Die Gräfin

[593] Als Kinder waren wir Nachbarn gewesen. Aber Franziska zu Reventlow gehörte so wenig wie ihre Brüder zu meinen Lübecker Spielkameraden. Man kannte sich vom Sehen, wußte, daß der alte Graf im Schleswigschen Landdrost gewesen war, bis ihn die Preußen 1864 absetzten. Er soll stockdänisch gesinnt geblieben sein und sich aus Protest gegen die Annexion Schleswig-Holsteins in das nichtpreußische Lübeck zurückgezogen haben. Doch dies mag alles Kleinstadtklatsch sein. Ich erinnere mich jedenfalls, daß dergleichen vom Grafen Reventlow erzählt[593] wurde. Die Gräfin, seine Tochter, hat es mir nicht bestätigt; ich habe sie auch nie nach dergleichen gefragt. Wer sich für die Familiengeschichte der Reventlows interessiert, der mag den autobiographischen Roman der Gräfin »Ellen Olestjerne« lesen, an den sie übrigens nicht sehr gern erinnert wurde: »Sentimentaler Schmarren«, sagte sie von ihrem Erstlingswerk.

Ich entsinne mich aus meiner Gymnasiastenzeit sehr deutlich der blendend schönen blonden Seminaristin, von der man damals als der »Komtesse Reventlow« zu sprechen pflegte. Da sie den gleichen Schulweg hatte wie ich, sah ich sie täglich, grüßte sie auch höflich – ob aus früh entwickeltem Verständnis für weibliche Reize – die Komtesse war immerhin etliche Jahre älter als ich – oder aus Respekt vor dem schönen Adelsnamen, der einem Fünfzehnjährigen noch von keinem kritischen Erleben ausgetrieben ist, kann ich heute nicht mehr sagen. Sicher ist, daß die Bewunderung durchaus einseitig war und daß ich die puerilen Empfindungen distanzierter Verehrung ihrem Objekt erst ungefähr zwölf Jahre später gebeichtet habe.

Wie die Bekanntschaft im Münchener Café Luitpold zustande kam, weiß ich nicht mehr genau, vermutlich saß ich mit Bekannten von ihr zusammen, und sie kam dazu, oder es mag auch umgekehrt gewesen sein, daß mich Maya oder irgendwer, von dem die Tagebücher der Gräfin Näheres berichten, zu ihr an den Tisch schleppte. Die gemeinsame Heimat schuf von selbst Stoff zu vielerlei amüsanten Betrachtungen, und ich glaube, es war gleich bei unserer ersten Begegnung, daß die Gräfin mir erzählte, wie wir zahlreichen, in die Literatur, Kunst und Boheme versprengten Lübecker Gegenstand der besorgten Unterhaltung auf einer Abendgesellschaft beim Bürgermeister unserer Vaterstadt gewesen seien. Thomas Mann hatte mit den »Buddenbrooks«, Heinrich Mann mit dem »Professor Unrat« die Lübecker Wohlanständigkeit arg verschnupft, Fritz Behn war noch kein Professor und hatte sich, gleichfalls[594] Sproß einer Senatorenfamilie, der brotlosen Kunst der Bildhauerei in die Arme geworfen, die Reventlow gar, eine Gräfin, war Mutter eines unehelichen Kindes, und ich schrieb nicht nur höchst unmoralische Gedichte, sondern trieb überdies Propaganda für den Anarchismus und gab der Polizei und dem Staatsanwalt zu tun – es war viel auf einmal, und Seine Magnifizenz hätte, wie die Gräfin von einer Ohrenzeugin erfahren hatte, ob dieser traurigen Bilanz bekümmert den Kopf geschüttelt und gemeint: »Daß die auch gerade alle aus Lübeck sein müssen – was sollen bloß die Leute im Reich von uns denken!«

Was die Gräfin anlangt, so war es ihr recht gleichgültig, was die Leute im Reich, die Leute in Lübeck und zumal die Leute der Kaste, aus der sie stammte, dachten. Sie ging ihren Weg und lebte, wie es ihr paßte und wie sie es ihrer Lebensaufgabe schuldig zu sein glaubte. Diese Lebensaufgabe aber konzentrierte sich fast vollständig auf die Pflege und Erziehung ihres Kindes. Unter allen reichen Eigenschaften, die Franziska zu Reventlow auszeichneten, dem herrlichen Lebensmut, trotz ewiger Krankheit, ewigem Mißgeschick und quälendster Armut, der Selbstverständlichkeit, Handeln und Denken nur den Gesetzen des eigenen moralischen Gewissens zu unterwerfen, unbekümmert um Konventionen und gesellschaftliche Vorurteile, der Arbeitsenergie, die sie heute zu simplen Näharbeiten, morgen zu Glasmalereien und dazwischen zu wertvollen Übersetzungen aus dem Französischen und zum Schreiben ihrer überlegen-humorvollen, stilistisch ausgezeichneten Novellen befähigte – unter all diesen Tugenden ruhte der seelische Halt der Frau ganz und gar in ihrer Mutterliebe. Freilich war sie eine viel zu lebenshungrige und künstlerisch bewegte Natur, um sich nicht unbedenklich den Launen ihres sinnlichen Begehrens zu überlassen, und dazu ein viel zu fröhlicher Charakter, um sich nicht mit unvergleichlicher Leichtigkeit und selbst Ausgelassenheit über die schikanöse Misere des Daseins hinwegzusetzen. Ihr inneres Glück aber zog sie einzig aus dem Reichtum,[595] den ihr das Heranwachsen und körperliche und geistige Gedeihen ihres Kindes, ihres Bubi, gab. Man erfährt ja erst aus den Tagebüchern, zu welchem Schmerz das übermütige Herz dieser Mutter fähig war, welches Wirrsal von Sehnsucht jede kurze Trennung von dem Kinde in ihr wachrief. Ich glaube, daß die freundschaftliche Sympathie, die die Gräfin mir durch alle Jahre unserer Bekanntschaft bezeigt hat, wesentlich ein Reflex der Freude war, die mir die Beschäftigung mit Kindern erweckt und die mir das Vertrauen aller Kinder einträgt. Die Freundschaft, die müder kleine Rolf entgegenbrachte, teilte sich der Mutter mit und erwarb mir das Amt eines Beichtvaters in vielerlei Nöten und Sorgen, wovon viele Briefe, die ich verwahre und die bis zum Jahre 1907 zurückreichen, Zeugnis geben.

In den Briefen ist viel die Rede vom »lieben Gott«. In diesem Sammelbegriff faßte die Gräfin alles zusammen, was ihr das Leben verbitterte: Krankheit, Schulden, Pech jeder Art, und ich habe kaum einen Menschen gekannt, der so unaufhörlich vom Pech verfolgt war wie diese Frau, die wahrhaft jedes Glück verdient hätte, da sie die zur Genialität gesteigerte Fähigkeit besaß, Glück zu genießen und zu verwerten. Ich denke mit Wehmut daran, wie sie wochenlang im Zimmer hockte, Hunderte von Gläsern um sich herum, und die Landschaften von Oberammergau, das Theater, die rührendsten Szenen der Christusgeschichte und sonstwelche frommen Dinge darauf malte. Sie war auf die Idee gekommen, ihrem Dalles durch den Verschleiß von Andenken an Oberammergau bei den gerade fälligen Passionsspielen abzuhelfen. Tatsächlich reiste sie hin, saß die ganze Zeit von früh bis abends in einer Holzbude vor dem Theater und hoffte auf die amerikanischen Millionäre, die ihr die Gläser abkaufen würden. Aber die ganze Zeit hindurch regnete es, und außerdem waren die Andenken viel zu billig, als daß reiche Leute sie gekauft hätten. So kam sie fast mit dem ganzen Vorrat und mit vermehrter Schuldenlast nach Schwabing zurück. Um sich am Anblick der[596] durch die Malerei völlig entwerteten Gläser nicht länger ärgern zu lassen, beschloß die Gräfin, die ganze Herrlichkeit zu ersäufen. Sie mietete im Englischen Garten ein Boot, ruderte in die Mitte des Klein-Hesseloher Sees und wollte eben das mächtige Paket mit den Passionsgläsern über Bord lassen, als ein Parkwächter erschien und ihr zuschrie, das Versenken von Gegenständen im See sei bei hoher Strafe verboten. Daß sie den zum Tode verurteilten Andenken nicht einmal den Garaus machen konnte, knickte die arme Gräfin noch mehr als die ganze Pleite von Oberammergau.

In meiner früher hier schon erwähnten Schrift »Ascona. Eine Broschüre« hatte ich mich ausgiebig mit einer der ulkigsten Persönlichkeiten befaßt, die die schöne Landschaft dort am Lago Maggiore belebten. Das war ein baltischer Baron namens Rechenberg, ein riesiger Kerl, der ein verwegenes Leben als Matrose in aller Welt und als Goldwäscher im Ural hinter sich hatte, bei irgendwelchen Abenteuern sein Gehör vollständig eingebüßt hatte und gegen die abstinenten Vegetarier besonders dadurch erheblich abstach, daß er zu jeder Mahlzeit ungeheure Fleischmassen vertilgte und ständig besoffen war. Dieser Mann liebte glühend eine italienische Waschfrau, die aber von dem tauben Säufer schon deswegen nichts wissen wollte, weil sie mit ihrem Mann recht glücklich lebte. Rechenberg hatte in seiner kurländischen Heimat einen reichen Vater wohnen und berechnete unausgesetzt, wie er sein Leben neu gestalten werde, wenn er dereinst die Erbschaft anträte, die er auf etwa zweihunderttausend Mark veranschlagte.

Zum Freundeskreis der Gräfin Reventlow gehörten in den letzten Jahren ihrer Münchener Zeit der Psychoanalytiker Dr. Otto Groß und der Nationalökonom Professor Edgar Jaffé, der, wie schon erwähnt, später Finanzminister der Eisnerschen Revolutionsregierung wurde. Groß wollte der Gräfin helfen, indem er in seiner genialen und faszinierenden Art alle ihre Sorgen und Leiden als[597] Wirkung seelischer Komplexe bewußt zu machen und dadurch aufzulösen suchte, Jaffé bot ihr eine Stellung als Privatsekretärin an. Sie schwankte zwischen den starken Eindrücken der Psychoanalyse, die sie übrigens zugleich sehr lustig ironisierte, und der Aussicht, eine feste Existenz zu erhalten, auf der einen Seite, andererseits einem Angebot, in Paris als Kassendame bei einer Kunstausstellung eine Stellung anzunehmen, die ihrem Erlebnisdrang einigermaßen entgegenkam, hin und her. Sie entschloß sich endlich zu Paris. In dieser Zeit – gegen Herbst 1910 – kam eine Freundin von mir aus Ascona nach München zurück und berichtete mir folgendes: Der Vater des Barons Rechenberg habe sich nun ebenfalls in Ascona festgesetzt und möchte gern, daß der Sohn heiraten solle. Das habe Rechenberg junior auf die Idee gebracht, der geliebten Waschfrau, da er sie schon nicht haben könne, dadurch zu helfen, daß er deren Töchterchen zu seiner Erbin mache. Nach russischem Recht würde aber sein väterliches Erbteil nach seinem Tode an die Geschwister fallen, falls er unverheiratet stürbe. Sei er aber verheiratet, so könne er selbst letztwillig verfügen. Darum lasse mich Rechenberg fragen, ob ich nicht eine Frau für ihn wisse, die mit ihm einen Scheinehevertrag eingehen möchte. Sie würde, sobald er die Erbschaft antrete, die Hälfte des Vermögens sofort ausgezahlt erhalten, dürfe aber an die andere Hälfte keinerlei Ansprüche stellen, die solle für das Kind der Waschfrau bleiben. Eine Verpflichtung aus der Ehe anderer Art käme selbstverständlich nicht in Frage.

Als ich den Vorschlag hörte, rief ich augenblicklich: »Die Gräfin!« Von der hatte ich mich am selben Vormittag verabschiedet, da sie am andern Morgen nach Paris abreisen wollte. Ich stürzte sofort in ihre Wohnung und ließ ihr einen Zettel zurück, daß sie unbedingt noch zu mir kommen müsse. Abends kam sie.

»Sagen Sie mal, Gräfin«, sagte ich, »Sie sollen eine Baronin werden.« – »Sie sind wohl verrückt«, entgegnete sie, und dann setzte ich ihr die Geschichte auseinander.[598] »Wie heißt der Kerl?« fragte sie nach kurzer Überlegung und meinte dann: »Rechenberg ist ganz praktisch. Da brauche ich ja nicht einmal die Monogramme in den Taschentüchern umzusticken.« Sie beauftragte mich, die Rechtsverhältnisse nach den russischen Gesetzen zu ermitteln, mich mit dem Balten direkt in Verbindung zu setzen und alles zu tun, was die Sache fördern könne. Sie reiste ab, und ich machte mich ans Werk, froh, der wertvollsten Frau, die ich kannte, ein für allemal aus Elend und Bruch helfen, zugleich einem armen, italienischen Proletarierkind eine sorgenfreie Zukunft schaffen und dem gutmütigen Säufer das Herz erleichtern zu können.

Es mag genügen, zu wissen, daß die Eheschließung tatsächlich zustande kam. Die Gräfin schilderte mir in einem bezaubernden Briefe die Zeremonie in der Kirche zu Locarno; sie erschien im Strandkleid, der Gatte im Matrosendreß, und der Schwiegervater, der keine Ahnung hatte, daß das Ganze Komödie war, voll Glück, daß dem mißratenen Sohn sogar eine leibhaftige Gräfin beschieden sei, in Bratenrock und Zylinder. Als er später dahinterkam, was es mit der ganzen Heiraterei auf sich hatte, war es zu spät.

Dann erhielt ich – ich denke 1912 – eine Karte mit der Mitteilung, die Erbschaft sei fällig. »Hoffentlich gibt es keine Mißernte.« Na, es gab lange Prozessiererei und schließlich nicht die hunderttausend, doch aber an die vierzigtausend Franken, eine für die Gräfin märchenhafte Summe.

Was weiter geschah, hat die glückliche Erbin in ihrem kostbaren Roman »Der Geldkomplex« selber wenigstens angedeutet. In dem Briefe, der mir den Verlauf berichtete, beklagte sie sich nur über den eigenen Leichtsinn, der darin lag, daß sie zum ersten Male in ihrem Leben etwas bürgerlich vollkommen Korrektes getan hatte, nämlich das Geld einer Bank zu übergeben. Mit einer kleinen Summe fuhr sie nach Nizza. Von dort zitierte sie ein Alarmtelegramm zurück, und als sie in Locarno eintraf, hatte die Bank, eines[599] der bedeutendsten Schweizer Institute, gerade falliert, war die Erbschaft vollständig beim Teufel. »Es scheint kein Segen an dem Geld gehangen zu haben«, meinte sie in dem Brief an mich melancholisch, fand aber zugleich, daß die ganze Geschichte ihr nur ähnlich sehe.

Danach habe ich die Gräfin nur noch ein einziges Mal gesehen, als der Krieg schon im Gange war. Sie war durch die Heirat Russin und daher »Feindin« geworden. Nun kam sie bei mir an und klagte, daß ihr Junge, der damals sechzehn Jahre alt war, durchaus als Freiwilliger gehen wolle. »Er hält den Krieg für eine Indianergeschichte«, sagte sie todunglücklich. Zum Glück wurde ihr Bubi damals nicht genommen, und als er zwei Jahre später mußte, da hat die mutige Gräfin ihrer Mutterliebe die Krone aufgesetzt und ihn mit eigener Gefahr in Sicherheit gebracht. Wie das geschah, gehört aber nicht in meine Erinnerungen hin ein, am wenigsten in die unpolitischen.

Im Sommer 1918 erreichte mich in Traunstein, wo ich interniert war, die Nachricht, daß Franziska zu Reventlow gestorben sei. Es war schwer, daran zu glauben. Ich grüße diese Tote mit inniger Verehrung. Sie trug, außer ihrem Namen, nichts an sich, was vom Moder der Vergangenheit benagt war. In die Zukunft gerichtet war ihr Leben, ihr Blick, ihr Denken; sie war ein Mensch, der wußte, was Freiheit bedeutet, ein Mensch ohne Vorurteile, ohne traditionelle Fesseln, ohne Befangenheit vor der Philiströsität der Umwelt. Und sie war ein froher Mensch, dessen Frohsinn aus dem tiefsten Ernst des Charakters kam. Wenn sie lachte, dann lachte der Mund und das ganze Gesicht, daß es eine Freude war, hineinzusehen. Aber die Augen, die großen, tiefblauen Augen, standen ernst und unbewegt mitten zwischen den lachenden Zügen. Die Gräfin war eine schöne Frau, ihr Äußeres von strahlendem Reiz, und das Herz erfüllt von der Sehnsucht nach einer schönen und freien Menschenwelt.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd. 2: Publizistik. Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1978, S. 593-600.
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