22. Larissa an Junia Marcella.

[32] Lager vor Nisibis, im Sept. 301.


Morgen mit anbrechendem Tage wird Nisibis gestürmt. Alles ist bereit. Demetrius führt sein Heer an, Agathokles hat er auf sein dringendes Bitten einen der gefährlichsten Posten übergeben. Ich verstehe Agathokles Wunsch. Ruhm oder Tod! Die männliche Seele findet in Beiden Beruhigung. Aber was aus mir werden wird? daran geht die rauhere Kraft achtlos vorüber. Ich kann nicht zusammenhängend denken, viel weniger schreiben. Von dir habe ich nun auch seit fast zwei Monaten keine Nachricht. Meine Brust ist fest, fest zusammengedrückt. Bald steht mein Blut, bald jagt es stürmend durch die Adern. Ich habe viel in meinem Leben gelitten; solche Angst habe ich nie empfunden. Ich vermag nicht zu beten – nur hingeworfen auf meine Kniee kann ich jammern. Selbst das Labsal der Thränen versagt dem geängsteten Herzen! Bete für mich, Junia! Was will ich? Wozu? – Bis der Brief dich erreicht, ist mein Schicksal längst entschieden.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 32, Stuttgart 1828, S. 32.
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