37. Agathokles an Phocion.

Nikomedien, im Februar 302.


Es ist lange, mein Freund! daß du meinen letzten Brief1 erhieltest, worin ich dir meinen unersetzlichen Verlust gemeldet habe. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr bestimmt, was ich dir geschrieben habe. In jener Zeit war es dumpf und düster in meiner Seele. Indessen weißt du, was ich verlor und wie? Dies genügt, um dir eine Vorstellung meiner jetzigen Lage zu machen. Keine Betäubung währt ewig, und so hat sich mein Geist auch aus der emporgerissen, die einige Zeit nach jenem Ereignisse schwer und entnervend auf mir lag. In Trachene unter Gefahren und fremden Sorgen blieb mein Geist und Körper aufrecht; erst in Nikomedien, in der Stille des gewöhnlichen Lebens, im väterlichen Hause, erlagen beide, und ich ward im eigentlichen Sinne an beiden krank. Wie ich gewesen bin, und wozu? warum? weiß ich nicht. Aber ich kann wieder schlafen, ich kann Speise zu mir nehmen, und so kann und wird mein Daseyn wohl noch lange währen.

So zwecklos, so klein, so nichtsbedeutend, wie dies Daseyn mir damals erschien, und noch jetzt zuweilen in seiner ganzen Schaalheit unabsehlich vor mir liegt, hätte ich es vielleicht von mir geworfen, oder in der nächsten Schlacht verschleudert; aber das sollen, das dürfen wir nicht. – Ein Strahl überirdischen Lichtes senkt sich in meine Nacht, und das Leben bekömmt wieder Gehalt, obwohl nicht für meine Hoffnungen, und nicht für diese Welt.

Ein Pfad öffnet sich mir, um zur Wahrheit zu gelangen. Es ist des Forschers Pflicht, darauf fortzuschreiten, und wenigstens zu sehen, wohin er führt, selbst dann, wenn sicherer Verlust die Folge seiner Forschungen wäre. Könnte er auch anders? Würde sich nicht die schreckliche Wahrheit selbst Bahn zu ihm machen, wenn er auch seine Augen vor ihr verschließen wollte? O es hat schon so manche traurige Gewißheit den Weg gefunden, um dies Herz unfehlbar zu zerreißen! Jetzt erscheint sie in mildem Lichte, und ich folge dem leitenden Strahl, der mich in eine tröstende Helle zu führen verspricht.

Ein Christ, jener Apelles, den du als den Lehrer und Freund der vorausgegangenen Jugendgespielin aus ihren Briefen kennst, war das erste Wesen, das mir in schrecklichen Augenblicken theilnehmend erschien. Menschenfreundlich und weise behandelte er den Kranken, ihm danke ich zuerst die wiederkehrende Besinnung, ihm später die Kraft, da nicht zu erliegen, wo menschliche Stärke allein bei einem sehr reizbaren Gefühl, wie meines, vielleicht nicht zu stehen vermocht hatte. Seine Tröstungen waren von mehr als gewöhnlicher Art. Er nahm sie aus den innersten Tiefen des verarmten zerrissenen Herzens,[4] er eröffnete ihm den Himmel, ließ überirdische Strahlen in dasselbe fallen, füllte es mit Hoffnungen auf Jenseits, und richtete alle Kräfte und Neigungen, denen hier kein würdiger Gegenstand mehr entsprechen konnte, auf große Aussichten und Wirkungen in die Zukunft. Meine Seelenkräfte kamen nach und nach zurück, und an ihnen richtete sich der irdische Gefährte auf. Ich genas, und bin wieder fähig zu denken, zu wirken, wenn auch nicht für mich, doch für Andre.

Phocion! Ein weiser Christ ist ein erhabenes Wesen, ist vielleicht das Höchste, was die menschliche Natur erreichen kann, die höchste Vollendung, deren sie fähig ist. Sie ganz zu erstreben, ist nicht das Loos des Sterblichen, aber das erhabenste Ziel hat ihnen ihr mehr als menschlich weiser Lehrer gesteckt: Seyd vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! Kein geringeres Urbild, als die Gottheit, gab er ihnen nachzuahmen, und welcher Gott ist der Gott der Christen! Kein leidenschaftliches, sinnliches, allen menschlichen Schwächen unterworfenes Phantom, wie die Bewohner des alten Olymp, kein müßiger Zuseher, der in vollkommener Apathie die Welt gehen läßt, wie sie kann, wie die Götter Epikurs. Es ist ein allmächtiger, durch sich selbst von Ewigkeit bestehender, allwissender, allgegenwärtiger Geist, der Alles, was da ist, aus dem Nichts hervorgebracht, und nur darum geschaffte hat, um seine Macht und Liebe zu verklären. Die Geogonie der Christen ist einfach erhaben, und wenigstens eben so faßlich und wahrscheinlich, als die Systeme unsrer Philosophen, ja ich getraue mir zu behaupten, daß, in dem gehörigen Lichte betrachtet, und von dem[5] poetischen Schmucke entkleidet, der diese Erzählung aus der Kindheit des Menschengeschlechts umgeben muß, du keine den Naturgesetzen gemäßer und vernünftiger finden wirst. Unbeschreiblich schön ist die Geschichte des sittlichen Verfalls der Menschheit unter einem bald idyllisch-lieblichen, bald furchtbar-ernsten Bilde dargestellt. Ja, die Erkenntniß des Guten und Bösen war es, das erwachende Gewissen, das Gefühl des Rechts und Unrechts, das den schönen Traum ewiger Unschuld und Jugend zerstörte! Du siehst hier ein goldenes Zeitalter, und die Ursache seines Verschwindens tief und weise in den innersten Trieben des Menschen aufgesucht und dargestellt. Was in der Fabel von Amor und Psyche mehr bildliche Darstellung eines platonischen Traumes ist, ist hier die Geschichte des Menschen, der Menschheit, ihrer individuellen und allgemeinen Entwickelung zur Cultur.

Diesen Gott nun, aus dessen Hand die Sonne, die Sterne, alle uns bekannten Wesen hervorgingen, der ihr Schicksal nach ewigen Gesetzen lenkt, diesen Gott nennen die Christen ihren Vater. In diesem Kindes-Verhältniß denken sie sich zu ihm, und nichts ist, womit sie sich ihm gefällig machen können, kein Opfer, keine Büßung, nichts als ein reiner Sinn, und ein menschlichgutes Herz. Alle Sterbliche sind ihnen Brüder; sie zu lieben, wie sich selbst, Keinem zu thun, was man nicht sebst leiden möchte, ist ihr Hauptgesetz. Je mehr man diesem einfachen Gedanken nachforscht, je mehr muß man den Lehrer bewundern, der in wenig Worten alle Gesetze der Moral zusammenzufassen wußte, daß in allen Schulen und Sekten unsrer Philosophen nicht mehr, und nichts Besseres gelehrt wurde. Liebe Gott über[6] Alles und deinen Nächsten wie dich selbst! Wer kann mehr fordern als dies? Und was würde die Welt seyn, wenn alle Menschen diese einfache Vorschrift beobachteten? Aber die Christen gehen noch weiter, sie dringen nicht blos auf Liebe gegen diejenigen, die wir zu hassen keine Ursache haben, sie fordern Ueberwindung unsrer Selbst, und Bezähmung der heftigsten Leidenschaften, Zorn und Rachgier. Segnet, die euch verfolgen, betet für die, die euch hassen. In welcher Schule, Phocion! ward je reinere Tugend gelehrt?

Noch einmal, die christliche Moral ist mehr als menschlich! Aber indem sie eine Höhe fordert, die wir nicht zu erreichen fähig sind, spornt sie uns wenigstens an, das Aeußerste zu thun. Und was kann nicht der Mensch, wenn er alle seine Kräfte braucht? Das Höchste muß der Mensch sich vorsetzen, wenn er das Hohe erreichen, und nicht im Gemeinen versinken will; nach dem Unendlichen muß er streben: dann bewährt er sich als einen unsterblichen Geist, dem diese Hülle zu eng, dem diese Erde nur eine Herberge ist. Das haben unsre Philosophen schon gesagt; auch der Christ sagt es, nur unendlich einfacher.

Aber bei der Schwäche unseres halb sinnlich halb geistigen Wesens, das, zwei Welten angehörig, ewig zwischen beiden schwankt, was bliebe uns für Hoffnung übrig, den hohen Befehlen gehorchen, und das Ideal erreichen zu können, das jene Lehren von uns fordern? Müßten wir nicht daran verzweifeln, den strengen Gesetzen genug zu thun? Hier könnte das Gewissen uns nicht beruhigen, dort würde ein unendlich heiliges Wesen den schwachen Sohn der Sinnlichkeit strafend von sich weisen. Aber liebend und erbarmend tritt die geheimnißvolle Lehre von[7] der Versöhnung, von einem unbefleckten, heiligen, der ganzen Strenge jener Forderungen genugthuenden Opfer dazwischen, von einem Opfer, das, die Schuld des ganzen Menschengeschlechts auf sich nehmend, freiwillig sich der göttlichen Gerechtigkeit darbot, und für Alle litt, blutete, starb. In seinen Verdiensten findet der schwache Mensch vollendenden Ersatz für seine unvollkommenen Bestrebungen, sie eignet er sich zu, und durch ihre Vermittelung darf er dem Throne des allerreinsten Wesens mit minderer Schüchternheit nahen.

Du siehst aus diesen leichten Umrissen, die ich dir mitzutheilen im Stande bin, wie erhaben und den Bedürfnissen des Herzens angemessen diese Lehre ist. Noch kenne ich sie nicht vollständig; was ich aber kenne, überzeugt meinen Verstand, und befriedigt mein Gefühl. Und wenn diese Ueberzeugung einst vollendet seyn wird, wer kann mich tadeln, ja, wer kann mich der entgegengesetzten Handlungsweise fähig halten, wenn ich sie annehme, und ganz werde, was ich ohnehin schon zum Theile bin? – Uebereilen aber will ich nichts. Der Schritt ist wichtig, er fordert vollkommene Geistesfreiheit, und gewissenhafte Prüfung. Die erste fehlt mir noch ganz, mein Gemüth ist nicht ruhig. Die Erschütterungen der vergangenen Schrecken haben noch nicht aufgehört, in mir nachzubeben, noch drückt ein zu lastendes Gewicht meinen Geist.

O mein Freund! Was habe ich verloren? Larissa! Gespielin meiner Kindheit! Geliebte meiner Jugend! Holdes, sanftes, liebevolles Wesen! Wo bist du jetzt? Wo schwebt dein reiner Geist? Hast du noch Erinnerung vom Vergangenen? Weißt du, daß dein unglücklicher Freund hier verlassen trauert? Oder hört mit dem Leben oder mit der Persönlichkeit, wenn auch der Geist[8] nicht vernichtet wird, alle Erinnerung, alle Liebe auf? Trostloses System, das das menschliche Herz verabscheuen, über dem der Unglückliche verzweifeln müßte, wenn es seinen Anhängern gelingen könnte, es zu beweisen! Was wäre die Unsterblichkeit dann für ein Vorrecht für das denkende Wesen? Würde sie es nicht mit dem Thiere, der Pflanze theilen, deren aufgelöseter Körper auch nicht vernichtet, sondern nach dem Gange der Natur in ursprüngliche Elemente zersetzt werden, bis sie endlich nach längerer oder kürzerer Zeit wieder in organische Theile einer Pflanze oder eines Thieres übergehen? Es ist unmöglich! so kann der Kreislauf des göttlichen Funkens in uns nicht seyn.

Auch hierüber hat das Christenthum einen erhebenden schönen Glauben, der alle Spitzfindigkeiten und Sophismen beschämt! Doch hierüber sollst du ein andermal wehr hören. Genug, sie liebt, sie weiß um mich, sie liebt mich, wenn gleich hienieden ihre sanfte Stimme verklungen ist, und nie wieder in den kalten leeren Räumen mir die holde Gestalt begegnet, nie wieder ihr seelenvolles Auge mir freundlich strahlen, und kein Herz auf dieser Erde mir das ihrige ersetzen wird. O Phocion! Ich werde sie niemals, niemals hier wiedersehen! In diesem Gedanken liegt ein unendlicher Schmerz – aber bevor er wieder die innerste Tiefe meines Wesens aufregt, laß mich abbrechen. Leb' wohl!

Fußnoten

1 Er kommt nicht vor, so wie alle, die nichts zum Gang der Geschichte beitragen, und deren dennoch wegen des Zusammenhangs erwähnt werden muß.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 33, Stuttgart 1828, S. 4-9.
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