ich dieses Dasein danken?

Wer setzt ihm diese engen Schranken?

Aus welchem Chaos stiegs empor?

In welche greuelvolle Nächte

Sinkts, wenn des Schicksals ehrne Rechte

Mir winket zu des Todes Tor?


deklamierte er mit einem wirklichen Pathos, das er in Stimme und Bewegung äußerte, und blieb, nachdem er schon stillgeschwiegen hatte, noch einen Augenblick mit emporgehobnen Arm stehen, der gleichsam ein Bild seines fortdaurenden unaufgelösten schrecklichen Zweifels blieb.

Da er nun von dem Direktor die Abschrift seines Gedichts wieder zurückerhielt, gab ihm dieser seinen Beifall mit seiner Deklamation zu erkennen und sagte zugleich, die beiden Gedichte, welche er deklamiert hätte, wären sehr gut ausgewählt. –

Dies war denn doch zu viel für Reisern, als daß er länger der Versuchung hätte widerstehen können, den Direktor wissen zu lassen, daß die Gedichte von ihm selber wären, und den Beifall, der jetzt nur seine Auswahl traf, für seine Arbeit einzuernten.

Indes schwieg er jetzt noch stille und wartete ein paar Tage, bis er ohnedem zu dem Direktor gehen mußte, um ihm einen lateinischen Aufsatz, den er, so wie seine Mitschüler, wöchentlich zur Übung im Stil verfertigen mußte, zur Durchsicht zu bringen; und bei dieser Gelegenheit überreichte er denn dem Direktor eine Abschrift von den beiden Gedichten, die er deklamiert hatte, und sagte ihm, daß er selbst der Verfasser davon wäre. –

Des Direktors Mienen, der ihn sonst ziemlich gleichgültig angesehen hatte, heiterten sich sichtbar gegen ihn auf, da er dies sagte, und von dem Augenblick an schien dieser Mann sein Freund zu werden – er ließ sich mit ihm in ein Gespräch über die Dichtkunst ein, erkundigte sich nach seiner Lektüre, und Reiser ging mit freudenvollen Herzen über die gute Aufnahme seiner Gedichte zu Hause. –[266] Den andern Tag verkündigte er Philipp Reisern sein Glück, der sich aufrichtig mit ihm darüber freute, daß man nun einmal aufhören würde, ihn zu verkennen, und nun vielleicht glücklichere Tage auf ihn warteten. –

Nun fügte es sich, daß Reiser in der folgenden Woche am Montag Morgen etwas spät in die erste Lehrstunde kam, welche der Direktor hielt, und in welcher er die lateinischen Aufsätze ohne Nennung der Namen öffentlich zu beurteilen pflegte. – Und da er nun in den Hörsaal trat, hörte er den Anfang seines Gedichts ›Der Gottesleugner‹ vom Direktor, der auf dem Katheder saß, ablesen und Zeile vor Zeile kritisieren. – Reiser konnte erst kaum seinen Ohren trauen, da er dies hörte – sobald er hereintrat, waren aller Augen auf ihn gerichtet – denn diese öffentliche Kritik war die erste in ihrer Art. –

Der Direktor mischte so viel aufmunterndes Lob unter seinen Tadel und bezeigte über die beiden Gedichte, die Reiser deklamiert hatte, im Ganzen genommen so sehr seinen Beifall, daß dieser von dem Tage an die Achtung seiner Mitschüler, deren Spott er so lange gewesen war, erhielt und auf die Weise eine neue Epoche seines Lebens anfing. –

Sein poetischer Ruhm breitete sich bald in der Stadt aus – er bekam von allen Seiten Aufträge, Gelegenheitsgedichte zu machen – und seine Mitschüler wollten alle von ihm in der Poesie unterrichtet sein und das Geheimnis, wie man Verse machen könne, von ihm lernen. – Auch wurden dem Direktor nun so viele Verse ins Haus gebracht, daß dieser es endlich untersagen mußte – auch hat er nachher nie wieder öffentlich Verse kritisiert. –

Was Reisern am meisten bei der Sache freute, war der merkliche Fortschritt, den er seit einem Jahre in Ansehung der Bildung seines Geschmacks getan zu haben glaubte, da ihm vor einem Jahre das Gedicht an die Gottesleugner, welches er jetzt höchst abgeschmackt fand, noch so sehr gefallen hatte, daß er es der Mühe wert hielt, es auswendig zu lernen. – Aber in dies Jahr hatte sich auch die Lektüre des Shakespeare, des Werthers und der vielen vorzüglichen Gedichte in den neuen Musenalmanachen nebst seinem Studium der Wolfischen Philosophie zusammengedrängt,[267] wozu noch die Einsamkeit und der stille ungestörte Naturgenuß kam, wodurch sein Geist zuweilen in einem Tage mehr als vorher in ganzen Jahren an Kultur gewann. – Man fing nun auch an, wieder auf ihn aufmerksam zu werden, und diejenigen, welche bisher geglaubt hatten, daß nichts aus ihm werden würde, fingen nun wieder an zu glauben, daß doch noch wohl etwas aus ihm werden könnte. –

Bei dieser bessern Wendung seines Schicksals behielt Reiser demohngeachtet noch immer seine schwermütige Laune bei, woran er nun einmal ein besonderes Behagen fand; und selbst an dem Tage, da ihm die unerwartete Ehre der öffentlichen Kritik seiner Gedichte widerfahren war, ging er den Nachmittag einsam und schwermütig bei dem trüben und regnigten Wetter in der Stadt umher – und wollte am Abend zu Philipp Reisern gehen, um diesem sein Glück zu sagen. – Da er nun hinkam, fand er ihn nicht zu Hause, und alles war ihm nun so tot, so öde – er konnte sich seines Glücks, die Achtung der Menschen, die ihn zunächst umgaben, in gewissem Maße gewonnen zu haben, nicht recht freuen, weil er es seinem Freunde nun nicht hatte erzählen können. –

Und da er nun traurig vor sich hin wieder nach Hause kehrte, verfolgte er die Idee des Nichtzuhausefindens, des Rückkehrens mit kummerbeladenem Herzen, wenn er seinem Freunde ein Leiden hätte klagen wollen, bis zu dem fürchterlichen Gedanken, daß er ihn tot gefunden habe und nun verzweiflungsvoll selbst sein Glück verwünschte, weil er das größte Glück des Lebens, einen treuen Freund, verloren hatte. – Daraus bildeten sich denn wieder folgende Verse, die er aufschrieb, als er zu Hause kam –


Ich suchte meinen Freund,

Wollt' ihm sagen meine Leiden

Und fand ihn nicht – –

Da ging ich bekümmert

Mit schwerem Herzen

In meine Hütte zurück. – –[268]


Ich suchte meinen Freund,

Wollt' ihm sagen meine Freuden

Und fand ihn nicht – –

Da ward ich so traurig,

Als freudig ich vor war,

Und ging und schwieg. –


Ich suchte meinen Freund,

Wollt' ihm sagen mein Glück

Und fand ihn tot – –

Da verflucht' ich mein Glück

Und tat einen Schwur,

So lange mein Auge noch Tränen weint,

Zu trauren um diesen einen Freund,

Denn diesen einen Freund hatt' ich nur. –


Um diese Zeit machte er nun auch durch den Sohn des Kantors Winter eine sehr interessante Bekanntschaft mit dem philosophischen Essigbrauer, womit ihn dieser schon vor einem halben Jahre hatte bekannt machen wollen und immer nicht dazu gekommen war. –

Winter holte ihn also eines Abends ab, und Reiser war voller Erwartung – unterwegs unterrichtete ihn Winter, wie er sich bei dem Essigbrauer nehmen, daß er nicht guten Abend und, wenn er wegginge, nicht gute Nacht sagen solle. – Dann kamen sie auf der langen Osterstraße, die voller altfränkischen Häuser ist, durch den großen Torweg über einen langen Hof in das Brauhaus, wo der Essigbrauer hinten hinaus sein abgesondertes Revier hatte, in welchem die Fässer in einem großen Verschlage, wo beständig eingeheizt ist, reihenweise nebeneinander standen, so daß sie eine Art von langen Gängen bildeten, in welchen man sich verlieren konnte. – Wenn man hier sprach, so schallte es dumpf wieder. – Da nun hier niemand zu sehen war, so fing Winter an zu rufen ubi? – und eine Stimme in der Ferne antwortete hic! – sie gingen darauf in das eigentliche Brauhaus dicht neben dem Revier, wo die Fässer standen, und der Essigbrauer in seinem weißen[269] Kamisol und blauen Schürze mit aufgestreiften Armen stand am Fenster und schrieb – er wäre gleich fertig, sagte er, darauf gab er an Winter ein Papier, worauf einige lateinische Verse standen, die er soeben für ihn verfertigt hatte. –

Der Essigbrauer schien Reisern ein Mann von ohngefähr dreißig Jahren zu sein – in jeder Bewegung seiner Muskeln, in dem zuckenden Blick seiner Augen schien sich in sich selbst zurückgedrängte Kraft zu äußern. – Gleich der erste Anblick des Essigbrauers flößte Reisern Ehrfurcht ein – dieser aber schien sich erst gar nicht um ihn zu bekümmern, sondern sprach mit Winter über einige neue Musikalien und andere Sachen, wobei er kein Wort anders als plattdeutsch sprach und sich doch dabei so richtig und edel ausdrückte, daß selbst das gröbste Plattdeutsch in seinem Munde einen gewissen Reiz gewann, der verursachte, daß man mit Vergnügen und Bewunderung, wenn er sprach, an seinen Lippen hing, wie Reiser nachher oft erfahren hat, wenn dieser Essigbrauer zwischen seinen Fässern Weisheit lehrte. –

Weil es schon ein ziemlich kalter Herbstabend war, so führte der Essigbrauer seine beiden Gäste in seinen geheizten Prunksaal, wo die langen Reihen Fässer standen, und wo er ihnen eine Art von süßem, sehr wohlschmeckenden Bier vorsetzte, wobei denn das Gespräch allgemein wurde; und da die Rede auf einen gemeinschaftlichen Bekannten, einen alten Mann, fiel, der sehr viel Drollichtes und Sonderbares an sich hatte, fing der Essigbrauer an, den ganzen Charakter dieses Mannes mit Sternischer Laune bis auf das kleinste Detail zu schildern. – Hernach las er etwas aus dem Tom Jones mit solchem Ausdruck und einer so wahren und richtigen Deklamation vor, daß Reiser nicht leicht irgendwo eine bessere Unterhaltung gefunden hatte und dem jungen Winter beim Weggehen sein Vergnügen über diese Bekanntschaft nicht genug beschreiben konnte. –

Er besuchte von nun an entweder in Winters Gesellschaft oder allein den Essigbrauer fast alle Abend und fand sich hier, wenn sie bei der hangenden Lampe zwischen den Fässern am warmen Ofen auf ihren hölzernen Schemeln saßen und im Tom Jones lasen oder Charakterschilderungen machten, so glücklich und vergnügt,[270] als er noch nie, ausgenommen mit Philipp Reisern, gewesen war – allein in dem Umgange mit dem Essigbrauer fühlte er sich allemal erhoben und gestärkt, sooft er bei sich erwog, daß ein Mann von solchen Kenntnissen und Fähigkeiten sich mit solcher Geduld und Standhaftigkeit der Seele seinem Schicksale unterwarf, welches ihn von allem Umgange mit der feinern Welt und von aller Nahrung des Geistes, die ihm daraus hätte zuströmen können, gänzlich ausschloß. – Und eben der Gedanke, daß ein solcher Mann so versteckt und in der Dunkelheit lebte, machte Reisern den Wert desselben noch auffallender – so wie ein Licht in der Dunkelheit stärker zu leuchten scheint, als wenn sein Glanz sich unter der Menge andrer Lichter verliert. –

Als Essigbrauer war K ..., so hieß er, wirklich ein großer Mann, das er vielleicht auch als Gelehrter, nur nicht in dem Maß gewesen wäre – weil ohne diesen Kampf mit seinem Schicksale die erhabene duldende Kraft seiner Seele nicht so hätte geübt werden können. – Es mochte wohl keine menschenfreundliche Tugend geben, welche ihm in seiner Lage auszuüben möglich war, und die er nicht ausgeübt hätte. –

Von seinem sauer erworbenen Verdienst ersparte er immer so viel, daß er einige junge Leute, zu deren Bildung beizutragen die Freude seines Lebens machte, zuweilen des Abends an seinem Tische bewirten und auch wohl manchmal einen Spaziergang mit ihnen machen konnte, wobei er sich allemal das Vergnügen machte, zu bezahlen, was sie verzehrten. – Auch unterstützte er noch überdem eine arme Familie täglich mit einem Groschen, den er sich von seinem geringen Verdienst abzog – denn er war eigentlich nur Knecht in dieser Brauerei, worin sein Vetter, ein alter abgelebter Greis, für den er die Arbeit mit verrichtete, Meister war. –

Winter und Philipp Reiser und der Essigbrauer waren jetzt Reisers vorzüglichster Umgang, wozu noch ein junger Mensch kam, der, durch Reisers Beispiel aufgemuntert, ohngeachtet der Armut seiner Eltern auch den Entschluß gefaßt hatte, zu studieren. – Auch diesen suchte der Essigbrauer durch Winter an sich zu ziehen, um zu der Bildung seines Geistes beizutragen. – Seine[271] Unterredungen waren größtenteils wahre sokratische Gespräche, die er oft mit dem feinsten Spott über die kindische Torheit oder Eitelkeit seiner jungen Gesellschafter würzte. –

Da nun der Winter herankam, widerfuhr Reisern eine Aufmunterung, die noch mehr als alles Vorhergehende wieder seinen Mut belebte. – Er erhielt nämlich vom Direktor den ehrenvollen Auftrag, auf den Geburtstag der Königin von England, welcher im Januar eintraf, eine deutsche Rede zu verfertigen, die er bei dieser Feierlichkeit halten sollte.

Dies war nun das höchste und glänzendste Ziel, wornach ein Zögling dieser Schule nur streben konnte und wozu nur sehr wenige gelangten: denn gemeiniglich wurden sonst die Reden an des Königes und der Königin Geburtstage nur von jungen Edelleuten gehalten. – Bei dieser Feierlichkeit pflegten der Prinz und die Minister nebst allen übrigen Honoratioren der Stadt zugegen zu sein – welche einem solchen jungen Menschen, der nun als die Hoffnung des Staats betrachtet wurde, nach geendigter Rede ordentlich Glück wünschten – ein Anblick, der Reisern oft niederschlug, wenn er dachte, daß er zu so etwas Glänzendem nie in seinem Leben gelangen würde. –

Und nun fügte es sich so plötzlich, da er noch im Anfange desselben Jahres allgemein verachtet und hintangesetzt war, daß ihm ohne sein Zutun ein so ermunternder Auftrag geschahe, zu dessen Ausführung er nun auch gleich mit dem größten Eifer schritte.

Er nahm sich vor, seine deutsche Rede in Hexametern zu verfertigen; nun hatte ihm der Direktor die Literaturbriefe geliehen und sie ihm zur sorgfältigsten Lektüre empfohlen – da stieß er denn auch unter andern auf die Rezension, wo Zacheriäs Übersetzung von Miltons verlornem Paradiese wegen der schlechten Hexameter getadelt und zugleich über den Bau des Hexameters, seine Einschnitte usw. viel Vortreffliches gesagt wird. – Dies faßte Reiser auf und suchte nun seinen Hexameter mit der größten Sorgfalt auszufeilen. – Manchen Tag kam er kaum mit drei bis vier Versen zustande – jeden Abend ging er dann zu Philipp Reisern und ließ seine Verse noch einmal dessen Kritik passieren, wobei sie denn[272] zusammen alle Bände der Literaturbriefe miteinander durchlasen und auch in diesem Winter ihre Shakespearenächte wieder erneuerten. –

Im November war Reiser ohngefähr mit der Hälfte seiner Rede fertig und ging damit zum Direktor, um sie ihm zur Kritik zu zeigen. – Dieser bezeigte ihm seinen großen Beifall über seine Arbeit, kündigte ihm aber zugleich an, daß er die Rede nicht öffentlich würde halten können, weil dies verschiedene Kosten erforderte, die Reiser wohl nicht würde aufbringen können. – – Kein Donnerschlag hätte Reisern mehr zu Boden schlagen können als diese Nachricht – alle seine glänzenden Aussichten, womit er sich während der Verfertigung seiner Rede geschmeichelt hatte, waren auf einmal wieder verschwunden, und er fiel wieder in sein voriges Nichts zurück. – Der Direktor suchte ihn hierüber zu trösten – aber er ging mit schwerem Herzen und melancholischen Gedanken, daß er zur ewigen Dunkelheit bestimmt sei, von dem Direktor weg, und nun fielen ihm die Verse ein, die er für Philipp Reisern gemacht hatte, und die sich jetzt auf seinen Zustand paßten:


Oft will ich mich erheben

Und sinke schwer zurück;

Und fühle dann mit Beben

Mein trauriges Geschick. –


Und als an einem andern Tage im Chore unter andern in einer Arie die Worte gesungen wurden:


Du strebst, um glücklicher zu werden,

Und siehst, daß du vergebens strebst –


so deutete er dies ebenfalls auf sich und kam sich auf einmal wieder so verlassen, so verächtlich, so unbedeutend vor, daß er selbst Philipp Reisern nicht einmal von seinem neuen Kummer etwas sagen mochte und lieber nicht zu ihm ging, um nicht von seinem Schicksal mit ihm reden zu dürfen, das nun anfing, ihm wieder[273] verhaßt zu werden und der Mühe des Nachdenkens nicht mehr wert zu scheinen. –

Da er sich indes hierüber endlich satt gequält hatte, so dachte er auf ein Mittel, wie er doch noch seinen Zweck erreichen könnte – und dies bot sich ihm, da er nur erst darüber nachdachte, sehr bald dar – er durfte nur zu dem Pastor Marquard gehen, welcher doch wieder Hoffnung von ihm zu schöpfen angefangen hatte, und durfte diesen nur bitten, ihm bei dem Prinz so viel, als zur Anschaffung eines guten Kleides und übrigens zur Bestreitung der Kosten bei Haltung der Rede erfordert wurde, auszuwirken, worin auch der Pastor Marquard sogleich willigte und Reisern schon im voraus einen guten Erfolg versprach. – Reisers Besorgnisse waren also nun auf einmal wieder gehoben, und er konnte nun die angefangene Rede mit frohem Herzen vollenden, um sie am Geburtstage der Königin zu halten. – Da es nun aber wieder anfing zu frieren, so konnte er oben auf seiner Kammer nicht mehr allein sein, sondern mußte wieder des Abends unten bei den Wirtsleuten in der Stube sitzen, wo die einquartierten Soldaten nebst dem Wirt ihn mit zu ihren Spielen nötigten, mit denen sie sich die langen Winterabende vertrieben. – Hier verfertigte er nun größtenteils des Nachmittags und des Abends in der Dämmerung, indem er sich mit dem Kopf an den Ofen legte, seine Rede. – Und nun hatte er auch ein schönes Mittel gegen seine schwermütige Laune gefunden; sooft er nämlich merkte, daß sie anfing, seiner Herr zu werden, ging er im größten Regen und Schnee des Abends, wenn es schon dunkel war, aus und einmal um den Wall spazieren, und es fehlte ihm niemals, daß sich nicht, sowie er mit schnellen Schritten vorwärtsging, neue Aussichten und Hoffnungen unvermerkt in seiner Seele entwickelt hätten, von welchen freilich die glänzendste ihm am nächsten lag. – Bei diesen Spaziergängen um den Wall gelangen ihm auch die besten Stellen in seiner Rede, und Schwierigkeiten in Ansehung des Versbaues, die ihm oft, wenn er sich mit dem Kopf am Ofen gelehnt hatte, unüberwindlich schienen, hoben sich hier wie von selbst. –

Der Wall um Hannover war von seiner Kindheit an der vorzüglichste[274] Schauplatz seiner angenehmsten Phantasie und romanhaftesten Ideen gewesen – denn er sahe hier die dichtineinandergebaute Stadt und die ländliche offene Natur mit Gärten, Äckern und Wiesen so nahe aneinandergrenzend und doch so außerordentlich verschieden, daß dieser Kontrast einer lebhaften Wirkung auf seine Phantasie nie verfehlen konnte. – Dann drängten sich auch in die Umgebung des Ortes, der seine meisten Schicksale gleichsam in seinen Umfang einschloß, immer tausend dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit in seiner Seele empor, welche mit seiner gegenwärtigen Lage zusammengehalten gleichsam mehr Interesse in sein Leben brachten, – und vorzüglich des Abends machte der Anblick von den auf den Zimmern hin und her zerstreuten Lichtern in den dicht an den Wall grenzenden Häusern allemal die schon vorher beschriebene Wirkung auf ihn. –

Seitdem er nun die Verse deklamiert hatte, wurde er fast von allen seinen Mitschülern geachtet. – Das war ihm ganz etwas Ungewohntes – er hatte in seinem Leben so etwas noch nicht erfahren – ja, er glaubte kaum, daß es möglich sei, daß man ihn noch achten könne – nach allen den bisherigen Erfahrungen bildete er sich ein, es müsse wohl etwas in seiner Person oder seinen Mienen liegen, wodurch er vielleicht, so lange er lebte, lächerlich und ein Gegenstand des Spottes sein würde. – Diese Empfindung der Achtung erhöhte sein Selbstbewußtsein und schuf ihn zu einem andern Wesen um – sein Blick, seine Miene verwandelte sich – sein Auge wurde kühner – und er konnte, wenn jemand seiner spotten wollte, ihm jetzt so lange gerade ins Auge sehen, bis er ihn aus der Fassung brachte. –

Seine ganze äußere Lage änderte sich auch nun auf einmal. –

Durch die Verwendung des Rektors und des Pastor Marquard, die nun beide wieder die beste Hoffnung von ihm geschöpft hatten, bekam er bald so viele Unterrichtsstunden, daß ihm eine für seine damaligen Bedürfnisse ziemlich beträchtliche monatliche Einnahme daraus erwuchs, welche ihm denn freilich auch eine ganz ungewohnte Sache war, womit er nicht gehörig umzugehen wußte. –[275] Keiner seiner reichen und angesehenen Mitschüler schämte sich nun mehr, mit ihm umzugehen und ihn in seiner schlechten Wohnung zu besuchen. – Er sahe sich auch noch in diesem Jahre gedruckt, indem er verschiedene kleine Neujahrwünsche in Versen für einen Buchdrucker verfertigte, welcher dergleichen gedruckte Wünsche verkaufte – ob nun gleich sein Name nicht hiebei bemerkt war und niemand wußte, daß die Verse von ihm waren, so machte ihm doch der Anblick dieser ersten gedruckten Zeilen von seiner Hand ein unbeschreibliches Vergnügen, sooft er sie ansah. – Und als nun gar einige Tage vorher, ehe die Rede gehalten wurde, auf einem lateinischen Anschlagbogen sein Name nebst den Namen noch zweier seiner Mitschüler von den angesehensten Eltern öffentlich gedruckt stand; und er nun auf diesem Anschlagbogen wirklich ›Reiserus‹ hieß, wie ihn der vorige Direktor einst genannt hatte; und die Zwischenzeit zwischen jener mündlichen und dieser gedruckten Benennung ›Reiserus‹ mit alle dem, was er darin verschuldet oder unverschuldet gelitten hatte, sich ihm lebhaft darstellte – so preßte ihm dies Tränen der Freude und der Wehmut aus – denn von dieser plötzlichen Wendung seines Schicksals hatte er sich vor einem Jahre, vor einem halben Jahre noch nichts träumen lassen. – Dieser lateinische Bogen mit seinem Namen war nun am schwarzen Brette vor der Schule und an den Kirchtüren öffentlich angeschlagen, so daß Leute, die vorbeigingen, still standen, um ihn zu lesen. –

Nun war es üblich, daß die jungen Leute, welche bei dergleichen Vorfällen Reden hielten, die Honoratiores der Stadt selbst einige Tage vorher dazu einladen mußten. – Welch eine Veränderung, da Reiser, den sonst wegen seiner schlechten Kleider selbst seine Mitschüler nicht einmal auf der Straße anzureden oder mit ihm zu gehen würdigten – nun mit dem Hut unterm Arm und den Degen an der Seite ordentlich seine Cour bei dem Prinz machte und ihn zu der Feier des Geburtsfestes seiner Schwester, der Königin von England, einlud – und wie er nun bei diesem Einladungsgeschäft sich den vornehmsten Einwohnern der Stadt zeigen konnte und von allen mit den aufmunterndsten Höflichkeitsbezeugungen aufgenommen ward. –[276] Er hatte also, ehe er sichs versah, und da er schon gänzlich Verzicht darauf getan hatte, das ehrenvollste Ziel erreicht, nach welchem ein Primaner in Hannover nur streben konnte, und welches nur von wenigen erreicht wurde. –

Diese den jungen Leuten selbst übertragene Einladungen haben wirklich etwas sehr Aufmunterndes und sind in mancher Absicht zur Nachahmung zu empfehlen ... – Reiser ward durch diese Einladungen während einer Zeit von wenigen Tagen in eine Welt geführt, die ihm bisher ganz unbekannt gewesen war – er unterhielt sich mit Ministern, Räten, Predigern, Gelehrten, kurz mit Personen aus allerlei Ständen, die er bisher nur in der Entfernung angestaunt hatte, Mund gegen Mund; und alle diese Personen ließen sich mit Höflichkeitsbezeugungen zu ihm herab und sagten ihm etwas Angenehmes und Aufmunterndes, so daß Reisers Selbstgefühl in diesen wenigen Tagen mehr als vorher in Jahren gewann. – Er lud auch den Dichter Hölty ein, den er aber bei dieser Gelegenheit nur wenig kennen lernte; denn Reisers Schüchternheit konnte nur durch eine gewisse Zutraulichkeit, die man ihm bewies, gehoben werden, und diese war Höltys Sache nicht, der bei der ersten Unterredung mit einem Unbekannten allemal etwas verlegen war. – Reiser nahm diese Verlegenheit für Verachtung, die ihn desto mehr kränkte, je größer seine Achtung für Hölty war, und so wagte er es nicht, ihn wieder zu besuchen. –

Wenn er nun den Tag über seine glänzende Rolle ausgespielt hatte, so ging er des Abends zu seinem Essigbrauer, wo denn auch Philipp Reiser und Winter und der andre junge Mensch, den sein Beispiel zum Studieren aufgemuntert hatte, waren, die ihn mit offenen Armen empfingen – und denen er von seinen Besuchen und den Personen, die er kennen gelernt hatte, erzählte – und auf die Weise die Freude über seinen Zustand mit ihnen teilte. –

Die Frau Filter und sein Vetter, der Perückenmacher, und alle die Leute, welche ihm Freitische gegeben hatten, bewetteiferten sich nun, ihm ihre Freude und Teilnehmung zu bezeigen. – Seine Eltern, die lange nichts von ihm gehört und ihre Hoffnung auf ihn schon längst aufgegeben hatten, waren ganz erfreut, da sie diese plötzliche günstige Wendung seines Schicksals vernahmen und[277] den lateinischen Anschlagbogen erhielten, worauf der Name ihres Sohnes mit großen Buchstaben gedruckt stand. –

Bei allen diesem äußern Glanz blieb nun Reiser immer noch in seiner alten Wohnung, wo sein Wirt, der Fleischer, dessen Frau und Magd und ein paar Soldaten, die dort im Quartier lagen, seine Stubengesellschaft ausmachten. –

Wenn ihn nun, ohngeachtet dieser schlechten Wohnung, einer von seinen reichen und angesehenen Mitschülern besuchte, so machte ihm dies ein geheimes Vergnügen – daß er auch, ohne ein einladendes Logis oder sonst äußere Vorzüge zu haben, bloß um sein selbst willen gesucht würde. – Dies machte, daß er zuweilen auf seine schlechte Wohnung ordentlich stolz war. –

Endlich kam nun der Tag seines Triumphes heran, wo er auf die auffallendste Art, die nur in seiner Lage möglich war, öffentlich Ehre und Beifall einernten sollte – aber eben dies erweckte bei ihm eine ganz besondre schwermütige Empfindung – auf diesen Punkt war nun bisher alle sein Wünschen und Trachten gespannt gewesen – bis auf diesen Punkt heftete sich die Aufmerksamkeit eines großen Teils von Menschen auf ihn – und wenn nun dies vorbei wäre, so sollte das alles nachlassen, und die ganz alltäglichen Szenen des Lebens sollten dann wiederkommen. – Dieser Gedanke erweckte in Reisern sehr oft den sonderbaren, im Ernst gemeinten Wunsch, daß er am Ende seiner Rede hinfallen und sterben möchte. – Nun fügte es sich, daß gerade an dem Tage, da die Rede gehalten wurde, eine außerordentliche Kälte einfiel, wodurch mancher zurückgehalten wurde, so daß die Anzahl der Zuhörer etwas kleiner wie gewöhnlich, aber die Versammlung doch immer noch glänzend genug war. – Indes kam Reisern an diesem Tage alles so tot, so öde vor; die Phantasie mußte zurücktreten – das Wirkliche war nun da – und eben daß nun dies, wovon er so lange geträumt hatte, schon wirklich und nichts weiter als dies war, machte ihn nachdenkend und traurig – denn nach diesem Maßstabe maß er nun die ganze Zukunft des Lebens ab – alles war ihm hier wie im Traume, wie in dunkler Entfernung – er konnte es sich nicht recht vors Auge bringen – mit melancholischen Gedanken bestieg er den Katheder – und während daß die[278] Musik ertönte, ehe er noch anfing zu reden, dachte er an ganz etwas anders als an seinen gegenwärtigen Triumph – er dachte und fühlte die Nichtigkeit des Lebens – die angenehme Vorstellung seines gegenwärtigen wirklichen Zustandes schimmerte nur wie durch einen trüben Flor durch. –

Um die Fortschritte, welche er damals in Ansehung des Ausdrucks seiner Gedanken gemacht hatte, zu bezeichnen, ist es vielleicht nicht unzweckmäßig, aus der Rede, die er hielt, einige Stellen herauszuheben. Sie hub an:


Welch ein Weihrauch steigt so sanft von Wonnegefilden

Durch den Äther hinauf bis hin zum Throne der Gottheit? –

O sie sind's – die Gebete glücklicher Völker – sie wallen

Für Charlotten so sanft hinauf zum Ewgen – und flammen usw.


– – Georg! – rauscht

Harfen! tönet Jubelgesang von ganzen beglückten

Nationen laut! – Und verstumme mein Lied! Denn vergebens

Wagst du's, sein Lob, Georgens Lob zu erschwingen – so wagts oft

Kühn des Adlers Flug bis zur Sonne sich zu erheben,

Schwingt sich hoch über Felsen und Berg' und Wolken empor, dünkt

Nun sich ihr näher und merkt nicht, daß sein Schneckenflug immer

Doch auf der Erde verweilt, die ihm schon entschwand – welche Töne

Klängen stark und harmonisch genug, Georgens erhabner

Tugend göttliche Harmonie nur schwach nachzubilden? – usw.


– – Und Georg hebt sich nun auf den Gipfel

Seiner Größ' empor – denkt ernst an das Wohl seiner Völker,

Denkt es – und schafft es – Und unerschüttert vom Donner

Steht er nun da – wie die Zeder Gottes – mit ihrem wohltätgen[279]

Schatten schützt sie Gevögel und Wild – und der Sturmwind verschwendet

An ihren Blättern sein Toben und kräuselt ihr laubigtes Haar. – So

Sicher in den Stürmen, die seine Scheitel umdonnern,

Steht Georg – Wenn Völker toben – Doch du getreues

Volk deinem König, verhülle nur dein Antlitz und weine!

Siehe nicht, wie dein Bruder im fernen Lande sich auflehnt

Gegen seinen König. – – usw.


Jedes fühlende Herz wallt heute Charlotten entgegen

Und verzeihts dem schwächern Jüngling – der es auch wagte

Und Charlotten sang – doch still, mein Lied, denn von fern rauscht

Schon des Volks Frohlocken, das seiner Königin heute

Seinen Weihrauch streut – und laut: es lebe Charlotte!

Ruft, daß Wald und Gebürg' es widerhallen: sie lebe!


Reiser hatte sich bei Verfertigung dieser Rede ein Ideal in seinem Kopfe gebildet, das ihn wirklich begeisterte – wozu denn das kam, daß er von diesen Gegenständen öffentlich reden sollte. –

Der Gedanke füllte gleichsam die Lücken aus, wo seine Begeisterung aufhörte oder ermattete. –

Da er aber nun freilich von seinem Gegenstande wenig oder gar nichts wußte, so bemühte er sich, eine Anzahl Lobreden, die auf den König und die Königin schon gehalten waren, in die Hände zu bekommen; diese las er durch und abstrahierte sich daraus sein Ideal, ohne sonst aus einer einzigen sich auch nur eines Ausdrucks zu bedienen – dies vermied er so sorgfältig, als er nur immer konnte; denn vor dem Plagiat hatte er die entsetzlichste Scheu – so daß er sich sogar des Ausdrucks am Schluß seiner Rede: ›daß Wald und Gebürg' es widerhallen‹, schämte, weil einmal in Werthers Leiden der Ausdruck steht: ›daß Wald und Gebürg' erklang‹ – ihm entschlüpften zwar oft Reminiszenzien, aber er schämte sich ihrer, sobald er sie bemerkte. –

An dem Tage nun, da er die Rede gehalten hatte, war er, wie ich[280] schon bemerkt, niedergeschlagener wie jemals – denn alles war ihm doch so tot, so leer – und es war nun vorbei – womit seine Einbildungskraft sich so lange beschäftigt hatte. –

Den Nachmittag wurde er nebst den andern beiden, die Reden gehalten hatten, bei dem ersten Bürgermeister, der zugleich Scholarch war, zum Kaffee gebeten; dies war ihm eine ganz ungewohnte Ehre – er wußte sich nicht recht dabei zu nehmen – und wurde nicht eher wieder heiter, als bis er sein schönes Kleid ausgezogen hatte und des Abends wieder zu seinem Essigbrauer kam, wo Winter und S ... und Philipp Reiser auch schon waren, die sich seines Glücks nun wirklich freuten, und deren Teilnehmung ihm mehr wert war als alle das Glänzende dieses Tages. –

Reiser erhielt nun noch mehr Unterrichtsstunden, wodurch sich seine Einnahme so verbesserte, daß er sich ein beßres Logie mieten, zuweilen einige seiner Mitschüler zum Kaffee bitten und für einen Primaner auf einen ganz ansehnlichen Fuß leben konnte – nun aber deuchte ihm das Geld, was er einnahm, gegen seine sonstigen Einkünfte und Bedürfnisse gehalten so viel, daß ihm die Kostbarkeit desselben und die Notwendigkeit des Zusammenhaltens auch nicht im mindesten einleuchtete – er wurde auf die Weise durch seine stärkere Einnahme ärmer, als er vorher war; und eben das, was eine Wirkung seines günstigen Glücks war, wurde in der Folge wieder die Quelle seines Unglücks. –

Da er nun aber die Achtung aller derer, die ihn kannten, und derer, von welchen sein Glück abhing, so plötzlich und so unerwartet wiedergewonnen hatte, so machte dies natürlicherweise einen Eindruck auf sein Gemüt, der ihn zu einem edlen Bestreben anspornte, diese Achtung immer mehr zu verdienen – er fing an, die Stunden des öffentlichen Unterrichts sorgfältiger wie jemals zu nutzen und vorzüglich durch Aufschreiben sich, soviel er nur konnte, davon zu eigen zu machen. –

Die Übungen im Deklamieren währten fort – und Reiser verfertigte zu diesem Endzweck noch ein Gedicht über die Mängel der Vernunft – ein Thema, das der Direktor zur Ausarbeitung aufgegeben hatte. – Reiser brachte hier alle seine Zweifel hinein, die er schon so lange mit sich herumgetragen hatte. – Die Begriffe Alles[281] und Sein als die höchsten Begriffe des menschlichen Verstandes gnügten ihm nicht – sie schienen ihm eine enge und ängstliche Einschränkung zu sein – daß nun damit alles menschliche Denken aufhören sollte – ihm fielen die Worte des sterbenden alten Tischers ein – alles, alles, alles! – daß er gleichsam da, wo sich ein neues Dasein von dem alten scheidet, diesen höchsten Grenzbegriff so oft wiederholte – die Scheidewand sollte gleichsam durchgebrochen werden. – Alles und Dasein mußten wieder untergeordnete Begriffe von einem noch höhern, vielumfassendern Begriffe werden – alles, was ist – muß noch etwas neben sich leiden, etwas – das zugleich mit allem, was ist, unter etwas Höherem, etwas Erhabenerem begriffen wird – warum soll unser Denken die letzte Grenze sein? – wenn wir nichts Höheres sagen können als alles, was da ist, soll denn eine höhere und die höchste Denkkraft auch nichts Höheres sagen können? – Der sterbende Tischer wollte vielleicht mehr sagen, als er sein ›alles‹ zweimal wiederholte, aber seine Zunge oder seine Gedanken versagten ihm – und er starb. –

Dies waren die sonderbaren Ideen, die Reiser in sein Gedicht über die Mängel der Vernunft brachte, das unter andern die Worte enthielt:


Das All, das die Vernunft im kühnsten Flug erschwingt,

Wie weit ists noch von dem, wonach der Seraph ringt? –


Zuletzt endigte sich denn das Gedicht auf eine sehr orthodoxe Weise, daß man also doch zu dem Licht der Offenbarung am Ende seine Zuflucht nehmen müsse:


Ein Licht, das vor uns her durch dunkle Schatten geht

Und unsern Pfad erhellt – weh dem, der es verschmäht! –


Den Schluß billigte der Direktor sehr; das Ganze des Gedichts aber hielt er, wie auch sehr natürlich war, für unverständlich. –

Ein andermal arbeitete Reiser wieder ein Gedicht über die Zufriedenheit – gleichsam zu seiner eignen Belehrung oder zur[282] eignen Richtschnur seines Lebens aus – nachdem er nun aber alle Beruhigungsgründe bei den Widerwärtigkeiten des Lebens durchgegangen war und sich gleichsam in eine sanfte Stille eingewiegt hatte, so erwachte doch am Ende wieder seine schwarze Melancholie – und er beschloß die Reihe der sanften Empfindungen, welche in diesem Gedicht ausgedrückt waren, doch am Ende mit folgenden Ausdrücken der Verzweiflung:


Doch machen ungemeßne Leiden

Dir hier dein Leben selbst zur Qual –

Und findest du dann keinen Retter

Und keinen End'ger deiner Not –

Sieh auf! – er kömmt im Donnerwetter –

O grüße, grüße deinen Tod!


Indem er einem solchen Gedanken nachhing, empfand er oft eine Art von qualenvoller Wonne, wenn es dergleichen geben kann. –

Dies Gedicht war gleichsam ein Gemälde aller seiner Empfindungen, die, wenn sie auch sanft und ruhig anhuben, sich doch gemeiniglich auf die Weise zu endigen pflegten. – Zu diesem Gange der Empfindungen war nun einmal durch alle die unzähligen Kränkungen und Demütigungen, die er von Jugend auf erlitten hatte, sein Gemüt gestimmt – bei der heitersten lachendsten Aussicht zog sich das schwarze Melancholische immer wieder wie eine Wolke vor seine Seele. –

Sobald sich auch sein Ausdruck dahin lenkte, wurde er natürlich und wahr. – Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, für jemanden verliebte Klagen zu dichten. – Eine Situation, in welche er sich mit aller Anstrengung nicht versetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden könnte – indem er sein ganzes Äußre einmal für so wenig empfehlend hielt, daß er gänzlich Verzicht darauf getan hatte, je zu gefallen; so konnte er sich nie in die Lage eines solchen setzen, der darüber klagt, daß er nicht geliebt wird – was er also hievon wußte, das dachte er sich bloß, ohne es je empfinden zu können. –[283] Demohngeachtet gerieten ihm die verliebten Klagen, die er entwarf, nicht ganz übel, weil er das kurz darin zusammendrängte, was er aus Romanen und Philipp Reisers Unterredungen wußte.

– Zuletzt aber dachte er sich nun den Liebhaber in einem Zustande, wo er vom Überrest seiner Leiden niedergedrückt der Verzweiflung nahe ist, und ohne nun ferner auf die Ursach der Verzweiflung Rücksicht zu nehmen, dachte er sich nun den Verzweiflungsvollen und konnte sich wieder in seine Stelle versetzen. – Der letzte Vers dieser verliebten Klagen schien ihm daher auch unter den Händen zu geraten. –


Im tiefsten, schwarzen Hain,

Wohin kein Wandrer kam,

Wo Todes Vögel schrein –

Am ausgehöhlten Stamm

Der Eiche will ich trostlos weinen,

So lange Stern' am Himmel scheinen,

Bis unter meiner Klagen Laut

Der Morgen taut. – –


Zuweilen fing ihm nun auch sogar das Zärtliche an zu gelingen, wenn es mit einer gewissen sanften Schwermut vergesellschaftet war – so machte er z.B. für jemanden ein Abschiedsgedicht an dessen Geliebte – das sich nach einer bittern Klage über die Trennung schloß:


Den Abschied? – O ich kann nur weinen –

Mein Herz ist schwer und tränenvoll –

Dir müssen heitre Tage scheinen –

Geliebte – o leb wohl, leb wohl!


Und in seiner Rede an der Königin Geburtstage war folgende Stelle, die ich vorher nicht mit ausgezogen habe, eigentlich diejenige, wobei er am meisten und am wahrsten empfunden hatte:[284]


– – Sie lächelt – und die Fröhlichen jauchzen –

Und die Traurigen trocknen vom nassen Auge die Zähre,

Heitern den trüben Blick auf zur Freud' und lächeln und segnen

Auch dem Tag entgegen, der ihnen Charlotten zum Trost gab. –


Auch er rechnete sich in Gedanken mit unter diese Zahl der Traurigen, die den trüben Blick zur Freude aufheitern. – Und er fand weit mehr Süßigkeit darin, sich unter der Zahl der Traurigen als unter der Zahl der Fröhlichen zu denken. – Dies war wiederum the Joy of grief (die Wonne der Tränen), wohin von Kindheit an sein Herz hing. –

So brachte er nun den Winter ziemlich glücklich zu – aber da nun einmal seine Phantasie so lebhaft angeregt und sein Gemüt durch so viele sich durchkreuzende Wünsche und Hoffnungen bis auf den stärksten Grad in Bewegung gesetzt war, so mußte er notwendig anfangen, das Einförmige in seiner Lage zu empfinden. – Er war in seinem neunzehnten Jahre – fünf Jahre hatte er schon die Schule besucht und wußte noch nicht, wann er die Universität würde beziehen können. – Es fing an, ihm wieder so enge in Hannover zu werden, beinahe wie damals, da ihm die Reise nach Braunschweig zu dem Hutmacher bevorstand. – Alle seine Gedanken fingen allmählich an, ins Weite zu gehn – er träumte sich in eine romanhafte Zukunft hin. –

Und da nun der Frühling herankam, so erwachte auf einmal eine sonderbare Begierde zum Reisen in ihm, die er bis dahin noch nie in dem Grade empfunden hatte. –

Bremen liegt zwölf Meilen von Hannover, und bis an den Ort, wo Reisers Eltern wohnten, war grade die Hälfte Weges bis nach Bremen – und nun von Bremen die Weser hinunter bis nach der See zu fahren – das war das große Projekt, womit sich Reiser schon seit einigen Wochen trug – und seine Einbildungskraft spiegelte ihm Wunderdinge von dieser Reise vor. –

Der Anblick der Weser – der Schiffe – einer Handelsstadt – beschäftigten seine Seele im Wachen und im Traume. – Er ließ sich von einem seiner Mitschüler an dessen Bruder, welcher in Bremen[285] ein Kaufmannsdiener war, einen Brief mitgeben und trat nun mit einem Dukaten in der Tasche seine Reise zu Fuße an. –

Dies war nun die erste sonderbare romanhafte Reise, welche Anton Reiser tat, und von der Zeit fing er eigentlich an, seinen Namen mit der Tat zu führen. –

Er hatte sich zu dieser Reise mit einer Spezialkarte von Niedersachsen – einem tragbaren Tintenfaß – und einem kleinen Buche von weißem Papier versehen, um über seine Reise unterwegs ein ordentliches Journal führen zu können. –

Mit jedem Schritte, den er tat, nachdem er aus den Toren von Hannover war, wuchs gleichsam seine Erwartung und sein Mut – und er war von seiner Reise so begeistert, daß er schon ein paar Meilen von Hannover sich auf einem Hügel an der Landstraße setzte, sein Tintenfaß, das mit einem Stachel versehen war, vor sich in die Erde pflanzte und auf diese Weise halbliegend anfing, in seinem Journal zu schreiben – es fuhren unten einige Kutschen vorbei, und die Leute, denen ein schreibender Mensch auf einem Hügel an der Landstraße freilich ein sonderbarer Anblick sein mußte, lehnten sich weit aus dem Schlage, um ihn zu betrachten – dies beschämte ihn etwas – aber er erholte sich bald wieder von der unangenehmen Wirkung, die dies neugierige Angaffen zuerst auf ihn tat, indem er sich in Ansehung dieser Menschen, die ihn nicht kannten, seine Existenz hinwegdachte – er war für diese Menschen gleichsam tot – darum schloß er auch den Aufsatz, welchen er auf dem Hügel an der Landstraße in sein Taschenbuch schrieb, mit den Worten:


Was kümmert mich der Leute Tun,

Wenn ich im Grabe bin?


Und nun setzte er seinen Stab weiter fort, kam am Abend in der Dämmerung vor dem Dorfe, wo seine Eltern wohnten, dicht vorbei, erkundigte sich nach dem nächsten Dorfe, das auf dem Wege nach Bremen zu lag, und da es nur noch eine Viertelmeile weit war, so ging er bis dahin und übernachtete in diesem Dorfe. –[286] Den andern Tag wanderte er denn über die öde dürre Heide fort und erfragte sich den Weg von einem Dorfe zum andern – konnte aber Bremen nicht erreichen – sondern mußte noch einmal in einem Dorfe, welches das letzte von Bremen war, übernachten – und den dritten Tag erreichte er denn seinen sehnlichsten Wunsch – er erblickte die Türme von Bremen – sahe nun das wirklich vor sich, womit seine Phantasie sich schon so lange beschäftigt hatte. – Er hatte außer Hannover und Braunschweig noch keine beträchtliche Stadt gesehen – und Bremen war ihm schon durch den Klang des Namens so merkwürdig geworden – seine Phantasie hatte der Stadt ein graues schwärzliches Ansehen gegeben – er war nun äußerst begierig, die Stadt inwendig zu betrachten – und wagte es, ohne Paß ins Tor zu gehen, indem er sich auf Befragen, wer er wäre, für einen Einwohner der Stadt, und da man noch genauer fragte, für einen von den Leuten des Prinzipals von dem Kaufmannsdiener ausgab, an den er einen Brief abzugeben hatte, worauf man ihn denn passieren ließ. –

Sobald er nun in der Stadt war, durchwanderte er erst ein paarmal die Straßen, und dann war sein erstes, daß er sich erkundigte, ob nicht etwa einer von den großen Kähnen, die auf der Weser lagen, nach der Mündung schiffen würde, wo noch zu Bremerlehe die hessischen Truppen lagen, die nach Amerika bestimmt waren und damals gerade absegeln sollten. –

Es fügte sich, daß gerade einer von den Kähnen abging, und Reiser begab sich nun zum ersten Male in seinem Leben zu Schiffe – und fuhr noch an demselben Tage bis sechs Meilen jenseit Bremen, wo angelegt und in einem Dorfe übernachtet wurde. –

Diese Schiffahrt, ob es gleich stürmisches und regnigtes Wetter war, machte Reisern unendliches Vergnügen, indem er mit seiner Landkarte in der Hand auf dem Verdeck stand und die Örter an beiden Ufern, deren Namen er nun wußte, die Musterung vor sich vorbeipassieren ließ – er aß und trank mit den Schiffern und kehrte am Abend mit ihnen in die Herberge ein. –

Von da wollte er den andern Morgen mit einem andern Schiffe weiter bis an die Seeküste fahren, er sah schon in Gedanken die ungeheuren Wasserfluten vor sich, und seine Einbildungskraft[287] war gerade bis auf den höchsten Grad gespannt, da ihm plötzlich eine Sache einfiel, die er die ganze Reise über noch nicht reiflich erwogen hatte, ob nämlich auch seine Börse zureichen würde – und wie erschrak er, da er sich von dem Schiffer seine Rechnung machen ließ und, nachdem er sie bezahlt hatte, nur noch wenige Groschen übrig behielt. –

Er getraute sich nun den Abend nicht zu essen, sondern gab Kopfweh vor und ließ sich sogleich sein Bette zeigen – hier machte er fast die halbe Nacht Entwürfe, wie er nun mit Ehren aus diesem Gasthofe kommen sollte, wenn etwa seine Zeche mehr betrüge als die wenigen Groschen, die er noch übrig hatte. –

Da er sich nun am andern Morgen erkundigte, wie viel er bezahlen müsse, so langten zufälligerweise die wenigen Groschen, die er noch hatte, gerade zu, aber er behielt auch nicht einen Heller übrig und befand sich nun achtzehn Meilen von Hannover, zwölf Meilen von dem Ort, wo seine Eltern wohnten, und sechs Meilen von Bremen. – Er gab vor, daß er nun nicht nach der Seeküste mitfahren könne, weil er überlegt habe, daß es ihn doch zu lange aufhalten würde, und so wanderte er nun, froh, daß er noch so mit Ehren davongekommen war, aus seiner nächtlichen Herberge den geraden Weg wieder auf Bremen zu. –

Sein Brief an den Kaufmannsdiener in Bremen war nun noch seine einzige Hoffnung – ohne diesen war er, zwölf Meilen weit bis zu dem Wohnorte seiner Eltern, von aller Welt verlassen. –

Er war noch nüchtern, wie er seine Reise antrat, und mußte sich nun darauf gefaßt machen, den ganzen Tag so zu bleiben. – Der Weg, welcher anfangs längst dem Ufer der Weser hinging, war sandigt und ermüdend – demohngeachtet aber ging er gutes Muts fort, bis er gegen Mittag kam und die Sonnenhitze brennend wurde. –

Hunger, Durst und Müdigkeit überfielen ihn zugleich mit dem Gedanken, daß er hier auf dem öden Felde fremd, ohne Geld und gleichsam von aller Welt verlassen war – er suchte sich einige Brotkrumen aus der Tasche zusammen – und fand bei dieser Gelegenheit[288] noch zwei sogenannte Bremergroten, wovon jeder ohngefähr vier Pfennige beträgt. –

Dies war ihm unter allen Umständen so lieb, als hätte er einen Schatz gefunden; er raffte alle seine übrigen Kräfte zusammen, um bald nach dem nächsten Dorfe zu kommen, wo er sich für den einen Groschen ein wenig Bier geben ließ, das ihm nun eine ganz ungehoffte Erquickung war, denn er hatte sich einmal darauf gefaßt gemacht, die sechs Meilen bis Bremen nüchtern zurückzulegen. –

Der Trunk Bier flößte ihm wieder neuen Mut ein, sowie das Vierpfennigstück, das er doch nun noch in der Tasche hatte. –

Freilich stellte sich auch der Hunger wieder ein, aber er suchte ihn zu überwinden und blieb resigniert. – Ein armer Handwerksbursch gesellte sich unterwegens zu ihm, der in dem Dorfe einkehrte und sich etwas zusammenbettelte. – Und Reisern machte das sonderbare Verhältnis eine Art von Vergnügen, daß dieser arme Handwerksbursch, der ihn vielleicht als einen wohlgekleideten Menschen beneiden mochte, doch jetzt im Grunde reicher war als er. –

Den Nachmittag erreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei. –

Gegen Abend erreichte er Bremen; aber ehe er an die Stadt kam, mußte er sich erst an das jenseitige Ufer der Weser übersetzen lassen, wofür gerade eine Bremergrote bezahlt werden mußte – daß er nun diesen gerade noch gespart hatte, deuchte ihm wiederum ein ordentlicher Glücksfall, weil er sonst die Stadt nicht mehr würde erreicht haben, woran ihm jetzt doch alles lag. –

Mit Sonnenuntergang kam er denn endlich noch an das Stadttor, und weil er ordentlich gekleidet war und das ganze Wesen eines Spazierengehenden annahm, der zuweilen still stehet und sich[289] nach etwas umsieht und dann wieder ein paar Schritte weitergeht – so ließ man ihn ungehindert durchpassieren. –

Er fand sich also auf einmal wieder in dem Bezirk einer volkreichen Stadt, wo ihn aber niemand kannte und er so verlassen und allein, indem er traurig über das Geländer in die Weser hinabsahe, auf der Straße dastand, als wenn er auf einer unbewohnten wüsten Insel gewesen wäre. –

Eine Weile gefiel er sich gewissermaßen in diesem verlaßnen Zustande, der doch so etwas Sonderbares, Romanhaftes hatte. – Da aber das vernünftige Nachdenken über die Phantasie wieder den Sieg erhielt, so war freilich seine erste Sorge, von seinem Briefe an den Kaufmannsdiener Gebrauch zu machen. –

Wie groß war aber sein Erschrecken, da er sich in der Wohnung desselben nach ihm erkundigte und erfuhr, daß er erst den Abend spät zu Hause kommen würde. – Er blieb auf der Straße nicht weit von dem Hause stehen – die Dunkelheit der Nacht brach herein – in einen Gasthof getraute er sich ohne Geld nicht zu gehen – alle seine romanhaften Ideen, die ihm vorher diesen Zustand noch erleichtert hatten, waren verschwunden, er empfand nichts als die grausame Notwendigkeit, diese Nacht, von Hunger und Müdigkeit gequält, mitten in einer volkreichen Stadt unter freiem Himmel zubringen zu müssen. –

Indem er nun melancholisch dastand und sich verlegen nach allen Seiten umsah, kam ein wohlgekleideter Mann dahergegangen, der ihn genau betrachtete und ihn mit mitleidiger Miene fragte, ob er etwa hier fremd sei? – allein er konnte sich nicht überwinden, diesem Manne seinen Zustand zu entdecken – sondern war entschlossen, lieber auf alle Fälle die Nacht unter freiem Himmel zuzubringen, welches er auch würde getan haben, wenn nach so vielen Widerwärtigkeiten sich jetzt nicht wiederum ein glücklicher Umstand für ihn ereignet hätte. – Der Kaufmannsdiener hatte sich nämlich aus der Gesellschaft, worin er sich befand, losgerissen, um zu Hause etwas Notwendiges zu besorgen, und da er hörte, daß jemand einen Brief von seinem Bruder an ihn habe abgeben wollen, der nachher in der Nähe am Wasser spazieren gegangen wäre, so eilte er gleich, um den Überbringer des Briefes,[290] dessen Anschein man ihm beschrieben hatte, womöglich aufzusuchen, und traf auch Reisern, den er gleich erkannte, wirklich an, da dieser schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, die Nacht ein Obdach zu finden. –

Sobald der junge Kaufmann nur die Handschrift seines Bruders erblickte, war er gegen Reisern äußerst freundschaftlich und gefällig und erbot sich sogleich, ihn in einen Gasthof zu führen. – Reiser entdeckte ihm denn seinen wahren Zustand, freilich mit einigen Erdichtungen; – er sei nämlich wider seine Gewohnheit zum Spiel verleitet worden und habe alle seine Barschaft verloren – denn daß er sich mit zu wenigem Gelde zu dieser Reise versehen habe, schämte er sich zu sagen, weil er dadurch noch mehr in der Meinung des jungen Menschen, von dem er jetzt allein Hülfe erwarten konnte, zu verlieren glaubte. –

Aber nun änderte sich auf einmal sein widriges Schicksal – der Kaufmann erbot sich sogleich, ihm so viel vorzustrecken, daß es ihm an nichts fehlen sollte – er führte ihn in einen angesehenen Gasthof, wo Reiser auf seine Empfehlung auf das beste bewirtet wurde und nun den Abend so vergnügt zubrachte, daß ihm alle Beschwerden des Tages vielfältig ersetzt wurden. –

Einige Gläser Wein, die er noch in Gesellschaft des Kaufmannsdieners trank, taten nach der Ermüdung und Entkräftung eines ganzen Tages eine so außerordentliche Wirkung auf seine Lebensgeister, daß er fast die ganze Gesellschaft, die sich alle Abend hier zu versammlen pflegte, mit Anekdoten von Hannover und lustigen Einfällen, die ihm sonst gar nicht gewöhnlich waren, unterhielt und sich den Beifall aller der Personen in diesem kleinen Zirkel erwarb, worunter sich auch derjenige mit befand, der ihn den Abend traurig und verlassen auf der Straße stehen sah und unter allen den vorübergehenden Leuten der einzige gewesen war, dem ein ganz fremder Mensch, welcher traurig und verlassen dastand, wichtig genug schien, daß er sich um ihn bekümmerte und ihn anredete. – Reiser gewann dadurch eine außerordentliche Zuneigung zu diesem Manne, denn ein solches Anreden und Besorgtsein um den Zustand eines ganz fremden Menschen, der wie verlassen und hülfebedürftig zu sein scheint,[291] ist doch eigentlich die allgemeine Menschenliebe, woran man den frommen Samariter von dem vorübergehenden Priester und Leviten unterscheiden kann. –

Reiser hatte nicht leicht in seinem Leben einen Abend vergnügter zugebracht als diesen, wo er sich in einer fremden Stadt in einem ganz fremden Zirkel von Menschen geachtet sahe, ins Gespräch gezogen und mit aufmunterndem Beifall angehört wurde. –

Der Kaufmannsdiener nötigte ihn nun selbst, sich noch einige Tage in Bremen aufzuhalten, zeigte ihm die Merkwürdigkeiten der Stadt, und Reiser fand nun an eben dem Orte, wo er erst fremd, von keinem Menschen bemerkt, einsam und verlassen auf der Straße stand, so viele Menschen, die sich für ihn interessierten, mit ihm sich unterredeten und mit ihm ausgingen, daß er an diese Personen, die ihm so viele zuvorkommende gutmütige Höflichkeit und Freundschaftsbezeigungen erwiesen, eine Art von Anhänglichkeit bekam, welche es ihm schwer machte, sich nach einer so kurzen Zeit schon wieder auf immer von ihnen zu trennen.

Er speiste des Mittags in einer ansehnlichen Tischgesellschaft, wo ihm als einem Fremden immer mit ausgezeichneter Höflichkeit begegnet wurde, – eine Behandlung, die er bis jetzt noch eben nicht gewohnt gewesen war. – Der Kaufmannsdiener streckte ihm so viel vor, daß er nicht nur seine Rechnung im Gasthofe bezahlen, sondern auch mit Bequemlichkeit wieder nach Hannover zurückreisen konnte, welches er nun freilich zu Fuße tat. –

Und da ihm nun diesmal sein unbesonnener Anschlag so gut gelang, so bildete sich zuerst unvermerkt der Keim zu dem Gedanken in ihm, sein Glück nicht länger in seiner bisherigen eingeschränkten Lage abzuwarten, sondern es in der weiten Welt, die ihm offen stand, selbst aufzusuchen. –

Er hatte in einer fremden Stadt eine ganze Anzahl Menschen gefunden, die sich um ihn bekümmerten, teil an ihm nahmen und ihm seinen Aufenthalt angenehm machten; lauter Sachen, die er in Hannover nie gewohnt gewesen war. – Er hatte Abenteuer überstanden und in einem kurzen Zeitraum den schnellsten Glückswechsel erfahren – indem er kaum eine Stunde vorher[292] noch von aller Welt verlassen und unmittelbar darauf sich in einem Zirkel von Menschen befand, die alle auf ihn aufmerksam waren und ihn in ihre Gespräche zogen. –

Was Wunder, daß nun dadurch der Gedanke bei ihm rege wurde, die traurige Einförmigkeit seines bisherigen Aufenthalts und seiner bisherigen Verhältnisse mit dergleichen Abwechselungen zu vertauschen – wodurch er, ohngeachtet aller Beschwerlichkeiten, die er darüber erdulden mußte, doch seine Seele auf eine angenehme, vorher noch nie empfundene Art erschüttert fühlte. –

Selbst die Wehmut, die er empfand, da ihm nun die Tore der Stadt, in welcher er noch gestern mit einer Anzahl ihm wohlwollender Menschen vertraulich an einem Tische gesessen hatte, aus den Augen schwanden und er also nun sogar die letzten hervorragenden Spuren dieses ihm in der kurzen Zeit so liebgewordenen Ortes aus seinem Gesichtskreise verloren hatte – selbst diese Wehmut hatte einen nieempfundenen Reiz für ihn – er kam sich selber größer vor, weil er eigenmächtig ganz ohne irgendeinen äußern Antrieb – nun zum ersten Male eine Reise nach einer ganz fremden Stadt getan hatte, in der er binnen ein paar Tagen mehr Menschen fand, die ihm wohlwollten, als er in Hannover ganze Jahre hindurch nicht hatte finden können. –

Das Wandern fing ihm an, so lieb zu werden – er phantasierte sich durch tausend angenehme Vorstellungen die Ermüdung hinweg – wenn es dunkel wurde, so betrachtete er den vor ihm sich hinschlängelnden Weg, auf den er beständig sein Augenmerk heften mußte, gleichsam wie einen treuen Freund, der ihn leitete. – Dies wurde ihm denn zuletzt eine dichterische Idee – es wurde Bild, Vergleichung, woran er tausend Dinge kettete. – ›Wie sich ein Wandrer an seinen Weg hält; so getreu wie der Weg dem Wandrer – so – und so – ‹. Dies Ideenspiel verfolgte er im Gehen – und das Einförmige der Gegend bei der umgebenden Dunkelheit und des immerwährenden Fußaufhebens verschwand ihm unmerklich und machte ihn nicht verdrießlich. –

Es war schon ganz dunkel, da er zu seinen Eltern kam, die sich freilich wunderten, daß er dicht vor ihnen vorbeigegangen, erst nach Bremen gereist und dann zu ihnen gekommen war. – Demohngeachtet[293] aber nahmen ihn seine Eltern wegen der vielen angenehmen Nachrichten, die sie von ihm erhalten hatten, diesmal mit Freuden auf. –

Und Reiser hatte nun so viel Stoff zu mystischen Unterredungen mit seinem Vater gesammlet, daß sie diesmal sich oft bis in die Nacht unterhielten. – Reiser suchte nämlich alle die mystischen Ideen seines Vaters, die er aus den Schriften der Madam Guion geschöpft hatte von ›Alles und Eins‹, vom ›Vollenden in Eins‹ usw., metaphysisch zu erklären, welches ihm sehr leicht wurde – indem die Mystik und Metaphysik wirklich insofern zusammentreffen, als jene oft eben das vermittelst der Einbildungskraft zufälligerweise herausgebracht hat, was in dieser ein Werk der nachdenkenden Vernunft ist. – Reisers Vater, der dies nie in seinem Sohne gesucht hatte, schien nun auch eine hohe Idee von ihm zu bekommen und ordentlich eine Art von Achtung gegen ihn zu hegen. –

Die Neigung zur Schwermut aber behielt auch hier beständig bei Reisern das Übergewicht. – Er stand mit seiner Mutter an der Türe, da das Kind eines Nachbars begraben wurde und der Vater in tiefer Trauer mit hangendem Haar und nassem Auge folgte. – Wenn sie mich nur auch erst so hintrügen, sagte Reisers Mutter, die freilich im Leben nicht viel Freude gehabt hatte, und Reiser, der sich doch noch viel Freude versprechen konnte, stimmte innerlich so herzlich in diesem Wunsch mit ein, als ob ihm das größte Herzeleid widerfahren wäre. –

Er nahm diesmal bei seiner Abreise von seiner Mutter und seinen Brüdern mit mehrerer Rührung wie gewöhnlich Abschied – und wanderte zu Fuß wieder nach Hannover. – Da er nun die vier Türme wieder erblickte, die er schon unter so mancherlei verschiedenen Verhältnissen wiedergesehen hatte, so wandelte ihm diesmal aufs neue ein ängstliches Gefühl an, da er aus der weiten Welt nun wieder in diesen kleinen Umkreis aller seiner Verhältnisse und Verbindungen zurückkehren sollte, das Allzubekannte dort deuchte ihm so fade. – Aber auf einmal erheiterte sich seine Seele wieder, da er ins Tor getreten war und gleich an einer Ecke einen Komödienzettel angeschlagen fand. – Dies überraschte ihn[294] auf die angenehmste Weise – sein erster Gang war wie vor drei Jahren nach dem Schlosse, wo das Theater war, und wo der Hauptzettel mit dem Verzeichnis der Personen angeschlagen stand – man spielte den Clavigo, Brockmann den Beaumarchais, Reinecke den Clavigo, die älteste Dem. Ackermann (die jüngere war damals schon gestorben) spielte die Maria, Schröder den Don Carlos, die Reinecken die Schwester der Maria, Schütz den Buenco und Böheim den Freund des Beaumarchais. –

So vortrefflich war die Rollenbesetzung in diesem Stück bis auf die unbedeutendsten Nebenrollen. – Reiser kannte alle diese vortrefflichen Schauspieler – war es wohl zu verwundern, daß seine Erwartung auf das höchste gespannt wurde, aufs neue die Vorstellung eines Stücks von ihnen zu sehen, das er zwar noch nicht gelesen hatte, wovon er aber wußte, daß es von dem Verfasser der Leiden des jungen Werthers war? –

Durch diesen zufälligen Umstand, vergesellschaftet mit der Rückerinnerung an die Abenteuer, die er auf seiner Reise gehabt hatte, bildete sich eine sonderbare romantische Idee in seinem Kopfe, die nun wieder auf einige Jahre seines künftigen Lebens einen sehr großen Einfluß hatte. – Theater – und Reisen – wurden unvermerkt die beiden herrschenden Vorstellungen in seiner Einbildungskraft, woraus sich denn auch sein nachheriger Entschluß erklärt. –

Er versäumte nun wieder nicht leicht einen Abend die Komödie – dadurch aber wurde sein Kopf wieder so voll von theatralischen Ideen, daß ihm seine eigentlichen Geschäfte des beständigen Lernens und Lehrens – denn er hatte fast den ganzen Tag mit Unterrichtsstunden besetzt – schon zuweilen nicht recht mehr zu schmecken anfingen und er sich dann kein Bedenken machte, dann und wann eine der Stunden, wo er lehrte oder lernte, zu versäumen, indem er dann jedesmal rechnete, daß es doch nur eine Stunde sei. –

Nun wurden damals die Zwillinge von Klinger zuerst aufs Theater gebracht und freilich mit aller möglichen Kunst dargestellt, indem Brockmann den Guelfo, Reinecke den alten Guelfo, die Reinecken die Mutter, die Ackermann die Kamilla,[295] Schröder den Grimaldi und Lambrecht den Bruder des Guelfo spielte. –

Dies schreckliche Stück machte eine außerordentliche Wirkung auf Reisern – es griff gleichsam in alle seine Empfindungen ein. – Guelfo glaubte sich von der Wiege an unterdrückt – das glaubte er von sich auch – ihm fielen dabei alle die Demütigungen und Kränkungen ein, denen er von seiner frühesten Kindheit an, fast so lange er denken konnte, beständig ausgesetzt worden war. – Er vergaß den Fürstensohn und alle die Verhältnisse eines Fürstensohnes und fand nur sich in dem unterdrückten Guelfo wieder. – Die bittre Lache, die Guelfo in der Verzweiflung über sich selbst aufschlug, griff in Reisers innerste Empfindungen ein – er erinnerte sich dabei aller der fürchterlichen Augenblicke, wo er wirklich am Rande der Verzweiflung stand und eben eine solche Lache über sich aufschlug – indem es sein eignes Wesen mit Verachtung und Abscheu betrachtete und oft mit schrecklicher Wonne in ein lautschallendes Hohngelächter ausbrach. –

Der Abscheu vor sich selber, den Guelfo empfand, indem er den Spiegel entzweischlägt, worin er sich nach der Mordtat erblickt – und daß er nun nichts wünscht, als zu schlafen – zu schlafen – das alles schien Reisern so wahr, so aus seiner eignen Seele, die beständig mit dergleichen schwarzen Phantasien schwanger ging, gehoben zu sein, daß er sich ganz in die Rolle des Guelfo hineindachte und eine zeitlang mit allen seinen Gedanken und Empfindungen darin lebte. –

Während daß also nun auf dem Königlichen Operntheater von der Schröderschen Gesellschaft Komödie gespielt wurde, kam auch die Zeit der Sommerferien heran, wo die Primaner jährlich öffentlich eine Komödie aufzuführen pflegten. –

Reiser zweifelte nicht, daß man ihm diesmal eine Rolle antragen würde, da er doch nun, seitdem er die Rede auf der Königin Geburtstag gehalten hatte, einer der angesehensten unter seinen Mitschülern war und daher auch gar nicht glaubte, daß man ohne ihn die Sache anfangen würde. –

Wie sehr erstaunte er also, da er vernahm, daß man die Sache dennoch ohne ihn angefangen und sogar schon die aufzuführenden[296] Stücke bestimmt und ihm nicht einmal eine Rolle darin zugeteilt hatte. – Da er jetzt wirklich viele Freunde und vielen Anhang unter seinen Mitschülern hatte, so konnte er sich diese Zurückstellung erst gar nicht erklären, bis er denn freilich merkte, daß hier ein solcher Rollenneid und ein so ängstliches Bemühen, einander den Rang abzulaufen, stattfand, daß ein jeder genug für sich zu sorgen hatte und, wer sich nicht mit Gewalt hinzudrängte, auch nicht gerufen wurde. –

Reiser hat sich nachher oft an diesen Auftritt in seinem Leben zurückerinnert und Betrachtungen darüber angestellt, wie in diesen kindischen Bestrebungen nach einer so unbedeutenden Sache, als eine Rolle in einem Stücke war, das von den Primanern in Hannover aufgeführt wurde, sich doch das ganze Spiel der menschlichen Leidenschaften ebenso vollständig entwickelte, als ob es die allerwichtigste Angelegenheit betroffen hätte; und wie das Streben gegeneinander, dies Verdrängen und wieder Verdrängtwerden ein so getreues Bild des menschlichen Lebens im kleinen war, daß Reiser alle seine künftigen Erfahrungen hierdurch schon gleichsam vorbereitet sahe. –

Dies kam nun freilich wohl mit daher, weil den Primanern die Anordnung der Schauspiele und die Besetzung der Rollen aus ihrem Mittel gänzlich überlassen war. – Der Geist wurde dadurch gleichsam republikanisch – es konnten sich mehrere Kräfte entwickeln – List und Verschlagenheit gebraucht und Kabalen geschmiedet werden; wie es nur irgend bei der Wahl eines Parlamentsgliedes geschieht – denn es wurden über dergleichen öffentliche Angelegenheiten, auch wenn z.B. ein Aufzug mit Musik und Fackeln sollte veranstaltet werden, ordentlich Stimmen gesammlet, wodurch einer zum Anführer bei dem Zuge oder zu sonst etwas Öffentlichem gewählt wurde. –

Reiser sahe sich also nun auf einmal wieder, da er es am wenigsten vermutete, von demjenigen ausgeschlossen, woran sein ganzes Herz jetzt mehr wie jemals hing, und weswegen er vordem schon so viel erduldet hatte. – Er suchte sich zwar mit dem Gedanken zu trösten, daß man ihn verkenne, daß ihm von seinen Mitschülern Unrecht geschehen sei – aber dies wollte doch auf die Länge nicht[297] zureichen – vorzüglich kränkte es ihn, daß sein Freund Winter ihm nichts davon gesagt hatte, der mit von der Gesellschaft der Spielenden war, und der es wußte, wie sehr sein Herz an dieser Sache hing. –

Aber dieser glaubte selbst in einem zu unvorteilhaften Lichte zu erscheinen, wenn er denjenigen als ein Mitglied in Vorschlag brächte, auf den die Aufmerksamkeit keines einzigen außer ihm gefallen war. – Winter meinte es deswegen übrigens noch gar nicht böse mit Reisern, sondern war nach wie vor sein Freund, nur bis auf diesen Punkt nicht. – Eine Erfahrung, die mancher vielleicht in seinem Leben öfter zu machen Gelegenheit gehabt hat. – Es hält schwer, in der Freundschaft standzuhalten, wenn sich alles wider jemanden erklärt – man fängt an, seinem eignen Urteil nicht recht mehr zu trauen, das immer noch einer Stütze außer sich zu bedürfen scheint, sei sie auch so klein sie wolle – wenn die Sache nur noch von einem einzigen in Regung gebracht wird, so will man gern der zweite sein, der einstimmt, nur der erste scheut sich ein jeder zu sein – und die Freundschaft muß schon einen sehr hohen Grad erreicht haben, wenn sie hier der entgegenstrebenden Politik nicht unterliegen soll. –

Winter war sonst ein sehr aufrichtiger Mensch – und da Reiser ihn fragte, was unter ihm und einer Anzahl seiner Mitschüler, die immer zusammenkämen, im Werke sei, so gab ihm Winter erst ohne Umschweife zu verstehen: er wolle es ihm nicht sagen – bis Reiser weiter in ihn drang und dann doch die ganze Sache erfuhr – wo dann jener sich damit aus der Verlegenheit zog, daß er die ganze Sache als unbedeutend vorstellte und als etwas, das doch wohl schwerlich zustande kommen würde usw.

Diese Erfahrung, die Reiser damals zuerst an seinem Freunde Winter machte, hat er nachher nur zu oft in seinem Leben wieder bestätigt gefunden. –

Außer Reisern war nun Iffland, von dem ich schon erwähnt habe, daß er nachher einer der beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden ist, derjenige, welcher sich unter der damaligen Generation der Primaner in Hannover in Ansehung seines Kopfes am mehrsten auszeichnete – und an den sich Reiser schon vor einigen[298] Jahren anzuschließen gesucht hatte. – Allein die Verschiedenheit ihrer Glücksumstände hatte dieses Aneinanderschließen damals gehindert. –

Da nun aber Reiser angefangen hatte, sich auszuzeichnen, so fing Iffland von selber an, sich an ihn zu schließen – und sie unterredeten sich oft bei ihren einsamen Spaziergängen über ihre künftige Bestimmung in der Welt. – Iffland lebte auch ganz in der Phantasienwelt und hatte sich damals gerade ein sehr reizendes Bild von der angenehmen Lage eines Landpredigers entworfen – er war also entschlossen, Theologie zu studieren, und unterhielt Reisern fast beständig mit der Schilderung jener stillen, häuslichen Glückseligkeit, die er dann im Schoß einer kleinen Gemeinde, die ihn liebte, in seinem Dörfchen genießen würde. – Reiser, welcher dergleichen Spiele der Phantasie aus eigner Erfahrung kannte, prophezeite ihm im voraus, daß er diesen Entschluß zu seinem eignen Besten wohl nie in Erfüllung bringen würde: denn wenn er Prediger würde, so würde er wahrscheinlich ein großer Heuchler werden – er würde mit der größten Hitze des Affekts und mit aller Stärke der Deklamation doch immer nur eine Rolle spielen. – Ein geheimes Gefühl sagte Reisern, daß dies bei ihm selber wohl der Fall sein würde, darum konnte er jenem so gut den Text lesen. –

Iffland ist nun freilich nicht Prediger geworden – aber es ist doch sonderbar, jene Ideen von häuslicher stiller Glückseligkeit, die er damals so oft gegen Reisern geäußert hat, sind doch nicht verloren gegangen, sondern fast in allen seinen dramatischen Arbeiten realisiert, da er sie in seinem Leben nicht hat realisieren können. –

Da nun aber die Schauspieler wieder nach Hannover kamen, so wurden bei Iffland alle jene reizenden Phantasien von stiller Glückseligkeit auf einem Dorfe sehr bald verdrängt, und die herrschende Idee war nun bei ihm sowie bei Reisern wieder das Theater. –

Iffland war nun einer der vorzüglichsten Mitglieder der Gesellschaft, die sich zum Aufführen der Komödie verbunden hatten, aber hier hatte er dennoch seinen Freund Reiser auch vergessen. –[299] Diese Vernachlässigung von denen, die er noch für seine besten Freunde hielt, bei einer Sache, die ihm so sehr am Herzen lag wie diese, war ihm äußerst kränkend. – Er sprach mit Iffland darüber, der sich damit entschuldigte, er habe nicht geglaubt, daß Reiser zu der Sache noch Lust habe. – Und was Reisern am meisten kränkte, war, als er hörte, daß er bei der Rollenausteilung nicht etwa Feinde unter der Gesellschaft gehabt, die ihn hätten ausschließen wollen, sondern daß man gar nicht einmal an ihn gedacht, seiner nicht einmal erwähnt hatte. –

Da er sich nun indes erklärte, daß er an der Gesellschaft teilnehmen wolle, so war man ihm nicht zuwider, wenn er mit einer von den Rollen, die noch übrig waren, vorliebnehmen wollte. – Er mußte sich denn hiezu entschließen und erhielt in dem ersten Stück, das aufgeführt wurde, in dem Deserteur aus Kindesliebe, noch die Rolle des Peter, welche ihm freilich nicht die angenehmste war, die er doch aber lieber als gar keine nahm. –

Man wird die Erzählung dieser anscheinenden Kleinigkeiten nicht unwichtig finden, wenn man in der Folge sehen wird, daß sie auf sein künftiges Leben einen großen Einfluß hatten, und daß die Rollenausteilung bei den Komödien, die er mit seinen Mitschülern aufführte, gleichsam ein Bild von einem Teile seines künftigen Lebens war. –

Er wollte sich nicht zudrängen und war doch wieder nicht stark genug, es zu ertragen, wenn man ihn vernachlässigte. –

Da er nun ein Mitglied der theatralischen Gesellschaft geworden war, so verleitete ihn dies zu vielen Ausgaben, die seine Einkünfte überstiegen – und zu vielen Versäumnissen, die seine Einkünfte verminderten. – Er mußte die Gesellschaft zuweilen zu sich bitten, wie es ein jeder tat – und der öftern Proben wegen, die angestellt wurden, manche seiner Unterrichtsstunden, die er gab, versäumen. – Überdem war sein Kopf nun wieder beständig mit Phantasien erfüllt – er war zu keinem anhaltenden und ernsthaften Nachdenken, zu keinem Fleiß im Studieren mehr aufgelegt. –

Es bildeten sich nun schon Schriftstellerprojekte in seinem Kopfe – er wollte ein Trauerspiel ›der Meineid‹ schreiben. – Er sah schon den Komödienzettel angeschlagen, worauf sein Name[300] stand – seine ganze Seele war voll von dieser Idee – und er ging oft wie ein Rasender in seiner Stube wütend auf und nieder, indem er alle die gräßlichen und fürchterlichen Szenen seines Trauerspiels durchdachte und durchempfand. – Der Meineid gereute den Meineidigen zu spät, und Mord und Blutschande war schon die Folge davon gewesen, als er eben im Begriff war, von unaufhörlicher Gewissensangst getrieben, den Meineid durch Aufopferung seines ganzen Vermögens, das er dadurch gewonnen hatte, wieder gutzumachen – und der schmeichelhafteste Gedanke für Reisern war, wenn er dies Stück noch in seinem jetzigen Stande, noch als Schüler vollenden würde, was man denn für Erwartungen von ihm schöpfen – wie es dann noch weit mehr ihm zum Ruhm gereichen müßte. –

Schon in seinem neunten Jahre, da er in die Schreibschule ging, hatte er sich mit einem seiner Mitschüler vorgenommen, daß sie zusammen ein Buch schreiben wollten – und beide schmeichelten sich schon damals mit der Idee, wie ihnen dies zum ewigen Ruhme gereichen würde. – Der Knabe, welcher damals den Entwurf zu dem Buche mit ihm machte, das ihre beiderseitigen Lebensgeschichten enthalten sollte, war ein sehr guter Kopf, der sich aber nachher durch einen übertriebenen Fleiß zugrunde richtete und im siebzehnten Jahre starb. –

Mit diesem spielte er auch schon damals zuweilen, ehe die Stunde anging, und wenn der Lehrer noch nicht da war, Komödie und fand immer in dieser Art von Belustigung ein unbeschreibliches Vergnügen – ob er gleich damals noch gar keine Komödie gesehen, sondern nur aus Erzählungen andrer einen ganz dunklen Begriff davon hatte. – Was aber die Verfertigung des Buchs anbetraf, so war ihm das damals schon eine so erhabene Idee – ein Buch war ihm eine so heilige und wichtige Sache, deren Hervorbringung er kaum einem Sterblichen, wenigstens keinem noch lebenden Sterblichen zutrauete. –

Überhaupt war es ihm noch lange nachher immer eine sonderbare Idee, wenn er hörte, daß die Personen, die irgendein berühmtes Werk geschrieben hatten, noch lebten und also aßen, tranken und schliefen wie er. –[301] Da er in seinem sechzehnten Jahre zum ersten Male Moses Mendelssohns Schriften las, so kam der Name, der alte Homerskopf auf dem Titel, alles zusammen, um eine sonderbare Täuschung bei ihm hervorzubringen, als ob dieser Moses Mendelssohn irgendein alter Weiser sei, der vor Jahrhunderten gelebt hätte und dessen Schriften nun etwa ins Deutsche übersetzt wären – er trug sich lange mit diesem Wahn herum, bis er einmal zufälligerweise von seinem Vater hörte, daß dieser Mendelssohn noch lebe, daß er ein Jude sei, auf den die ganze jüdische Nation sehr stolz wäre, und daß Reisers Vater ihn selbst in Pyrmont gesehen habe, und wie er aussähe usw. Dies brachte in Reisers Ideenzustande auf einmal eine große Veränderung hervor – seine Vorstellungen vom Alten und Neuen, Gegenwärtigen und Vergangnen mischten sich sonderbar durcheinander. – Er konnte sich nur mit Mühe zu dem Gedanken gewöhnen, sich einen Mann als noch lebend vorzustellen, den seine Einbildungskraft so lange in die vergangnen Jahrhunderte zurückversetzt hatte. – Er dachte sich einen solchen Mann wie eine unter den Menschen wandelnde Gottheit – und solche Menschen einst von Angesicht zu Angesicht zu sehen, mit ihnen sich zu unterreden, das war der höchste seiner Wünsche. –

Und nun hatte er sich doch im Ausdruck seiner Gedanken auf verschiedene Art versucht; er fing an zu hoffen, daß ihm vielleicht einmal ein Werk des Geistes gelingen würde, wodurch er sich den Weg in jenen glänzenden Zirkel bahnte und sich das Recht erwürbe, mit Wesen umzugehen, die er bis jetzt noch so weit über sich erhaben glaubte. – Daher schrieb sich vorzüglich mit die Schriftstellersucht, welche schon damals anfing, ihn Tag und Nacht zu quälen. –

Ruhm und Beifall sich zu erwerben, das war von jeher sein höchster Wunsch gewesen; – aber der Beifall mußte ihm damals nicht zu weit liegen – er wollte ihn gleichsam aus der ersten Hand haben und wollte gern, wie es der natürliche Hang zur Trägheit mit sich bringt, ernten ohne zu säen. – Und so griff nun freilich das Theater am stärksten in seinen Wunsch ein. – Nirgends war jener Beifall aus der ersten Hand so wie hier zu erwarten. – Er betrachtete[302] einen Brockmann, einen Reineck immer mit einer Art von Ehrfurcht, wenn er sie auf der Straße gehen sahe, und und was konnte er mehr wünschen, als in den Köpfen anderer Menschen einst ebenso zu existieren, wie diese in seinem Kopfe existierten. – So wie jene Leute vor einer so großen Anzahl von Menschen, als sonst nur selten oder nie versammlet sind, alle die erschütternden Empfindungen der Wut, der Rache, der Großmut nacheinander durchzugehen und sich gleichsam jeder Nerve des Zuschauers mitzuteilen, – das deuchte ihm ein Wirkungskreis, der in Ansehung der Lebhaftigkeit in der Welt nicht seinesgleichen hat. –

Allein er war nun freilich zu spät zu der theatralischen Gesellschaft getreten, um eine Rolle, wie er sie sich wünschte, zu erhalten, welches ihn außerordentlich kränkte. – Indes freute es ihn doch wieder, daß er nur noch eine Rolle bekam, da er den Ersatz erhielt, daß ihm die Verfertigung eines Prologs zu dem Deserteur aus Kindesliebe aufgetragen wurde, welcher nebst dem Personenverzeichnis gedruckt werden sollte. –

Nun wartete man nur darauf, bis die ordentlichen Schauspieler wieder wegreisen würden, um alsdann ebenfalls auf dem großen Königlichen Operntheater zu spielen, wozu sich die Primaner selbst die Erlaubnis erbeten hatten – so daß diesmal diese dramatischen Übungen so glänzend wurden, wie sie noch niemals gewesen waren. – Die ganze Einrichtung war dabei den jungen Leuten selbst überlassen – und da nun Reiser mit von der Gesellschaft war, so nahm er doch auch an allen öffentlichen Beratschlagungen und Debatten teil – eine Sache, die er von altersher nie gewohnt gewesen war, und die ihm daher fremd vorkam – es war ihm ordentlich, als käme es ihm nicht recht zu, wenn man ihn auch mit in Betrachtung zog. –

Ob er nun gleich eben keine äußere Veranlassung dazu hatte, so war ihm doch die Einsamkeit noch immer lieb – und seine vergnügtesten Stunden waren, wenn er etwa eine Strecke vor das Tor hinaus nach einer Windmühle ging, wo ringsumher in einem kleinen Bezirk eine romantische Abwechselung von Hügeln und Tälern war, und wo er sich im Garten in einer Laube eine Schale Milch geben ließ und dabei las – oder in seine Schreibtafel[303] schrieb. – Dies war schon vor mehrern Jahren einer seiner liebsten Spaziergänge, und er war auch oft mit Philipp Reisern da gewesen. –

Als Werthers Leiden erschienen, fiel ihm bei den reizenden Beschreibungen von Wahlheim sogleich diese Windmühle ein und die manchen süßen Stunden, welche er einsam da genossen hatte.

Dann war vor dem neuen Tore ein künstlich angelegtes, ganz kleines Wäldchen, worin so viele Krümmungen und sich durchschlängelnde Pfade angebracht waren, daß man das Wäldchen wenigstens für sechsmal so groß hielt, als es war, wenn man darin herumirrte – man hatte ringsumher die Aussicht auf eine grüne Wiese, wo in der Ferne hinter den einzelnen hohen Bäumen, unter denen Reiser so gern zu wandern pflegte, und hinter dem kleinen Gebüsch, wo er sich so oft gelagert hatte, der Fluß hervorschimmerte, mit dessen Ufern er ebenfalls, durch seine öftern Spaziergänge an demselben, unter so manchen verschiednen Situationen seines Lebens vertraut geworden war. – Oft wenn er am Ende dieses Wäldchens auf einer Bank saß und in die weite Gegend hinausschaute, stiegen alle die vergangnen Szenen seines Lebens, der Kummer und Sorgen, die er dort an so manchem schwülen Sommertage mit sich herumgetragen hatte, wieder vor ihm auf, und das Andenken daran versetzte ihn in eine stille Wehmut, der er mit Vergnügen nachhing. – Er konnte auch in der Ferne die Brücke sehn, die über den Bach ging, an dem er so manche Stunde gesessen und so manches gelesen und gedichtet hatte. – Weil nun das Wäldchen so nahe vor der Stadt war, so pflegte er oft des Abends im Mondschein hinauszugehn und auch wohl mitunter ein wenig zu ›siegwartisieren‹, ohne doch den Siegwart gelesen zu haben, der erst ein Jahr nachher erschien. –

Hier hatte er in dem vorigen Jahre, da er neunzehn Jahr alt war, an einem rauhen Septemberabend seinen Geburtstag gefeiert – und sich selber die heiligsten Gelübde getan, sein künftiges Leben besser als das vergangne zu nutzen. –

Auf diesen einsamen Spaziergängen verfertigte er denn auch seinen Prolog, der sich wie seine Rede mit ›welch ein‹ anfing; denn[304] in das sanft klingende ›welch ein‹ hatte er sich ordentlich verliebt, es schien gleich eine solche Fülle von Ideen zu fassen und alles Folgende hineinzufügen – er konnte sich keinen vollklingendern Anfang denken und hub daher denn auch seinen Prolog an:


Welch eine Göttin geußt Entzücken

Ins Herz des Fühlenden?

Läßt mitleidsvoll vor seinen Blicken

Oft Szenen sanfter Freud' entstehn,

Und bildet ihre Haine schön

Sanfttraurender Melancholie?

Sie ists, des Himmels Phantasie –

Oft wandelt sie auf Blumenwegen

Mit ihm ins stille Tal hinab,

Zeigt ihm die Unschuld da in Hütten

Und Freuden, welche Gott ihr gab, usw.


Dieser Prolog wurde nun nebst dem Personenverzeichnis wie ein kleines Buch gedruckt, und auf dem Titel stand: ›verfaßt von Reiser, gesprochen von Iffland‹. – Reiser sah sich also aufs neue gedruckt, und was noch mehr war, so erhielt er von seinen Mitschülern den Auftrag, den Prinzen selbst zu der Komödie einzuladen, welches er denn mit dem Degen an der Seite und in seinem Galakleide, worin er die Rede gehalten hatte, tat. –

Die Noblesse und Honoratioren der Stadt wurden nun auch von den jungen Leuten selbst eingeladen, und Reiser erhielt hier wiederum Gelegenheit so wie damals, da er die Rede gehalten hatte, einen Teil der großen Welt in der Nähe zu sehen, den er vorher nur noch aus einer großen Entfernung angestaunt hatte – er sahe, daß die Minister, Grafen und Edelleute, mit denen er nun Gesicht gegen Gesicht sprach, nicht so erstaunlich von ihm verschiedene Wesen waren, sondern daß sie in ihren Äußerungen ebenso wie die gemeinsten Leute manchmal etwas Sonderbares und Komisches hatten, wodurch der Nimbus um sie verschwand, sobald man sie nur reden hörte und sich in der Nähe mit ihnen unterhielt. –[305] So glänzend nun Reisers Zustand schien, wenn er so über die Straße paradierte und in den ersten Häusern seine Cour machte, so war dieser Zustand doch im eigentlichen Verstande ein glänzendes Elend zu nennen – denn durch das schlechte Verhältnis seiner Ausgaben gegen seine Einkünfte wurden seine Umstände immer mißlicher, seine Lage immer ängstlicher. – Überdem drückte ihn das Einförmige seiner Lage, und daß er noch keine Aussicht vor sich sahe, die Universität mit Anstand zu beziehen – auch war ihm nun jener Beifall aus der ersten Hand, den ein Schauspieler einernten kann, so wichtig und so lieb geworden, daß sein Hang immer mehr nach dem Theater als nach der Universität war. –

Es war wirklich damals gerade die glänzendste Schauspielerepoche in Deutschland, und es war kein Wunder, daß die Idee, sich in eine so glänzende Laufbahn, wie die theatralische war, zu begeben, in den Köpfen mehrerer jungen Leute Funken schlug und ihre Phantasie erhitzte – das war denn damals auch der Fall bei der dramatischen Gesellschaft in Hannover – sie hatte gerade die vortrefflichsten Muster, einen Brockmann, Reineck, Schröder zu einem Zweck der Kunst vereinigt, täglich Lorbeern einernten sehen, und es war wirklich kein unrühmlicher Gedanke, solchen Mustern nachzueifern. –

Und um nun diesen Endzweck zu erreichen, brauchte man nicht erst drei Jahre auf der Universität studiert zu haben. – Dann kam bei Reisern die unwiderstehliche Begierde zum Reisen hinzu, welche sich seit der abenteuerlichen Wallfahrt nach Bremen seiner bemächtigt hatte – und der Gedanke, sich aus allen seinen bisherigen Verhältnissen, wo selbst das Beste ihm doch immer nur halb geglückt war, hinauszuversetzen und sein Glück in der weiten Welt zu suchen, fing allmählich an, bei ihm der herrschende zu werden – es war aber nur noch ein bloßes Spiel seiner Phantasie; er war noch nicht eigentlich entschlossen, die Sache selbst ins Werk zu richten. –

Während dieser Zeit besuchte ihn nun sein Vater in Hannover, den er jetzt zum ersten Male in seiner Stube, die mit sehr guten Möbeln versehen und schön austapeziert war, bewirten konnte. –[306] Seinem Vater suchte er nun seine Lage von der angenehmsten und vorteilhaftesten Seite zu schildern und stellte ihm das Aufführen der Komödie als eine Sache vor, wodurch er nun sowohl wegen des gedruckten Prologs als auch, weil er den Prinz selbst dazu eingeladen hätte, wieder neue Aufmerksamkeit auf sich errege und sich ebenso wie durch die Rede an der Königin Geburtstage im auffallenden Lichte wieder zeigen könnte. –

Reisers Vater äußerte bei dieser Gelegenheit einen sehr wichtigen und wahren Gedanken, daß solche Vorfälle, wo einer sich öffentlich zu seinem Vorteil zu zeigen Gelegenheit hat, wie z.B. bei der Rede an der Königin Geburtstage, gleichsam wie ein Sieg zu betrachten wären, den man verfolgen müsse, weil dergleichen im Leben sich nur selten ereigne. –

Reiser begleitete seinen Vater bei dessen Rückreise eine Stunde vor das Tor hinaus, und da sie nun an eben den Fleck kamen, wo ihm derselbe einst seinen Fluch gegeben hatte, so standen sie zufälligerweise still – es fiel Reisern nachher erst ein, daß dies derselbe Fleck war – sie hatten sich bis dahin über die wichtigsten und erhabensten Gegenstände, worin die Mystik und die Metaphysik zusammentreffen, unterredet, und nun schloß Reisers Vater einen Bund mit seinem Sohne, daß sie von nun an gemeinschaftlich jenem großen Ziele der Vereinigung mit dem höchsten denkenden Wesen näher zu kommen streben wollten; worauf er ihm denn auf eben dem Fleck durch Auflegung der Hand seinen Segen erteilte, wo er ihm ehemals seinen Fluch gab. –

Reiser kehrte also nun in einer sehr guten Stimmung wieder zu Hause – und blieb darin, bis nun wieder eine neue Rollenbesetzung von den Stücken, die außer dem Deserteur aus Kindesliebe noch aufgeführt werden sollten, seine Phantasie erregte und seine durch vernünftiges Nachdenken eingewiegten romanhaften Ideen wieder erweckte. –

Die Stücke, die noch aufgeführt wurden, waren Clavigo, der Mann nach der Uhr und der Edelknabe. – Er hatte im Deserteur aus Kindesliebe mit einer unbedeutenden Nebenrolle vorlieb genommen und rechnete nun darauf, wenigstens die Rolle des Clavigo zu erhalten – so wie nun alle Wünsche seines Herzens sich[307] auf das Theater hefteten, so waren sie insbesondre auf diese Rolle gleichsam gespannt – und man teilte sie nicht ihm, sondern einem andern zu, der sie offenbar schlechter spielte, wie Reiser sie gespielt haben würde. –

Reisers Kränkung hierüber war so groß, daß ihn dieser Vorfall in eine Art von wirklicher Melancholie stürzte. – Wem dies unwahrscheinlich oder unnatürlich vorkommt, der erwäge, daß sein ganzer Wunsch, den er schon jahrelang bei sich genährt hatte, jetzt gerade auf der Spitze der Erfüllung oder Nichterfüllung stand, öffentlich vor den versammleten Einwohnern seiner Vaterstadt seine Talente zu entwickeln und zeigen zu können, wie tief er empfand, was er sagte, und wie mächtig er wieder das durch Stimme und Ausdruck zu sagen imstande wäre, was er so tief empfand – solche erschütternde Empfindungen wieder bei Tausenden zu erregen, wie Reineck, der den Clavigo spielte, in ihm erregt hatte, das war für ihn ein so großer, stolzer und die Seele erhebender Gedanke, wie vielleicht nie für irgendeinen Sterblichen eine Rolle in einem Trauerspiel gewesen sein mag. – Hier wäre nun alles das weit über seine Erwartung erfüllt worden, was er sich schon vor mehr als fünf Jahren gewünscht hatte. – Denn das Auditorium war hier so glänzend und zahlreich, wie es vielleicht nie gewesen sein mochte. – Das Schauspielhaus, welches einige tausend Personen faßte, war so voll, daß niemand mehr Platz darin fand, und unter den Zuschauern befand sich der Prinz nebst dem ganzen Adel, die Geistlichkeit und die Gelehrten und Künstler der Stadt. – Vor einem solchen Auditorium und dazu in einer Stadt, die beinahe seine Vaterstadt war, worin er erzogen und so mancherlei widerwärtige Schicksale erlebt hatte, sich mit aller der Stärke der Empfindungen und des Ausdrucks, die er bis jetzt nur für sich allein hatte entwickeln können, öffentlich zu zeigen – konnte in seiner Lage wohl etwas Wünschenswerteres für ihn sein? –

Aber vom sterbenden Sokrates an schien der Genius der Schauspielkunst auf ihn zu zürnen.

Er suchte sich die Rolle des Clavigo zu erbitten und zu ertrotzen, aber beides half nichts; sein Nebenbuhler siegte. –[308] Dies griff ihn auf seiner verwundbarsten Seite, auf dem zärtlichsten Fleck seines Lebens an – alles übrige wurde ihm nun dadurch verbittert. – Keiner unter allen, der ihm die Rolle des Clavigo abgetreten hätte, würde so viel darunter verloren haben als er, daß er sie nicht erhielt. – Da sein eigentlicher gegenwärtiger Lebensfleck ihm so verdunkelt war, so zog es sich auch wieder über sein ganzes übriges Leben wie ein Flor; alles hüllte sich ihm in melancholische Trauer – er suchte die Einsamkeit wieder, wo er nur konnte, und fing an, sich in seinem Äußern zu vernachlässigen. –

Philipp Reiser machte indes auf seiner Stube Klaviere und nahm an allen diesen Possen keinen Teil. – Anton Reiser war seit seiner Verbindung mit der dramatischen Gesellschaft selten zu ihm gekommen – jetzt, da es ihm so wenig nach Wunsch ging, besuchte er ihn wieder öfter, hing bei ihm seiner Schwermut nach, ohne ihm doch den eigentlichen Grund davon zu sagen – denn er wollte sich gegen sich selbst nicht einmal recht merken lassen, daß seine Schwermut bloß davon herrührte, weil er die Rolle des Clavigo nicht erhalten hatte, sondern er wollte sich lieber überreden, daß dieselbe eine Folge von seiner Betrachtung des menschlichen Lebens überhaupt sei. –

Indes wurde ihm von der Zeit an, daß er die Rolle des Clavigo nicht erhielt, sein Aufenthalt in Hannover lästig, er fing von der Zeit an, unstet und flüchtig zu werden. – Sein jahrelanger sehnlichster Wunsch mußte in Erfüllung gebracht werden, mochte es nun auch sein, wo es wollte – er mußte irgendwo alles das wirklich machen, was bis jetzt durch eine so lang anhaltende Komödienlektüre und seinen schon so lange fortdaurenden Hang zum Theater in seiner Phantasie reif geworden war. –

Als der Clavigo probiert wurde, hatte er sich in eine der Logen versteckt – und während daß Iffland als Beaumarchais auf dem Theater wütete, wütete Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden lag, gegen sich selber, und seine Raserei ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt und sich die Haare raufte. – Denn die Erleuchtung, die Blicke unzähliger Zuschauer alle auf ihn allein hingeheftet und sich, vor allen diesen forschenden Blicken seine innersten Seelenkräfte[309] äußernd, durch die Erschütterung seiner Nerven auf jede Nerve der Zuschauer wirkend – das alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwärtig – und nun sollte er nichts wie unter der Menge verloren ein bloßer Zuschauer sein, wie er jetzt war, während daß ein Dummkopf, der den Clavigo spielte, alle die Aufmerksamkeit auf sich zog, die ihm, dem stärker Empfindenden, gebührt hätte. –

Nach alle den vorhergehenden Situationen, worin er sich seit Jahren befunden hatte, war ihm nun die Rolle des Clavigo gleichsam Zweck seines Lebens geworden, das durch tausend drückende Lagen einmal ganz unter die Herrschaft der Phantasie zurückgedrängt war, die nun über dasselbe ihre Rechte ausüben wollte. – –

Die Saite war bis zur höchsten Spannung hinaufgewunden, und nun sprang sie. –

Als diese schreckliche Probe vorbei war, so fand sich Reiser wieder ganz allein, ohne einen Freund, ohne einen, der sich seiner annahm. – Er wollte doch jemanden seinen Kummer klagen und ging zu Iffland, der sich von dem Augenblick fester wie jemals an ihn schloß: weil gerade dasselbe Bedürfnis bei ihm war, was Reisern zu ihm trieb. –

Ifflands Phantasie war ebenfalls bis auf den höchsten Grad gespannt, und sein Hang zum Theater überwiegend geworden, er bedurfte einen, dem er seine geheimsten Wünsche und seinen Kummer entdecken konnte. –

Nun hatten sein Vater und sein älterer Bruder nicht ohne Grund befürchtet, daß der Hang zum Theater durch den großen Beifall, den er sich durch sein Spiel erwarb, zu sehr genährt und am Ende überwiegend werden möchte, und ihm daher untersagt, an den dramatischen Übungen ferner teilzunehmen, wogegen er nun freilich alle möglichen Einwendungen machte und eben jetzt noch deswegen mit seinem Vater in Unterhandlung stand. – Er machte nun Reisern zum Vertrauten von seinem Vorsatz, sich ganz dem Theater zu widmen, so wie er ehmals mit ihm über seinen Entschluß, ein Dorfprediger zu werden, gesprochen hatte. –

Die Rolle, welche Iffland schon gespielt hatte, war der Deserteur im Deserteur aus Kindesliebe und der Jude im Diamant, der als[310] Nachspiel zum Deserteur gegeben wurde. – Den Juden hatte er so meisterhaft gespielt, daß er nachher mit ebendieser Rolle unter Ekhofs Augen debütierte und seine theatralische Laufbahn eröffnete – so wie er sich nun durch den Juden im höchsten Komischen gezeigt hatte, so zeigte er sich durch den Beaumarchais im höchsten Tragischen, und sein Spiel war wirklich in dieser letztern Rolle so hinreißend, daß man Brockmann selbst zu hören und zu sehen glaubte; und das Vergnügen, sich in dieser Rolle öffentlich zu zeigen, sollte ihm nun verleidet werden. – Er nötigte Reisern, die Nacht bei ihm auf seiner Stube zu bleiben, wo sie sich denn in reizenden Träumen von der Glückseligkeit, die der Stand eines Schauspielers gewährte, verloren, bis sie beide darüber einschliefen. –

Jetzt waren sie beide fast unzertrennlich und Tag und Nacht beisammen. – Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte Iffland, dies wäre gutes Wetter, davonzugehen – und das Wetter schien auch so reisemäßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend, die Gegenstände umher so dunkel, gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden. – Die Idee wurde in beider Köpfen so rege, daß nicht viel fehlte, sie hätten sie gleich ins Werk gerichtet – indes wollte doch Iffland womöglich in Hannover noch seinen Beaumarchais spielen – sie kehrten also nach der Stadt wieder um – so sehr sich nun auch Iffland für Reisern mit bewarb, so war es doch unmöglich, daß dieser die Rolle des Clavigo erhalten konnte – statt dessen trat ihm endlich der, welcher den Clavigo spielte, den Fürsten im Edelknaben ab – und in dem Manne nach der Uhr erhielt Reiser die Rolle des Magister Blasius. –

Reiser war nun darüber melancholisch, daß er den Clavigo nicht spielen sollte, und Iffland, daß er überhaupt nicht mehr mit Komödie spielen sollte – beide aber suchten sich zu überreden, daß sie des Lebens um sein selbst willen überdrüssig wären, und luden sich einmal des Nachts zwei Pistolen, womit sie fast die ganze Nacht hindurch Kurzweil trieben, indem sie ›sein oder nicht sein‹ hertragierten. –[311] Bei Reisern ging indes der Lebensüberdruß in der Tat so weit, daß er nicht aus der Stelle wich, wenn Iffland die geladene Pistole auf ihn hielt und den Finger anlegte, um sie abzudrücken, indes Reiser ebendasselbe wieder gegen ihn tat. –

Am andern Tage aber hatte er einen etwas ernsthaftern Auftritt mit Philipp Reisern, den er besuchte. – Er hatte die Nacht nicht geschlafen, eine dumme Trägheit blickte aus seinen hohlen Augen hervor, der Lebensüberdruß saß auf seiner Stirne, alle Spannkraft seiner Seele war dahin – er sagte zu Philipp Reisern guten Tag! – und dann stand er da wie ein Stock. –

Philipp Reiser, der ihn schon öfter aber noch nie in dem Grade in einem solchen Zustand der Erschlaffung gesehen hatte und der nun zu fürchten anfing, daß es wohl gänzlich mit ihm vorbei sein möchte – tat ihm im ganzen Ernst den Vorschlag, daß er ihn totschießen wollte, ehe ein verworfner und schlechter Mensch aus ihm würde, wie jetzt der Fall wäre. – Mit Philipp Reisern, dessen Begriffe ebenfalls romanhaft und überspannt waren, war in solchen Fällen nicht zu spaßen. – Anton Reiser verbat sich also diese Kur noch für jetzt und versicherte, daß er sich wohl noch einmal von seiner jetzigen Erschlaffung wieder erholen würde. –

Indes fing nun seine Lage an, immer mißlicher zu werden – durch die Ausgaben, welche sein Teilnehmen an der Aufführung der Komödien erforderte, die seine Einkünfte weit überstiegen, und durch die Versäumnis der Lehrstunden, welche er gab, stürzte er sich immer tiefer in Schulden und fing bald an den notwendigsten Bedürfnissen des Lebens wieder an Mangel zu leiden, weil er nicht die Kunst gelernt hatte, auf Kredit zu leben. –

Seine Garderobe als Fürst im Edelknaben, die er sich, so wie jeder die seinige, selbst anschaffen mußte, kostete ihm allein so viel, als wovon er einen Monat lang alle seine Ausgaben hätte bestreiten können – und für dies alles erreichte er doch nicht einmal seinen Zweck, sich in einer auffallenden tragischen Rolle zeigen zu können, welches doch eigentlich von jeher sein Wunsch gewesen war. –

Von den drei Stücken, die an einem Abend nacheinander aufgeführt[312] wurden, war Clavigo das erste, der Mann nach der Uhr das zweite, und der Edelknabe blieb bis zuletzt. –

Während daß nun der Clavigo aufgeführt wurde, suchte Reiser in der Anziehstube dicht bei dem Theater soviel wie möglich seine Sinne zu betäuben und sich die Ohren zu verstopfen – jeder Laut, den er vom Theater hörte, war ihm ein Stich durch die Seele – denn hier war es, wo nun eben das schönste Gebäude seiner Phantasie, woran jahrelang gebaut worden war, wirklich scheiterte, und er mußte es selbst mit ansehen, ohne es im mindesten verhindern zu können – er suchte sich mit den beiden Rollen, die er noch zu spielen hatte, zu trösten und alle seine Aufmerksamkeit darauf zu heften, aber es war vergeblich – während daß die Rolle des Clavigo nun von einem andern vor einer solchen Menge von Zuschauern wirklich gespielt wurde, war ihm zumute wie einem, der alle sein Hab und Gut ohne Rettung in den Flammen aufgehen sieht – noch bis zum letzten Tage hatte er immer gehofft, diese Rolle, es koste auch, was es wolle, zu erhalten – nun aber war alles vorbei. –

Und da nun wirklich alles vorbei und Clavigo zu Ende gespielt war, so wurde ihm wieder etwas leichter. – Aber ein Stachel blieb doch immer in seiner Brust zurück. – Er spielte nun im Mann nach der Uhr, worin Iffland den Mann nach der Uhr machte, die Rolle des Magister Blasius mit allem Beifall. – Aber dies war nicht der rechte Beifall, den er sich gewünscht hatte. – Er wollte nicht zum Lachen reizen, sondern durch sein Spiel die Seele erschüttern. – Der Fürst im Edelknaben war nun zwar eine edle, aber doch eine zu sanfte Rolle für ihn – und überdem mißlang es gewissermaßen mit der ganzen Aufführung des Stücks – denn da der Clavigo und der Mann nach der Uhr zu Ende waren, so gingen die meisten Zuschauer weg, weil es schon sehr spät war, und es blieb nicht der dritte Teil da, welche den Edelknaben noch abwarteten – dies und der quälende Gedanke an den Clavigo, den er immer noch nicht unterdrücken konnte, war Ursach, daß Reiser den Fürsten im Edelknaben sehr nachlässig und weit schlechter spielte, als er ihn hätte spielen können – und da nun alles geendigt war, mißvergnügt und traurig nach Hause ging. – Er dachte aber dabei[313] doch noch dereinst seine Lust zu büßen, sich auf dem Theater in einer heftigen und erschütternden Rolle zu zeigen, möchte es auch kosten, was es wolle. – Daß ihm zum ersten Male dieser Genuß versagt war, reizte seine Begierde darnach nur noch stärker und wie konnte er sicherer die Erfüllung seines höchsten Wunsches hoffen, als wenn er das zum eigentlichen Geschäft seines Lebens machte, woran ohnedem schon sein ganzes Herz hing. – Der Gedanke, sich dem Theater zu widmen, bekam daher, statt niedergedrückt zu werden, noch immer mehr Gewalt über ihn. –

Allein so wie man immer zu dem, was man zu tun wünscht, sich selbst die dringendsten Bewegungsgründe zu schaffen sucht, um sein Betragen gleichsam gegen sich selbst zu rechtfertigen – so suchte sich auch Reiser die Bezahlung der kleinen Schulden, die er zu machen verleitet war, als eine so unmögliche Sache und die Entdeckung derselben als etwas so Mißliches vorzustellen, daß er schon dieserwegen sich aus Hannover entfernen zu müssen glaubte. – Aber seine eigentlichen Bewegungsgründe waren der unwiderstehliche Trieb nach Veränderung seiner Lage und die Begierde, sich auf irgendeine Weise so bald wie möglich öffentlich zu zeigen, um Ruhm und Beifall einzuernten, wozu ihm nun freilich nichts bequemer als das Theater scheinen mußte, wo es einem nicht einmal darf zur Eitelkeit angerechnet werden, daß er sich so oft wie möglich zu seinem Vorteil zeigen will, sondern wo die Sucht nach Beifall gleichsam privilegiert ist. –

Indes finden seine kleinen Schulden freilich auch an, ihn zu drücken, wozu noch ein paar Demütigungen kamen, die ihm vollends seinen längern Aufenthalt in Hannover zum Ekel machten. –

Die eine bestand darin, daß ein junger Edelmann, den er unterrichtete, und mit dem er sich auf der Stube desselben manchmal noch ein wenig zu unterhalten pflegte, zu ihm sagte, er habe die Ehre sich ihm zu empfehlen, ehe sich Reiser selbst noch empfohlen hatte. – Es war sehr wahrscheinlich, daß jener wirklich geglaubt hatte, Reiser mache Miene zum Weggehen, und also mit dem Abschiedskomplimente ein wenig zuvorkommend gewesen war – aber eben dies Zuvorkommende war für Reisern so erschrecklich[314] auffallend und drückte auf einmal so sehr sein ganzes Wesen darnieder, daß er, da er schon hinaus war, noch eine Weile still stand und ihm die Arme am Körper niedersanken – dies zuvorkommende ›ich habe die Ehre mich Ihnen zu empfehlen‹ gesellte sich plötzlich in seiner Idee zu dem ›dummer Knabe!‹ des Inspektors auf dem Seminarium, zu dem ›ich meine Ihn ja nicht!‹ des Kaufmanns, zu dem ›par nobile Fratrum‹ der Primaner und zu dem ›das ist ja eine wahre Dummheit!‹ des Rektors. – Er fühlte sich auf einige Augenblicke wie vernichtet, alle seine Seelenkräfte waren gelähmt. – Der Gedanke des auch nur einen Augenblick Lästig-gewesen-seins fiel wie ein Berg auf ihn – er hätte in dem Moment dies irgendeinem Geschöpf außer ihm so lästige Dasein abschütteln mögen. –

Dann ging er aus dem Tore nach dem Kirchhofe, wo der Sohn des Pastor Marquard begraben lag, und weinte bei dessen Grabe die bittersten Tränen des Unmuts und Lebensüberdrusses. – Alles erschien ihm auf einmal in einem traurigen melancholischen Lichte – die ganze Zukunft seines Lebens war düster – er wünschte mit dem Staube vermischt zu sein, den sein Fuß betrat, und dies alles noch wegen des zuvorkommenden ›ich habe die Ehre mich Ihnen zu empfehlen‹. – Diese Worte ließen einen Stachel in seiner Seele zurück, den er vergeblich wieder herauszuziehen suchte – ob er dies gleich sich selber nicht eigentlich gestand, sondern seinen Unmut und Lebensüberdruß aus allgemeinen Betrachtungen über die Nichtigkeit des menschlichen Lebens und die Eitelkeit der Dinge herzuleiten suchte – freilich fanden sich denn auch diese allgemeinen Betrachtungen ein, die aber ohne jene herrschende Idee nur seinen Verstand beschäftigt, nicht aber sein Herz in Bewegung gesetzt haben würden. – Im Grunde war es das Gefühl der durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit, das sich seiner hiebei bemächtigte und ihm das Leben verhaßt machte – er mußte einen jungen Edelmann unterrichten, der ihn dafür bezahlte und ihm nach geendigter Stunde auf eine höfliche Art die Türe weisen konnte, wenn es ihm beliebte – was hatte er vor seiner Geburt verbrochen, daß er nicht auch ein Mensch geworden war, um den sich eine Anzahl anderer Menschen[315] bekümmern und um ihn bemüht sein müssen – warum erhielt er gerade die Rolle des Arbeitenden und ein andrer des Bezahlenden? – Hätten ihn seine Verhältnisse in der Welt glücklich und zufrieden gemacht, so würde er allenthalben Zweck und Ordnung gesehen haben, jetzt aber schien ihm alles Widerspruch, Unordnung und Verwirrung. –

Da er nun zu Hause ging, so wurde er auf der Straße erstlich von einem seiner Gläubiger gemahnet – und da er mit gesenktem Haupte melancholisch vor sich hinging, so hörte er hinter sich einen Jungen zum andern sagen: da geht der Magister Blasius! – Dies brachte ihn so auf, daß er dem Jungen auf der Straße ein paar Ohrfeigen gab, welcher nun hinter ihm herschimpfte, bis Reiser seine Wohnung erreichte. –

Von dem Tage an war Reisern der Anblick von den Straßen in Hannover ein Greuel – und vor allem war die Straße, wo der Junge hinter ihm hergeschimpft hatte, ihm am verabscheuungswürdigsten; er vermied es, wo er konnte, durch dieselbe zu gehen, und wenn er doch durchgehen mußte, so war es ihm, als ob die Häuser auf ihn fallen wollten – wohin er trat, glaubte er hinter sich den spottenden Pöbel oder einen ungeduldigen Gläubiger zu hören. –

Diese Demütigungen waren zu schnell nacheinander gekommen, als daß er sich unter dem Druck, welcher ihm von nun an den Ort seines Aufenthalts verhaßt machte, noch einmal hätte wieder emporarbeiten können. – Der Gedanke, Hannover zu verlassen und sein Glück in der weiten Welt zu suchen, wurde von nun an fester Entschluß, den er aber doch niemanden als Philipp Reisern entdeckte – dieser war damals sehr mit sich selber beschäftigt, weil er wieder einen verliebten Roman spielte und alle seine Aufmerksamkeit darauf wandte, wie er seinem Mädchen gefallen wollte. – Anton Reisers Schicksal war ihm daher etwas weniger wichtig, als es ihm zu einer andern Zeit würde gewesen sein. –

Ohngeachtet Anton Reiser vielleicht in wenigen Tagen Hannover auf immer zu verlassen im Begriff war, so unterhielt ihn sein Freund dennoch mit dem ganzen Detail seiner Liebschaft, als wenn jener den Erfolg von dem allen hätte abwarten können. –[316] Dies ärgerte ihn denn zuweilen wohl – aber Philipp Reiser war doch einmal sein nächster Vertrauter – und er hatte niemanden außer ihm, dem er sich hätte entdecken mögen. –

Weil er doch aber nun, um sein Glück in der weiten Welt zu suchen, sich irgendeinen Ort in der weiten Welt zum Ziel seiner Wanderung machen mußte, so wählte er Weimar hierzu, wo sich damals die Seilersche Truppe, über welche Ekhof die Direktion führte, aufhalten sollte. – Hier wollte er seinen Entschluß, sich dem Theater zu widmen, ins Werk zu richten suchen. –

Während nun, daß er mit diesem Gedanken umging, erlitt er noch eine Demütigung, die ihn vollends in seinem Entschluß bestärkte. –

Er ging nämlich eines Nachmittags mit einer Anzahl seiner Mitschüler, die von der dramatischen Gesellschaft waren, in einem öffentlichen Garten vor der Stadt spazieren. – Nun mochten ihm wohl die Gedanken, womit er umging, ein sonderbares zerstreutes Aussehen geben, wodurch er sich vor seiner Gesellschaft eben nicht zu seinem Vorteil auszeichnete – und seine Mitschüler fielen, ehe er sichs versahe, auf einmal wieder mit einem solchen Spott über ihn her, daß es ihm auch nicht möglich war, gegen alles, was sie sagten, nur ein Wort vorzubringen. – Da nun ihr Witz freien Spielraum fand, so war des Witzelns kein Ende – und da nun überdem ein paar Offiziere in der Nähe standen, die dem Gespräch zuhörten, so konnte Reiser nicht länger ausdauern – er schlich sich vom Tische weg, bezahlte dem Wirt, was er für seinen Teil schuldig war – und eilte, so schnell er konnte, fort – und so bald er nun allein war, brach er aufs neue in laute Verwünschungen über sich und sein Schicksal aus. – Er spottete über sich selbst, weil er sich zum Spott und zur Verachtung geboren glaubte. –

Woher kam es denn auch, daß er zum Spott der Welt gleichsam an der Stirne gebrandmarkt war? – was haftete denn für ein Mal des Lächerlichen an ihm, das durch nichts konnte ausgelöscht werden? – das ihn jetzt, da er doch von seinen Mitschülern geachtet war, aufs neue wieder in einer bösen Stunde ihrem Gelächter preisgab? –

Es war die unverantwortliche Seelenlähmung durch das zurücksetzende[317] Betragen seiner eignen Eltern gegen ihn, die er von seiner Kindheit an noch nicht hatte wieder vermindern können. – Es war ihm unmöglich geworden, jemanden außer sich wie seinesgleichen zu betrachten – jeder schien ihm auf irgendeine Art wichtiger, bedeutender in der Welt als er zu sein – daher deuchten ihm Freundschaftsbezeigungen von andern gegen ihn immer eine Art von Herablassung – weil er nun glaubte, verachtet werden zu können, so wurde er wirklich verachtet – und ihm schien oft das schon Verachtung, was ein anderer mit mehr Selbstgefühl nie würde dafür genommen haben. – Und so scheint nun einmal das Verhältnis der Geisteskräfte gegeneinander zu sein; wo eine Kraft keine entgegengesetzte Kraft vor sich findet, da reißt sie ein und zerstört wie der Fluß, wenn der Damm vor ihm weicht. – Das stärkere Selbstgefühl verschlingt das schwächere unaufhaltsam in sich – durch den Spott, durch die Verachtung, durch die Brandmarkung des Gegenstandes zum Lächerlichen. – Das Lächerlichwerden ist eine Art von Vernichtung und das Lächerlichmachen eine Art von Mord des Selbstgefühls, die nicht ihresgleichen hat. – Von allen außer sich gehaßt zu werden ist dagegen wünschens- und begehrenswert. – Dieser allgemeine Haß würde das Selbstgefühl nicht töten, sondern es mit einem Trotz beseelen, wovon es auf Jahrtausende leben und gegen diese hassende Welt Wut knirschen könnte. – Aber keinen Freund und nicht einmal einen Feind zu haben – das ist die wahre Hölle, die alle Qualen der fühlbaren Vernichtung eines denkenden Wesens in sich faßt. – Und diese Höllenqual war es, welche Reiser empfand, sooft er sich aus Mangel an Selbstgefühl für einen würdigen Gegenstand des Spottes und der Verachtung hielt – seine einzige Wonne war dann, wenn er für sich allein war, in lautes Hohngelächter über sich selber auszubrechen und das nun selber gleichsam an sich zu vollenden, was die Wesen außer ihm angefangen hatten. –


›Wenn diese Wesen mich verspotten und zerstören,

›Die stärker und vollkommner sind als ich,

›Warum soll ich des Mitleids Stimme hören

›Und weinen schändlich über mich? – ‹[318]


Da er nun also dem hohnlachenden Zirkel seiner Mitschüler entflohen war – so schweifte er in der einsamen Gegend umher und entfernte sich immer weiter von der Stadt, ohne ein Ziel zu haben, wohin er seine Schritte richtete. – Er ging immer querfeldein, bis es dunkel wurde – da kam er an einen breiten Weg, der zu einem Dorfe führte, das er vor sich liegen sahe – der Himmel fing an, sich immer düstrer zu umziehn, und drohte Regenwetter – die Raben fingen an zu krächzen, und zwei, die immer über seinem Kopfe hinflogen, schienen ihm das Geleite zu geben – bis er an den kleinen engen Kirchhof des Dörfchens kam, welcher gleich vornean lag und mit unordentlich übereinandergelegten Steinen eingefaßt war, die eine Art von Mauer vorstellen sollten. – Die Kirche mit dem kleinen spitzen Turme, der mit Schindeln gedeckt war, in der dicken Mauer nach jeder Seite zu nur ein einziges Fensterchen, durch welches das Licht schräg hereinfallen konnte – die Türe wie halb in die Erde versunken und so niedrig, daß es schien, man könne nicht anders als gebückt hineingehen. – Und ebenso klein und unansehnlich, wie die Kirche war, so enge und klein war auch der Kirchhof, wo die aufsteigenden Grabhügel dicht aneinander gedrängt und mit hohen Nesseln bewachsen waren. – Der Horizont war schon verdunkelt; der Himmel schien in der trüben Dämmerung allenthalben dicht aufzuliegen, das Gesicht wurde auf den kleinen Fleck Erde, den man um sich her sahe, begrenzt – das Winzige und Kleine des Dorfes, des Kirchhofes und der Kirche tat auf Reisern eine sonderbare Wirkung – das Ende aller Dinge schien ihm in solch eine Spitze hinauszulaufen – der enge dumpfe Sarg war das letzte – hierhinter war nun nichts weiter – hier war die zugenagelte Bretterwand – die jedem Sterblichen den fernern Blick versagt. – Das Bild erfüllte Reisern mit Ekel – der Gedanke an dies Auslaufen in einer solchen Spitze, dies Aufhören ins Enge und noch Engere und immer Engere – wohinter nun nichts weiter mehr lag – trieb ihn mit schrecklicher Gewalt von dem winzigen Kirchhofe weg und jagte ihn vor sich her in der dunklen Nacht, als ob er dem Sarge, der ihn einzuschließen drohte, hätte entfliehen wollen. – Das Dorf mit dem Kirchhofe war ihm ein Anblick des Schreckens, solange er es[319] noch hinter sich sahe – auf dem Kirchhofe war ihm ein sonderbarer Schrecken angewandelt – was er so oft gewünscht hatte, schien ihm gewährt zu werden, das Grab schien seine Beute zu fordern und noch stets, sowie er flohe, hinter ihm seinen Schlund zu eröffnen – erst da er ein andres Dorf erreichte, war er wieder ruhiger. –

Was ihm aber auf dem Kirchhofe den Gedanken des Todes so schrecklich machte, war die Vorstellung des Kleinen, die, sowie sie herrschend wurde, in seiner Seele eine fürchterliche Leere hervorbrachte, welche ihm zuletzt unerträglich war. – Das Kleine nahet sich dem Hinschwinden, der Vernichtung – die Idee des Kleinen ist es, welche Leiden, Leerheit und Traurigkeit hervorbringt – das Grab ist das enge Haus, der Sarg ist eine Wohnung, still, kühl und klein – Kleinheit erweckt Leerheit, Leerheit erweckt Traurigkeit – Traurigkeit ist der Vernichtung Anfang – unendliche Leere ist Vernichtung. – Reiser empfand auf dem kleinen Kirchhofe die Schrecken der Vernichtung – der Übergang vom Dasein zum Nichtsein stellte sich ihm so anschaulich und mit solcher Stärke und Gewißheit dar, daß seine ganze Existenz nur noch wie an einem Faden hing, der jeden Augenblick zu zerreißen drohte. –

Nun war also auf einmal aller Lebensüberdruß bei ihm verschwunden – er suchte in seiner Seele wieder eine gewisse Ideenfülle hervorzubringen, um sich gleichsam nur vor der gänzlichen Vernichtung zu retten – und da er von ohngefähr auf die Heerstraße nach Erichshagen geriet, wo seine Eltern wohnten, und ihm nun auf einmal diese ganze Gegend bekannt war – so nahm er sich erst vor, die ganze Nacht durch zu gehen und seine Eltern noch einmal mit einem unvermuteten Besuch zu überraschen. – Eine Meile war er schon von Hannover und hatte also ohngefähr noch fünf Meilen zurückzulegen. –

Allein der Gedanke, daß er seinen Eltern nichts von seinem Entschluß hätte entdecken dürfen und doch mit schwerem Herzen von ihnen hätte Abschied nehmen müssen, verleidete ihm diesen Vorsatz wieder, da es überdem gegen Mitternacht stark zu regnen anfing. – Er ging also aufs neue mitten im Regen und Dunkel[320] durch das hohe Korn querfeldein nach der Stadt zu – es war eine warme Sommernacht, und der Regen und die Dunkelheit waren ihm bei dieser menschenfeindlichen nächtlichen Wanderung die angenehmsten Gesellschafter – er fühlte sich groß und frei in der ihn umgebenden Natur – nichts drückte ihn, nichts engte ihn ein – er war hier auf jedem Fleck zu Hause, wo er sich niederlegen wollte, und dem Anblick keines Sterblichen ausgesetzt. – Er fand zuletzt eine ordentliche Wonne darin, durch das hohe Korn hinzugehen ohne Weg und Steg – durch nichts, nicht einmal durch ein eigentliches Ziel gebunden, nach welchem er seine Schritte hätte richten müssen. Er fühlte sich in dieser Stille der Mitternacht frei wie das Wild in der Wüste – die weite Erde war sein Bette – die ganze Natur sein Gebiet. –

So wanderte er die ganze Nacht hindurch, bis der Tag anbrach – und als er die Gegenstände allmählich wieder unterscheiden konnte, so deuchte es ihm nach der Gegend, als ob er ohngefähr noch eine halbe Meile von Hannover wäre – auf einmal aber befand er sich, ehe er sichs versahe, dicht an einer großen Kirchhofsmauer, die er sonst nie in dieser Gegend bemerkt hatte – er nahm alle seine Nachdenken zusammen und suchte sich zu orientieren, aber es war vergeblich – er konnte die lange Kirchhofsmauer aus dem Zusammenhange der übrigen Gegenstände nicht erklären; sie war und blieb ihm eine Erscheinung, welche ihn eine Zeitlang wirklich zweifeln ließ, ob er wache oder träume – er rieb sich die Augen – aber die lange Kirchhofsmauer blieb immer da – überdem war auch durch sein sonderbares Nachtwandern und durch das Wegfallen der gewohnten Pause, wodurch die Vorstellungen des Tages der Natur gemäß unterbrochen werden, seine Phantasie zerrüttet – er fing selbst an, für seinen Verstand zu fürchten, und war vielleicht wirklich dem Wahnwitz nahe, als er endlich die vier Türme von Hannover wieder durch den Nebel sahe und nun wußte, wo er war. – Die Morgendämmerung hatte ihn getäuscht, daß er die Gegend für eine andre hielt, die noch eine halbe Meile von Hannover lag und mit dieser, die dicht vor der Stadt war, sehr viel Ähnlichkeit hatte. – Der große Kirchhof, in dessen Mitte eine kleine Kapelle stand, war der ordentliche[321] Kirchhof dicht vor Hannover, und Reisern war nun auf einmal die ganze Gegend wieder bekannt – er erwachte wirklich wie aus einem Traume. –

Aber wenn irgend etwas fähig ist, jemanden dem Wahnwitz nahe zu bringen, so sind es wohl vorzüglich die verrückten Orts- und Zeitideen, woran sich alle unsre übrigen Begriffe festhalten müssen. – Dieser neue Tag war für Reisern wie kein neuer Tag, weil zwischen diesem und dem vorhergehenden Tage keine Unterbrechung der Wirkungen seiner vorstellenden Kraft stattgefunden hatte. – Er ging in die Stadt; es war noch frühmorgens, und auf den Straßen herrschte eine Totenstille. – Das Haus, die Stube, worin er wohnte, alles kam ihm anders, fremd und sonderbar vor. – Diese Nachtwanderung hatte eine Veränderung in seinem ganzen Gedankensystem hervorgebracht – er fühlte sich in seiner Wohnung von nun an nicht mehr zu Hause – die Ortsideen schwankten in seinem Kopfe hin und her – er war den ganzen Tag über wie ein Träumender – bei dem allen aber war ihm die Erinnerung an die Nachtwanderung angenehm. – Das Krächzen der beiden Raben, die über seinem Kopfe hinflogen, der kleine Dorfkirchhof, die durchwanderten Kornfelder, alles drängte sich nun in seiner Einbildungskraft zusammen und machte zusammen eine dunkle Gruppe, ein schönes Nachtstück aus, woran sich seine Phantasie noch oft nachher in einsamen Stunden ergötzt hat. –

Allein sein Aufenthalt in Hannover wurde ihm von nun an womöglich noch verhaßter – und der Wandergeist hatte sich seiner nun ganz bemächtigt – dies war aber auch der Fall bei mehrern von den jungen Leuten, welche mit Komödie gespielt hatten. – Einer namens Timäus, der vorher ein äußerst stiller, fleißiger und ordentlicher Mensch war, entdeckte Reisern im Vertrauen seine Unzufriedenheit mit seinem künftigen Stande eines Theologen, wozu er bestimmt war, und unterredete sich mit ihm über die Glückseligkeit, welche der Schauspielerstand gewährte, wobei er gegen die Vorurteile deklamierte, die diesen ehrenvollen Stand noch immer unverdienterweise herabsetzten. –

Dies Gespräch hielten beide auf einem Spaziergange nach einem kleinen Dorfe vor Hannover; und sie hatten sich so in ihrer Unterredung[322] vertieft, daß sie von der Nacht überfallen und in dem Dorfe zu bleiben genötigt wurden. – Dies ungewöhnliche Übernachten an einem fremden Orte setzte beiden noch mehr romanhafte Ideen in den Kopf – es deuchte ihnen schon, als ob sie auf Abenteuer ausgingen und Glück und Unglück miteinander teilten. – Der kühne Vorsatz dieser beiden Abenteurer, sich über alle Vorurteile der Welt hinwegzusetzen und ihrer Neigung oder ihrem Beruf, wie sie es nannten, zu folgen, blieb denn auch nicht unausgeführt. – Reiser machte den Anfang, und Timäus folgte ihm bald, wurde aber noch glücklich wieder zurückgebracht. –

Reiser machte indes, ehe er seinen Vorsatz ausführte, noch eine nächtliche Wanderung mit Iffland, der ihn des Abends um eilf Uhr mit noch einem von der dramatischen Gesellschaft besuchte und ihn zu einem Spaziergange nach dem Deister, einem Berge, der drei Meilen von Hannover entfernt ist, einlud. – Reiser, dem dergleichen nächtliche Wanderungen nun schon anfingen eine gewohnte Sache zu werden, war sogleich entschlossen – es war eine warme mondhelle Sommernacht. – Die Unterhaltung unterwegens war ganz poetisch, zuweilen etwas affektiert und dann wieder wahr, nachdem es fiel. – Wo sie durch ein Dorf kamen, duftete ihnen der frische Heugeruch entgegen. – Und diese Nachtwanderung war wirklich eine der angenehmsten, die man sich nur denken kann, so daß sie recht vom Zufall veranstaltet zu sein schien, um Reisers Phantasie noch mehr zu erhitzen und seiner einmal angefachten Lust zum Wandern das völlige Übergewicht über die Vernunft zu geben. –

Die drei Abenteurer erreichten noch vor Tagesanbruch ein Dorf, das dicht am Fuß des Berges lag, wo sie einkehrten und noch einige Stunden schliefen. – Da sie aber am andern Morgen früh aufstanden, so waren alle die schönen Bilderchen aus der Zauberlaterne verschwunden; die kahle Wirklichkeit mit allen ihren unvermeidlichen Unannehmlichkeiten stand wieder vor ihrer Seele da – sie saßen über eine Stunde einander gegenüber und jähnten sich an. – Wenn irgendetwas Reisern von seiner Phantasie noch hätte heilen können, so wäre es dieser Morgen nach solch einer Nacht gewesen – es war ihnen nun leid geworden, den Berg zu[323] besteigen, sie fühlten sich müde und matt und nahmen den nächsten Weg wieder nach der Stadt zurück, der ihnen wegen der brennenden Sonnenhitze ziemlich beschwerlich wurde – allein sie fingen unterwegs an, Reime zu extemporieren, womit sie sich die Einförmigkeit des Gehens einigermaßen erleichterten. –

Reiser blieb demohngeachtet völlig entschlossen zu wandern, möchte auch sein Schicksal sein, was da wollte – er zog alles, was ihm begegnen konnte, dennoch der traurigen Einförmigkeit und dem nicht halb und nicht ganz glücklich sein in Hannover vor. –

Alle seine Gedanken gingen nun einmal ins Weite. – Er sahe überdem kein Mittel vor sich, seine Schulden zu tilgen, ohne sie dem Pastor Marquard aufs neue zu entdecken, dessen Achtung und Freundschaft er dann völlig zu verlieren gewärtigen mußte. – Auch die verschiedenen Demütigungen, die er seit kurzem wieder hatte ertragen müssen, waren ihm noch im frischen Andenken und machten ihm den Aufenthalt in Hannover sowohl als die Gegenden umher verhaßt. –

Er wußte seinem einzigen Vertrauten, Philipp Reisern, seine Lage auch so mißlich vorzustellen, daß dieser endlich selbst seinen Entschluß, Hannover zu verlassen, billigte und ihm die Reiseroute nach Erfurt, so wie er den Weg selbst von dorther bis Hannover zu Fuße gemacht hatte, vorschrieb. – Von da wollte denn Anton Reiser nach Weimar gehen, um bei der Seilerschen oder vielmehr Ekhofischen Schauspielergesellschaft als Mitglied angenommen zu werden – und von da aus wollte er denn, wenn ihm dies gelänge, seine Schulden in Hannover bezahlen und seinen guten Ruf wieder herzustellen suchen, indem er dort gleichsam wieder aufstände, nachdem er hier bürgerlich gestorben wäre. – Dies letzte war ihm insbesondre eine der angenehmsten Vorstellungen, womit er sich trug. –

Er brachte nun Philipp Reisern seine wenigen Bücher und Papiere und gab sie ihm in Verwahrung – seine Kleider hatte er zum Teil versetzt, um die Kosten zur Komödie zu bestreiten – und seine übrigen wenigen Sachen ließ er seinem Wirt zur Schadloshaltung[324] für die Miete. – Diesem sagte er, daß sein Vater sehr krank geworden sei und daß er, um diesen zu besuchen, auf eine Woche verreisen würde, wenn etwa jemand nach ihm fragen sollte. –

Und nun war er so weit in Richtigkeit bis auf die Barschaft, womit er eine Reise von mehr als vierzig Meilen antreten sollte. – Diese bestand denn, nach allem, was er hatte auftreiben können, aus einem einzigen Dukaten, womit er Mut genug hatte, sich auf den Weg zu machen, ohngeachtet Philipp Reiser ihm die Unbesonnenheit dieses Unternehmens genug vorstellte. – Aber mit Gelde konnte ihn dieser aus dem sehr wichtigen Grunde nicht unterstützen, weil es ihm selbst gemeiniglich und gerade jetzt gänzlich daran fehlte. –

Anton Reiser konnte also nun im eigentlichen Verstande von sich sagen, daß er alle das Seinige mit sich trug. – Das gute Kleid, worin er die Rede auf der Königin Geburtstag gehalten hatte, nebst einem Überrock war seine ganze Garderobe – dabei trug er einen vergoldeten Galanteriedegen an der Seite und Schuh und seidene Strümpfe. – Ein reines Oberhemde nebst noch ein paar seidenen Strümpfen, Homers Odyssee in Duodez mit der lateinischen Version und der lateinische Anschlagbogen von der Redeübung an der Königin Geburtstage, worauf sein Name gedruckt stand, war alles, was er in der Tasche bei sich trug. –

Es war in der Mitte des Winters, an einem Sonntagmorgen, den er noch bei Philipp Reisern zubrachte, wo er sich völlig reisefertig machte, um den Nachmittag seine Wanderschaft anzutreten und, weil die Tage schon lang waren, noch drei Meilen bis zu der nächsten Stadt auf seiner Tour zurückzulegen. –

Es war heitrer Sonnenschein – die Leute gingen in ihrem Sonntagsschmuck auf der Straße und zum Teil vor das Tor spazieren, um am Abend in ihre Häuser wieder zurückzukehren, und Reiser sollte nun an diesem Tage auf immer aus Hannover scheiden – dies machte ihm eine sonderbare Empfindung, die weder Schmerz noch Wehmut, sondern mehr eine Art von Betäubung war. – Der Abschied aus Hannover preßte ihm keine Träne aus, sondern er war dabei fast so kalt und unbewegt, als ob er durch[325] eine fremde Stadt gereist wäre, der er nun wieder den Rücken zukehren mußte, um weiterzugehen. – Selbst der Abschied von Philipp Reisern war mehr kalt als zärtlich. – Philipp Reiser machte sich viel mit einer neuen Kokarde an seinem Hute zu schaffen und unterhielt dabei seinen scheidenden Freund noch in der letzten Stunde, die sie zusammen zubrachten, von seinem verliebten Romane, den er damals gerade spielte, gleichsam, als wenn Anton Reiser den Verfolg davon hätte abwarten können. – Kurz, die ganze Unterhaltung war so, als ob sie am andern Tage wieder zusammenkommen und alles denn nach der alten Weise fortgehen würde. – Was aber Anton Reisern am meisten ärgerte, war das Putzen der Hutkokarde, womit sich sein einziger Freund in der letzten Abschiedsstunde noch so eifrig beschäftigen konnte. – Diese Hutkokarde schwebte ihm noch lange nachher vor Augen und machte ihm allemal eine verdrießliche Rückerinnerung, sooft er daran dachte. – Auch wurde ihm der Abschied aus Hannover von seinem einzigen Freunde durch dies Putzen der Hutkokarde sehr erleichtert. – Philipp Reiser meinte es aber demohngeachtet gut mit ihm, nur hatte diesmal seine kleine Eitelkeit und seine verliebten Schwärmereien über die freundschaftliche Teilnehmung die Oberhand behalten, und seine Hutkokarde, worin er vielleicht seiner Schönen gefallen wollte, war ihm auch ein sehr wichtiger Gegenstand geworden, wofür nun Anton Reiser freilich keinen Sinn hatte. –

›So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen.‹

Diese Worte aus Werthers Leiden hatten Anton Reisern diesen ganzen Morgen im Sinne gelegen, und da ihm Philipp Reiser den großen Torweg öffnen wollte, durch den nun doch der eigentliche Trennungspunkt bewirkt wurde, weil Philipp Reiser, um nicht Verdacht zu erwecken, als ob derselbe um seine Abreise wüßte, ihn mit Fleiß nicht begleiten sollte, so blieb er noch eine Weile inwendig stehen, sahe Philipp Reisern starr an, und in dem Augenblick war es ihm, als klopfte er so kalt und starr an der ehernen Pforte des Todes an. – Er gab Philipp Reisern, der ihm kein Wort sagen konnte, die Hand, zog darauf den Torweg hinter sich zu[326] und eilte, um die nächste Ecke zu kommen, damit sein nun von ihm geschiedener Freund ihm nicht etwa nachsehen möchte. –

Darauf ging er schnell über den Wall nach dem Ägidien-Tore zu und sahe noch einmal seitwärts nach seiner ehemaligen Wohnung im Hause des Rektors, die er vom Walle aus bemerken konnte. – Es war des Nachmittags um zwei Uhr, und man läutete zur Kirche – er verdoppelte seine Schritte, je näher er dem Tore kam. – Es war ihm, als ob das Grab noch einmal hinter ihm seinen Schlund eröffnete. – Da er aber nun die Stadt mit ihren grünbepflanzten Wällen im Rücken hatte und die Häuser, wie er zurückblickte, sich immer dichter zusammendrängten, so wurde ihm leichter und immer leichter, bis endlich die vier Türme, welche den bisherigen Schauplatz aller seiner Kränkungen und Bekümmernisse bezeichneten, ihm aus dem Gesichte schwanden. –[327]

Quelle:
Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Frankfurt a.M. 1979, S. 203-329.
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