38. Calpurnia an Sulpicien.

[9] Nikomedien, im März 302.


Hier bin ich, in der großen, geräuschvollen Stadt, unter dem schönsten Himmel von Kleinasien, und, was[9] noch besser ist, in deiner Nähe, meine theure, geliebte Freundin! Ich wäre wahrlich gern, statt meines Briefes, selbst zu dir in deine Einsamkeit geeilt; aber mein Vater bedarf meiner zu seiner häuslichen Einrichtung, die hier an einem fremden Ort, unter ganz neuen Verhältnissen, nicht ohne große Beschwerlichkeit vollendet werden kann. Es ist mir daher unmöglich, dich fur's erste zu besuchen. Könntest denn du nicht auf ein paar Tage in die Stadt kommen? Du bist doch hoffentlich so wohl, daß die kleine Reise von einigen Meilen keinen üblen Einfluß auf deine Gesundheit haben wird. O wie freue ich mich, dich nach so langer Trennung wieder zu sehen, und mit dir über tausend Dinge der Vergangenheit und Zukunft zu sprechen, die trotz aller Ueberlegung mir nie ganz gleichgültig waren, und unter diesen Umgebungen hier erst wieder recht lebendig werden!

Am zweiten Tage nach unsrer Ankunft besuchte uns Agathokles. Dir darf ich es ja gestehen, daß mir sonderbar zu Muthe ward, als ich im Nebenzimmer seine Stimme hörte, die mir gedämpfter, als sonst vor kam. Er begrüßte meinen Vater mit herzlicher Ehrfurcht, und erkundigte sich nach mir und meinen Brüdern. Ich benutzte meine Verborgenheit, um mich in die gehörige Fassung zu setzen, und trat dann, als mein Vater mich rief, ganz gelassen hinein. Ach, es war wieder nichts mit dieser Künstelei! Dieses düstere trübe Auge, aus dem die tiefste Schwermuth sprach, die wehmüthige Herzlichkeit, mit der er auf mich zuging, und meine Hand faßte, die weiche Stimme, mit der er mich in seinem Vaterlande willkommen hieß, und dann der Gedanke, um wessentwillen diese traurige Veränderung mit ihm vorgegangen[10] war, das Alles bewegte mich so seltsam, daß ich wohl fühlte, wie meine Fassung mich verließ. Er hatte so viel gelitten; wie hätte ich ihn durch abgemessene Kälte kränken können! Und doch war mein Stolz durch eben diese Schwermuth, die ich zu zerstreuen wünschte, beleidigt.

Die Feinheit seines Betragens brachte indeß bald wieder einige Ruhe in unsere Haltung. Mein Vater bemächtigte sich seiner mit einem politischen Gespräche, in das Agathokles sogleich mit voller Seele einging; und jetzt im Feuer der Unterhaltung, als er auf Augenblicke seiner Lage vergaß, schien er wieder derselbe zu seyn, der er in Rom war. Dies Bild trat vor meine Seele; ich rief, während die Männer angelegentlich sprachen, die frohen Stunden zurück, die ich da mals genossen hatte, und auf einmal war es mir, als müßten zwei Agathokles seyn; als könnte jener anziehende Schwärmer, dessen Ernst vor meinem Lächeln so oft gewichen war, dessen Blick hundertmal mit Entzücken an mir hing – und dies finstere Bild des Kummers, das mir so fremd geworden war, der eine Andre so heiß geliebt hatte, daß ihr Tod ihn an den Rand des Grabes brachte, unmöglich Eine und dieselbe Person seyn. Ich schauderte, die Vorstellung war mir höchst peinlich, ich strebte aus allen Kräften, die wunderbare Täuschung zu zernichten. Es gelang nicht. Auf einmal fühlte ich, daß meine Thränen im Begriff waren, hervorzubrechen. Ich stand schnell auf und verließ das Zimmer. Sie strömten heftig, warum? wußte ich selbst nicht, aber ich fand eine Erleichterung darin, sie fließen zu lassen. Es kam mir vor, jener Agathokles sey todt, und der, den ich jetzt gesehen hatte, nur ein Bild, ein Schatten von ihm. Mir ward so weich um's Herz,[11] wie wenn man nach dem Verlust einer geliebten Person an einem Orte, wo man sie sonst oft gesehen hatte, nun ihre kalte Bildsäule fände. Diese Aehnlichkeit im Aeussern, und diese Verschiedenheit von Innen, jener warme Antheil und diese Kälte! Es ergriff mich schmerzlich. Ich fühlte, daß ich mich in dieser Stimmung nicht vor ihm sehen lassen konnte. Als ich nach einer Weile wieder hinein ging, war er bereits fort, und hatte versprochen, bald wieder zu kommen. So hatte ihn also mein Weggehen nicht gekränkt, wie ich im ersten Augenblick fürchtete, als ich meinen Vater allein fand! So hatte er gar nichts an mir bemerkt, nichts zu deuten gefunden? Natürlich, ich bin ihm nichts mehr, als eine alte Bekannte, und einer solchen nimmt man es ja nicht übel, wenn sie sich entfernt, und den guten Freund in einer Gesellschaft zurückläßt, die ihm wenigstens eben so lieb ist, als die ihrige!

Seit dem Augenblick ist ein wunderbarer, aber wahrlich nicht angenehmer Kampf in meinem Innern. Mitleid mit Agathokles Unglück, Wunsch, seinen Kummer zu erleichtern, und ein bitteres Gefühl des gewaltigen Abstandes zwischen jener Zeit in Rom, und diesem kalten Wiedersehen wechselt unaufhörlich in mir. Was wird hieraus entstehen? Welche Haltung wird mir das gegen ihn geben? Du, meine theure Freundin! könntest hierin mir den wesentlichsten Dienst leisten. Du siehst Agathokles so oft, er vertraut dir, das weiß ich, du wirst ungefähr wissen, wie er von mir denkt. Schreibe mir doch, was er von mir spricht, und besonders in welchem Ton. Daraus läßt sich viel schließen, und ein sein fühlendes Weib ist im Stande, aus der Art, wie ein Mann[12] von einer Andern spricht, zu errathen, was er für diese empfindet. Hierauf verlasse ich mich vollkommen, und erwarte deine Nachricht mit Ungeduld. Leb' wohl!

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 33, Stuttgart 1828, S. 9-13.
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