2. Gebet am Grabe

[19] Du gabst ihn mir – du hast ihn mir genommen,

Du ew'ger Gott, der unser Schicksal lenkt,

Mit ihm ward mir das höchste Glück geschenkt

Und nun ist mir das tiefste Leid gekommen.


Ich frage wohl: wie soll ich noch ertragen

Das Leben, das nun öde vor mir liegt

Seit ihn des Todes dunkle Macht besiegt

Und all umsonst mein Sehnen und mein Klagen?
[19]

Und doch – ob alle Hoffnungen versanken

Erinn'rung bleibt mir an die Seligkeit,

Die nur der Liebe süße Macht verleiht –

Und dafür muß ich selbst in Thränen danken.[20]

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 19-21.
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