Von Ernst das 322.

[198] Die Keiserin het zwen Ermel gestickt, schenckt sie Otto.


Es ist der ander tütsch Keiser gewesen, der hieß Otto, der het ein Frawen, die was gar ein grose Almůßnerin und ein heilige Frau. Der Keiser beraflet sie uff einmal, sie geb zů fil hinweg den armen Lüten, sie wölt ihn verderben; sie solt es massen und mindern. Es begab sich uff einmal, das ein groß Hochzeit was, ein Fest, da er wol wüßt, das sie die besten Kleider an würd thůn, die sie het. Da wolt sie der Keiser versůchen und legt Betlerkleider an und satzt sich für die Kirchen under andere Betler. Da nun die Keiserin kam, da kam er an sie und begert ein Gab von ir umb Gottes willen. Sie wolt im etwas geben. Da sprach er: ›Ich wil sunst nichtz haben dan den gestickten Ermel an euwerm Rock.‹ Der was von Berlin und edlen Gesteinen gestickt. Die Keiserin ließ den Ermel uß den Rock trennen und gab in dem Betler und thet den Mantel wider über den Rock an und gieng in die Kirchen. Der Keiser gieng heim und legt sich anders an und gieng auch zů der Kirchen.

Da man nun über Tisch saß und aß, da het die Keiferin ein andern Rock angelegt. Da sprach der Keiser zů ir: ›Frau, wa ist der ander Rock, den ir hüt an[198] haben gehebt? Warumb haben ir in abgezogen?‹ Die Keiserin erschrack übel. Der Künig wolt in sehen. Die Frau schickt darnach mit grosem Leid, und da man den Rock bracht, da het er zwen Ermel, und der ein Ermel was wie der, den sie het lassen ußtrennen. Der Keiser erschrack auch und zohe sein Ermel under dem Küssin herfür; da was einer wie der ander. Da sahe er wol, das sie ein heilige Frau was, und gab ir Gewalt zů thůn und zů geben, was sie wolt.

Wan Barmherzikeit ist Jesus Rock, der nit zerschnitten ward under dem Crütz, der ein Menschen holtzelig macht gegen Got und gegen den Menschen.

Quelle:
Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 1. Berlin 1924, S. 198-199.
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