Viertes Capitel
Geheimnißvolles

[76] Am Morgen nach dem nächtlichen Abenteuer, welches Ulrich und Hieronymus zum ersten Male in ihrem Leben in eine Art von Zwiespalt gebracht hatte, waren sie stumm aufgestanden und hatten auch so ihr Morgenbrod genossen. Es war noch dunkel, als sie die Stiege hinabgingen, da hörte Ulrich von seinem Tritt berührt die Stufen etwas wie eine kleine Kugel hinabrollen. Er tappte unten danach, wo der Laut verhallt war, und fühlte einen Ring mit einem großen Stein in seinen Händen.

Draußen vor der Hausthür besah er seinen Fund und zeigte ihn auch Hieronymus. Es waren die ersten Worte, welche sie zusammen redeten.

»Es scheint ein werthvolles Kleinod zu sein,« sagte Ulrich; »ein goldener Ring, einen großen Stein in der Mitte, der noch mit einem Kranz von gleichen Steinen eingefaßt ist – wer kann ihn verloren haben?«[76]

»Wer anders als das Judenkind?« sagte Hieronymus, »es ist ja Niemand in das Haus gekommen.«

Ulrich schüttelte den Kopf. »Wie käme die zu solchem Kleinod?«

»O dies Judenpack sammelt immer Schätze, um die es die Christen betrügt,« rief Hieronymus, »und wer weiß, auf welche unlautere Weise noch die Dirne dazu gekommen, die sich seit Jahr und Tag so unerträglich an uns hängt, und wenn man einmal sie lange losgeworden zu sein scheint und sie fast vergessen hat, so ist sie wieder da in einer andern Gestalt uns zu belästigen gleich einem bösen Kobolt, mit dem jede Bewegung unheilvolle Folgen hat.«

»Hieronymus!« mahnte Ulrich, »wir haben es mehr als einmal gesagt, daß wir ohne Grund andern Menschen nicht eher das Schlechte zutrauen wollten als das Gute, nach dem Grundsatz der heiligen Schrift: Was du nicht willst, daß dir die Leute thun sollen, das thu' du ihnen auch nicht! Warum ihn einmal verleugnen? Warum dies Judenmädchen, das mir ein unschuldiges, aber gepeinigtes Kind zu sein scheint, zu einer Verbrecherin stempeln?«

»Die Juden sind einmal die Ausgestoßenen, auf denen der Fluch des Herrn ruht, den sie sich selbst täglich[77] neu verdienen!« rief Hieronymus. »Hast Du Dein Glaubensbekenntniß geändert, so brauchst Du doch nicht mir dasselbe zuzumuthen – und außerdem hätte ich wenigstens erwartet, daß Du meine Mutter schonen und ihr nicht so ihre Liebe vergelten würdest!«

»Hieronymus!« sagte Ulrich ernst, »Du sahest selbst, daß ich nicht anders handeln konnte. Du eiltest selbst mit mir den Unglücklichen zu Hülfe, Du gewährtest sie ihnen, wie ich auch, nachdem wir erfuhren, daß sie zu den Ausgestoßenen gehörten –«

»Ja,« fiel ihm der unzufriedene Kamerad in's Wort, »ich gewährte sie ihnen, wie ich sie auch einem Hunde würde gewährt haben, der von einer tollen Meute angefallen. Die Hülferufenden vor Mißhandlung zu schützen und dann der Wache zu übergeben, war unser würdig; aber das Mädchen bei uns zu verstecken – dieser Schimpf macht meine Mutter unglücklich und wird uns Beide in Schimpf und Schande bringen, wenn, was sehr wahrscheinlich ist, der Vorfall in der Hütte zur Sprache kommt.«

»Dann,« sagte Ulrich, »werde ich den Schimpf und die Strafe auf mich allein nehmen und sagen, daß ich das nicht nur gethan, weil ich gar nicht anders konnte, sondern auch gegen Deinen Willen; und damit man[78] dies glaubt, will ich mir noch heute eine andere Wohnung suchen und Deiner Mutter nicht mehr zur Last fallen.«

Während er so sprach, drehte er den Ring noch in der Hand. Hieronymus sah darauf und sagte:

»Wirf den Ring in den Schnee, mag ihn finden, wer will.«

»Dadurch, daß ich ihn fand, ist er mir anvertraut worden,« antwortete Ulrich; »ich hoffe den rechtmäßigen Eigenthümer dazu noch finden zu können.«

»Wohl, er wird eine neue Berührung mit Rachel herbeiführen!« sagte Hieronymus mit spöttischem Lächeln.

Ulrich zuckte die Achsel als Antwort.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander und betraten so aufgeregt und verstimmt die Hütte. Es war die höchste Zeit, daß sie kamen, denn schon begann das Morgengebet – wer später erschien, mußte Strafe geben und seinen halben Tagelohn »in die Büchse legen.«

Schweigend gingen dann Beide an ihre Arbeit. Nach ein paar Stunden kam der Propst Kreß und redete leise und eifrig in einer entfernten Ecke heimlich mit dem Werkmeister, wobei er seine Augen immer auf Ulrich und Hieronymus richtete.[79]

Dieser bemerkte es zuerst und flüsterte Jenem zu: »Jetzt kommt es schon zur Sprache.«

Ulrich antwortete stolz: »Du brauchst Dich nicht zu fürchten, ich werde Alles auf mich allein nehmen« – und er meißelte ruhig an der kleinen Statue eines Johannes weiter, die unter seinen Händen aus dem Stein hervorzuspringen schien.

Nach einer Weile wurden die Beiden von dem Hüttenmeister aufgerufen. Ulrich näherte sich mit gewohntem stolzen Gange, Hieronymus finsterblickend mit niedergeschlagenem Auge.

Der Werkmeister theilte ihnen mit, daß sie sich Beide morgen in das ein paar Stunden entfernte Benediktinerkloster zum heiligen Kreuz begeben sollten, um ein halb zertrümmertes Weihbrodgehäuse wieder herzustellen. Er nannte ihnen den Lohn, den sie bekommen sollten, und fügte hinzu, daß sie diese Gunst theils ihrem Fleiß und ihrer Geschicklichkeit, theils der Empfehlung des Herrn Propstes dankten.

Mit Erstaunen empfingen die Baubrüder diesen ehrenvollen Auftrag, da sie eben eine ganz andere Rede erwartet hatten, und besonders Hieronymus richtete sich noch einmal so groß auf und blickte, die vorige Angst von sich werfend, mit leuchtenden Augen um sich, indeß[80] Ulrich seine dankenden Blicke auf den Propst richtete. Aber zu seiner Verwunderung begegnete er in dessen sonst immer freundlichen Gesicht einen Ausdruck von Besorgniß und Kummer, der demselben sonst ganz fremd war. Wie segnend legte der Propst seine Hände auf die Häupter der beiden Gesellen und sagte: »Ziehet mit Gott! und möge er Euch gnädig sein bei dem neuen Werke zu seiner Ehre.« Dann flüsterte er Ulrich zu: »Kommt heute nach dem Feierabend noch zu mir, ich will Euch noch ein Schreiben mitgeben an den Herrn Abt.« Dann verließ er eilends die Hütte.

Als die Baubrüder zum Mittagessen nach Hause gingen, sagte Ulrich: »Nicht wahr? das war eine vergebliche Angst?«

»Wer kann es wissen?« antwortete Hieronymus; »möglich, daß dies Zusammentreffen bloßer Zufall; möglich auch, daß der Propst, der Dich einmal in seinen besonderen Schutz genommen, diese Entfernung für Dich wohlthätig findet und selbst veranstaltet; möglich auch, daß, was eine Gunst erscheint, eine Verbannung ist, und indeß unsere Feinde Zeit haben uns bis zu unserer Rückkehr Schimpf und Schande zu bereiten!«

»Dummes Zeug!« antwortete Ulrich, und konnte doch die trüben, mitleidigen Blicke des Propstes nicht[81] los werden, der sonst bei ähnlichen Gelegenheiten nur freundliche und heitere für ihn gehabt hatte.

Aber beide theilten die Kunde doch fröhlich als Glück und Ehre der Mutter Martha mit. Sonst wäre sie in lauter stolze Glückwünsche ausgebrochen – heute, wo sie auf Ulrich zürnte und um ihren Sohn sich ängstete, sagte sie in kummervollem Tone:

»Nun werde ich allein sein, wenn der Büttel kommt Euch vor den Schultheißen zu citiren, oder wenn das Judenmädchen sich untersteht mir wieder über den Hals zu kommen.«

»Das ist bald fortgejagt,« tröstete Hieronymus, »und was der Büttel bei uns zu suchen hätte, wüßt' ich wahrhaftig nicht.«

»Und meinetwegen habt Ihr in Eurer Wohnung auch nichts mehr zu fürchten,« sagte Ulrich; »ich werde mir eine andere suchen, sobald wir wieder aus dem Kloster zurück sind, so könnt Ihr morgen schon sagen, daß ich nicht mehr bei Euch wohne.«

Mutter Martha entfärbte sich und hätte bald vor Schreck die Suppenschüssel hingeworfen – daß Ulrich sich von ihr und ihrem Sohne trennen könne, das schien ihr gar nicht mehr möglich; doch saß ihr Groll zu tief,[82] als daß sie schon heute ein versöhnliches Wort zu ihm hätte reden können. –

Als Ulrich am Abend zu dem Propst kam, führte ihn die öffnende Wirthschafterin nicht in dessen gewöhnliches Wohnzimmer, sondern in ein kleines Seitengemach, das einen besondern Eingang hatte, und bedeutete ihn zu warten. Durch die hohe eichene Flügelthür schallte das Gelächter überlauter Zecher.

Da der Propst so viel auf seine geistliche Würde hielt, um nicht öffentliche Trinkstuben zu besuchen, so suchte er sich dafür in den Häusern guter Freunde oder noch öfter in seinem eigenen Hause zu entschädigen. Es war bekannt, daß der Keller des Propstes am besten in der ganzen Stadt gefüllt war, daß er die feinsten wie die schwersten Weine enthielt und daß er mit keinem derselben geizte – ja, er trank seinen Gästen immer eifrig zu, und rechnete es sich als ein Verdienst und das Zeichen eines guten Wirthes an, wenn seine Gäste betrunken wurden, im besten Falle taumelnd heimgingen, oder auch noch in seinem Zimmer bewußtlos zu Boden sanken und halbe Stunden brauchten ihren Rausch auszuschlafen. Solche Niedergetrunkene wurden dann in das Cabinet gewälzt, in dem jetzt Ulrich wartete und dem man deshalb den Namen der[83] Todtenkammer gegeben. Zum Glück hatte sie jetzt noch keinen Insassen.

Heute würde sich der Propst keine Gäste geladen haben, da er sich vorgenommen, ernsthaft mit Ulrich zu sprechen; allein auswärtige Amtsbrüder und Genossen waren unerwartet und gehörig ausgefroren angekommen, sie saßen nun jetzt schon ein paar Stunden mit ihm beim Mahl und vertilgten immer mehr von der edlen Gottesgabe, die sie mißbrauchten, bis sie dadurch sich selbst und gewaltsam unter das Thier erniedrigten. Für einen Helden galt, wer am meisten saufen konnte – so nannten sie auch selbst ihr unmäßiges Trinken, das auch auf keinen andern Namen mehr Anspruch zu machen hatte und wenn bei Einigen in allerlei kaum glaublichen und nicht zu schildernden Rohheiten die viehische Lust ausbrach, oder Andere wie Todte da lagen, so galt dies meist als das fröhlichste Ende eines fröhlichen Gelages – bei Fürsten und Geistlichen ebenso gut, ohne daß diese darum in der öffentlichen Meinung verloren, wie bei Bürgern und Gesellen.

Mit rothglühendem Gesicht trat der Propst vor Ulrich – er hatte ganz vergessen, daß er ihn herbestellt; jetzt fiel es ihm ein und auch welche Warnungen er ihm hatte mitgeben wollen; aber er war seiner Sinne[84] zu wenig mächtig, um selbst zu wissen, was er sprach. Er gehörte zu den gutmüthigen und gemüthlichen Naturen, die in der Trunkenheit sich durch Geschwätzigkeit und Zärtlichkeit offenbaren, gleich sehr zum Lachen wie zum Weinen geneigt, je nachdem die Veranlassung dazu reizt.

»Ach, Du bist es, mein guter Junge!« sagte er zu Ulrich; »Du kommst, ehe Du in das Kloster gehst – nun, möge der Gang Dir nicht zum Unglück werden – Du weißt, ich meine es gut mit Dir – ich wußte mir nicht zu helfen, ich mußte nachgeben, Dich hinschicken, da der Werkmeister gleich darauf einging.«

»Ein Unglück?« sagte Ulrich und dachte an Hieronymus' Argwohn: »ich meinte, man habe uns eine Gunst erwiesen, und kam, sowohl Euch dafür zu danken als Euren Auftrag zu empfangen.«

»Ach ja!« sagte der Propst und rieb sich die erhitzte Stirn, »es ist gewiß eine Gunst. Ich wollte nur sagen, daß Ihr im Kloster vorsichtig sein sollt – nicht mit den Mönchen reden – es darf bei Strafe nicht sein – auch nie ein Wort laut werden lassen von dem, was Ihr drinnen sehet und höret – es geht die Laien nichts an – und Euch könnte es nur schaden.«[85]

»Ich werde mich gewiß der erwiesenen Gunst nicht unwerth erweisen,« versetzte Ulrich; »indeß erlaubt mir eine Frage: Ich sah Euch ehegestern beim Meister Kraft mit einem Benediktinermönch am Fenster stehen, der mir derselbe zu sein schien, welcher mir vor –«

Entsetzt sprang der Propst auf Ulrich zu und drückte seine Hand auf dessen Mund, ihm die Rede abzuschneiden: »Um aller Heiligen Willen, vollendet nicht! Wißt Ihr – ahnt Ihr es denn wirklich schon? – Nein! denkt lieber gar nicht daran – denkt lieber, es sei nicht – es wäre ja schrecklich, wenn es wäre, und noch schrecklicher, wenn es an den Tag käme!«

Jetzt war die Reihe zu erschrecken an Ulrich. Er sah wohl, daß der Wein in diesen unzusammenhängenden Reden schäumte, aber irgend einen Hintergrund mußten sie doch in des Propstes Seele haben.

»Ich verstehe Euch nicht,« sagte er; »was ich fragen wollte, ist etwas Ungefährliches und Geringes. Ich hatte bald nach meiner Ankunft in Nürnberg das Unglück, im Gedränge mit meinem Schwert den Rosenkranz eines Benediktinermönchs zu zerreißen; das kostbare Kreuz, das daran hing, ist mir zurückgeblieben, und ich möchte es gern seinem Eigenthümer zurückgeben: nun schien es mir, als hätte ich denselben Klosterbruder[86] neben Euch gesehen; wenn er vielleicht es war, der die Sendung des Abtes vom heiligen Kreuz Euch überbrachte, so wollte ich nur fragen, ob ich das Verlorene dem Abt oder dem Mönch übergeben sollte? Was ist dabei das Unglück?«

Der Propst hatte mit äußerster Anspannung seiner Sinne und Kräfte zugehört, er wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte: »Weiter weißt Du gewiß nichts von dem Mönch?«

»Nichts!«

»Nun, dann danke Gott, daß Du es nicht weißt!«

»Aber ich irrte mich nicht, es war derselbe?«

»Derselbe! ach, es ist schrecklich, daß es immer derselbe!«

»Soll ich ihm das Kreuz geben?«

»Thue es, aber höre nicht auf seine Reden – er ist halb wahnsinnig – sprecht nicht mit ihm, wenn es Jemand sieht und hört – aber dem Abt gebt das Kreuz auch nicht – da gebt es lieber noch dem Bruder Amadeus selbst – aber hört nicht auf ihn; er hat wunderliche Einfälle und fixe Ideen.«

»Amadeus heißt er?«

»Amadeus; aber laß Dich nicht irre von ihm machen, ich beschwöre Dich. Er ist schon lange im Kloster, aber[87] er war früher ein vornehmer Ritter und büßt um seine Sünden, die er damals begangen; er hat viel Unglück angerichtet, er könnte Dich auch unglücklich machen – wie er Deine Mutter unglücklich gemacht hat –«

»Meine Mutter? sagt Ihr?« rief Ulrich aufhorchend in äußerster Bestürzung.

»Mutter sagt' ich?« rief der Propst; »nein, das sagt' ich nicht; ich meinte meine Schwester, wenn ich's sagte – bedenke, daß er wahnsinnig – und mit mir – was meinst Du, mit mir ist es wohl auch nicht richtig? Hörst Du, wie drinnen die Pokale klingen! – Warte, Du sollst auch nicht dursten, der Wein erfreut des Menschen Herz!«

Mit diesen Worten ging er zu seinen Gästen zurück und sandte ihm durch die Dienerin einen großen gefüllten Humpen heraus, ließ ihm sagen, er möge nur austrinken, dann käme er wieder. Ulrich trank mit Maß, er war in der peinlichsten Stimmung. Bisher hatte er den Propst nie anders gesehen als in der Bauhütte oder Kirche, oder wenn er ihn in der Krankheit besuchte, da war er immer nüchtern gewesen – jetzt sah er wohl, daß er betrunken war und nicht wußte, was er sprach; aber es schien ihm doch, daß er spreche, was er denke und fühle, und gerade nicht sprechen[88] wollte. Welch' ein Zusammenhang konnte zwischen diesem Amadeus und seiner Mutter und ihm selbst sein? Es fiel ihm ein, daß in seiner Kindheit, als flüchtige Söldnerschaaren im Elsaß sein Heimathsdorf verwüstet, indeß er selbst Obdach im Kloster gefunden, Einige gesagt hatten, daß seine Mutter ein Lanzenknecht auf seinem Pferde fortgeschleppt! Konnte dies nicht auf den Befehl eines Anführers geschehen sein, oder doch ein solcher – vielleicht dieser Amadeus sie als seine Beute an sich gerissen haben? Aber was wußte der Propst davon? was wußte denn er von seiner Mutter, da er doch nach dem Schicksal seiner Eltern wie seinem ganzen Herkommen gleich bei seinem Eintritt in die Bauhütte gefragt hatte. Aber gerade seitdem hatte er ihm auch jene ungewöhnliche Theilnahme bewiesen, die Ulrich anfangs befremdet und fast bedrückt hatte, an die er aber im Laufe der Zeit sich selbst gewöhnt, so daß es ihm endlich zu Etwas geworden, das gar nicht anders sein könne, und das er nur etwaigen besondern Empfehlungen seiner Kunstleistungen an den Kunstfreund zuschrieb. Außer jenem ersten Gespräch in der Bauhütte hatte der Propst nie wieder mit ihm von seinen Eltern gesprochen. Wenn er etwas von seiner Mutter wußte, warum hatte er es ihm nicht gesagt? – Und wenn es nur Unglückliches[89] und Unwürdiges war? Wenn nun jener elsässische Benediktinermönch, Bruder Anselm, der es ihm auf die Seele gebunden, nie nach seiner Mutter zu forschen, weil man ihr üble Dinge nachgesagt, damit Recht hatte? Und wenn es dieser Amadeus war, der sie in üblen Ruf gebracht? – Ulrich fühlte ein Gefühl von Haß, das er bisher kaum gekannt, gegen den Mann in sich aufsteigen, der seine Mutter unglücklich gemacht; er fühlte, daß er strenge Rechenschaft von ihm fordern müsse, Rache und Sühne verlangen für seine Mutter. Aber er sollte ja nicht nach ihr forschen und fragen! Und mitten durch alle diese Gefühle und Gedanken klang auch als Echo die Warnung des Judenmädchens: »Sie wollten aussprengen, Eure Mutter sei eine Hexe gewesen!« und daß ihm Hieronymus später einmal gesagt, man habe während seiner Krankheit wirklich einmal ein derartiges Gerücht in die Hütte gebracht, aber durch seine Zeugnisse von Straßburg und die Bürgschaft des Propstes sei es vernichtet worden. Seitdem war auch nichts wieder davon verlautet.

Ulrich leerte den Becher fast ohne es zu wissen unter diesen von allen Seiten auf ihn eindringenden Gedanken. Des Weines gänzlich ungewohnt, fühlte er ihn bald glühend durch seine Adern rollen, indeß ein Anderer[90] vielleicht vieler dieser Pokale hätte leeren können, ohne in gleicher Weise erregt zu werden.

Umgekehrt hatte indeß der Propst versucht, sich durch ein niederschlagendes Pulver zu ernüchtern, oder wenigstens in eine ruhigere Umfassung zu bringen. Er kam jetzt zurück mit dem Brief an den Abt in der Hand. Ulrich schob denselben in seine Ledertasche und fragte:

»Ist's ein Uriasbrief?«

Der Abt sah den Steinmetzgesellen verwundert an, legte seine Hand auf seine Schulter und sagte: »Ich dächte, Ihr hättet von mir Beweise genug, daß Ihr mir vertrauen könntet und wissen, ich fördere Euer Wohl in allen Stücken!«

»Ja gewiß,« sagte Ulrich und drückte dankbar des Propstes Hand; »darum darf ich Euch auch ganz vertrauen und um eine neue Gunst Euch bitten: sag't mir, was Ihr von meiner Mutter wißt?«

Der Propst stand bestürzt. Auf eine solche directe Frage war er nicht vorbereitet; er war sich so weit klar, zu wissen, daß ihm vorhin wohl unvorsichtige Aeußerungen entschlüpft waren, aber er konnte sich nicht besinnen, was und wie viel er verrathen. Um jeden Preis mußte er das wieder zurücknehmen, aus Ulrich's[91] Seele zu verdrängen suchen. Nach einer Pause antwortete er:

»Hab't Ihr nicht selbst erzählt, daß ein feindlicher Kriegshaufe Eure Mutter fortgeschleppt und daß Ihr seitdem nichts von Ihr gehört? Meine Schwester hatte ein ähnliches Schicksal – sie ward auch eine Kriegsbeute im Elsaß, und erzählte von einer Genossin ihrer Leiden, die vielleicht Eure Mutter gewesen sein konnte, denn sie hieß Ulrike und stammte aus Eurem Dorfe.«

»Und was ist aus Ihr geworden?« rief Ulrich.

»Darauf kann ich Euch keine Antwort geben,« versetzte der Propst.

»Aber Eure Schwester kann es, weiß wenigstens ihr damaliges Schicksal – o sag't mir, wo sie weilt, damit ich mir von ihr die langersehnte Kunde hole.«

»Das ist unmöglich,« antwortete der Propst. »Meine Schwester ist Nonne im Kloster der heiligen Klara hier in Nürnberg, Du wirst sie niemals sehen und sprechen. Ich selbst darf sie nur einmal im Jahr besuchen. – Gebt es auf, nach Dingen zu forschen, die unerforschlich sind und deren Enthüllung Euch keinen Gewinn bringen würde. Laßt das Vergangene und die Todten ruhen, es thut nicht gut, in die Gräber zu blicken und die Särge wieder zu öffnen – es könnte ein Pesthauch von[92] ihnen in's Leben strömen und es vergiften. Leb't Eurer Kunst und geh't in Gottes Namen dahin, wo Ihr immer ihr dienen könnt. Forschet nichts Unnützes, am wenigsten bei dem Bruder Amadeus – er hat nur zuweilen klare Augenblicke, auf seine irren Reden könnt Ihr nimmer etwas geben. Meidet ihn lieber ganz. Wenn Ihr aber zurückkommt und mir beichtet, was er mit Euch gesprochen, so will ich Euch seine unglückliche Lebensgeschichte erzählen, durch die er in diesen wüsten Zustand gekommen – jetzt ist dazu keine Zeit. Und nun gehab't Euch wohl, meine Gäste harren auf mich. Die Ordensregel verlangt, daß Ihr nicht mit den Mönchen sprecht; wenn Ihr Euch dawider vergeht, wird man Euch im Kloster bestrafen und es in Eure Zeugnisse schreiben, daß sich die Strafe in der Hütte wiederhole. Aber nicht mit einer Drohung will ich scheiden: der Herr segne Euch und gebe Euch Frieden!«

Damit war Ulrich entlassen.

Als er in die kalte Winternacht hinaustrat, war es ihm, als ob sich das ganze Firmament mit ihm drehe. Sie flimmerten und glitzerten auch gar so hell diese Millionen von Sternen, und es war, als suchten sie einander an Schimmer und Glanz zu überbieten. Ulrich blickte hinauf und wünschte in den Sternen zu lesen.[93] Gleich den Meisten seiner Zeitgenossen war er erfüllt von dem Gedanken, daß sie eine Sprache redeten, welche die Wissenschaft erlernen könne und daraus das Geschick des Menschen deuten.

Indem er so fragende Blicke zu dem funkelnden Firmament emporrichtete, mahnten ihn die sechszackigen Sternlein an das doppeltgenommene Dreieck und das heilige Sechsort seiner Kunst – da ward plötzlich seine aufgeregte Seele groß und stille und er fühlte wieder begeistert, daß es für ihn keine höhere Aufgabe geben könne, als dieser Kunst zu leben, die auch berufen war, erhabene Werke zu schaffen auf der Erde, welche würdige Abbilder waren jener Wunderwerke des Himmels und gleich ihnen die Augen der Menschen tröstend und freudig zu ihm emporführten.[94]

Quelle:
Louise Otto: Nürnberg. Band 1–3, Band 2, Bremen 21875, S. 76-95.
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