|
[71] Nikomedien, im Sept. 303.
Was wird sich noch mit mir zutragen? Wohin wird das launenhafte Schicksal mich noch führen? Sulpicia ist todt! Ihr trauriges freudenloses Daseyn ist geendigt. Was ich längst als gewiß voraus sah, war nun geschehen, es überraschte mich nicht – aber es schmerzte mich tief. Du weißt, wie ich sie geliebt habe, und wie sehr ich strebte, ihr Herz vor Eindrücken zu bewahren, deren zerstörende Folgen ich dunkel im Voraus ahnete. Tiridates selbst brachte die Trauerbotschaft, er ist hier. Dieser Verlust, seine Anwesenheit, sein Schmerz, die Pflicht der Freundschaft, ihn zu trösten und aufzuheitern – Alles vereinigt sich, um mich mir selbst zu entreißen, und mein Leben aus jenem behaglichen Gleichmuth zu bringen, in dem mir durch neunzehn Jahre so wohl war, den ich mir aus allen Kräften zu erhalten strebte.
Agathokles war vermählt. Alle Empfindungen, die um seinetwillen mein Gemüth in irgend eine angenehme[71] oder widrige Spannung brachten, mußten auf Befehl der Vernunft schweigen, jede lebhafte Regung zur stillen Neigung, jede schmerzliche Erinnerung zum stachellosen Andenken an einen entschwundenen Traum werden. Meine Philosophie, oder mein Leichtsinn – nenne es wie du willst; was liegt am Namen, wenn nur die Wirkung bleibt? – war in diesen Bestrebungen schon ziemlich weit gekommen. Der Gedanke, daß ich ihn ohne Rückkehr durch seine eigene Wahl verloren, hob die Unruhe der Ungewißheit auf, kein Räthsel blieb zu lösen, kein Wort, keine Begegnung zu deuten. So hörte sein Bild auf, die Beschäftigung meiner einsamen Stunden zu seyn. Ich verglich mich mit Theophanien, ganz unparteiisch, Bruder, ich versichere dich, und ich fand bei aller Gerechtigkeit, die ihr mein Herz willig widerfahren ließ, daß der Mann, der mit ihr zufrieden seyn konnte, es unmöglich mit mir seyn, unmöglich auf die Dauer mich hätte glücklich machen können.
So hatte ich nach und nach mein Herz, das die Vorfälle der letzten Zeit gewaltsam aufgeregt hatten, zu beschwichtigen angefangen. Es ward wieder stille in mir, und ich saß eben vor mehreren Tagen am Rahmen, um einen Schleier für Theophanien zu sticken, und ihr so alle die zarten Aufmerksamkeiten und Gefälligkeiten zu vergelten, womit sie mich überhäuft, mir die schönsten Blumen, die schönsten Früchte ihrer Villa schickt, als plötzlich die Vorhänge meines Gemachs sich rauschend theilten, und ein Mann in schimmernder orientalischer Kleidung, von einer großen Anzahl eben so glänzender Sclaven gefolgt, die im Vorsaale standen, in mein Zimmer trat. Ich sprang auf, ich erkannte den Fremden[72] nicht sogleich. Da eilte er auf mich zu: Sie ist todt! – rief eine schmerzliche bekannte Stimme, und ich sah mich in Tiridates Armen. Sie ist todt! wiederholte er noch einmal, riß sich schnell los, warf sich auf das Ruhebett, verbarg das Gesicht in die Kissen, und schluchzte laut auf. Ich begriff nun, was diese plötzliche Erscheinung bedeutete. Sulpicia hatte geendet, und ihr unglücklicher Gemahl hatte nicht vermocht, an dem Orte zu bleiben, wo ihn Alles an seinen Verlust erinnerte. Mein Herz war von einer Menge schmerzlicher Empfindungen auf einmal ergriffen. Sulpiciens Tod, Tiridates Erschütterung, die Erinnerung an so manche vergangene Tage, wo ich den, der nun tief gebeugt, schluchzend, unglücklich vor mir lag, in allem Schimmer seines Standes, in königlichem Wirken, in frohem Lebensmuthe gesehen hatte, preßte meine Brust gewaltsam, und nur ein Thränenstrom machte meiner Beklemmung Luft. Als er mich weinen hörte, richtete er sich auf, und – o mein lieber Bruder, wie unwiderstehlich war er in seinem Schmerze! Das sprühende Feuer seiner Augen brach schön gemäßigt durch einen Schleier von Thränen, die üppige Jugendfülle seiner Züge war verschwunden, seine Farbe war blasser geworden, und der Ausdruck des tiefsten Kummers erhöhte auf eine wunderbare Art die Bedeutenheit dieser edlen Formen. Denke dir noch dazu die prächtige orientalische Kleidung, die Gehänge von den kostbarsten Steinen über die Brust, den breiten majestätischen Kopfputz von blendendweißem Stoffe mit schimmernden Edelsteinen aufgebunden, diese Tracht, die so sehr gemacht scheint, eine edle Gestalt noch edler zu zeigen – ich war so überrascht, so seltsam bewegt, daß ich[73] eine Weile stumm und weinend vor ihm stand. Er nahm meine Hand. Ach, wer hätte das gedacht, fing er endlich aus tiefer Brust an, als ich vor einem Jahre mit ihr aus Italien entfloh! So hatte endlich sein Schmerz Worte gefunden. Ich war froh darüber, ich setzte mich an seine Seite, er erzählte mir von unserer Verlornen, den Gang ihrer Krankheit, die letzten Stunden, die letzten Worte meiner theuren Sulpicia.
Meine Thränen begleiteten oft seine Erzählung, aber die seinigen hatten aufgehört zu fließen, und ich sah mit Freuden, daß diese ungestörte Ergießung sein Herz erleichtert hatte.
Seit dem bringt er fast alle Stunden, die ihm seine Verhältnisse, sein Aufenthalt am Hofe übrig lassen, wo ihn Diocletian mit ausgezeichneter Pracht und Freundschaft empfangen hat, bei uns, oder eigentlich bei mir zu. Wir waren gestern, von meinem Vater begleitet, in Synthium.
Der erste Anblick seines Freundes, den er seit seinem Verlust nicht gesehen hatte, erweckte seinen Schmerz wieder, und das Glück der beiden Gatten, Theophaniens Gestalt, die ihren Gemahl zu Hoffnungen berechtigt, welche dem kindlosen letzten Fürsten seines Stammes so unendlich wichtig wären, erinnerten ihn schmerzlich an sein zerstörtes Glück. Doch richtete sich sein Geist auch diesmal mächtig auf. Die Freude, Agathokles so glücklich zu wissen, und anziehende Gespräche zerstreuten ihn angenehm. Ich finde, daß seitdem seine Heiterkeit mit jedem Tage zunimmt, und das Bild der trüben Vergangenheit je mehr und mehr in Schatten zurücktritt.
Das ist's auch eigentlich, was ein vernünftiger Mann[74] thun soll. Nur Schwärmer oder unselbstständige Gemüther halten einen schmerzlichen Eindruck mit stolzem Eigensinn fest, und finden eine Art Wollust oder Ruhm darin, unglücklich zu seyn, oder es wenigstens zu scheinen. Tiridates hat seiner Frau sowohl während ihrer Krankheit, als nach ihrem Tode die befriedigendsten Zeichen seiner Treue und Liebe gegeben. Er hatte sie in den letzten Tagen keinen Augenblick mehr verlassen. In seinem Arm war sie gestorben, sein Mund empfing ihren letzten Hauch, und es kostete seinen Freunden, so wie seine Begleiter erzählen, Mühe, ihn von der Leiche zu entfernen, und wieder an seine vorige Lebensweise, an den Anblick der Menschen zu gewöhnen, die er in Schmerz versenkt unwillig floh. Das ist Alles, was die Vernunft, die Liebe, was selbst Sulpicia, wenn bei den Schatten noch Erinnerung ist, von ihm fordern kann. Das Andenken an ihre Liebe, an die schönen Stunden, die sie ihm gab, wird nie aus seiner Seele schwinden. Aber sein Reich, seine Verhältnisse zu den Höfen von Nikomedien und Persien fordern seine Aufmerksamkeit mit gebietender Strenge, sein Volk sieht einer zweiten Verbindung, die ihm einen Thronerben, und dem Reiche seine künftige Ruhe zusichert, mit Verlangen entgegen. Er kann nicht handeln, wie ein Einzelner, und so darf er auch nicht trauern, wie ein Einzelner. Der Maaßstab, mit dem man gewöhnliche Menschen mißt, darf nicht für Herrscher gebraucht werden, die nicht für sich allein stehen, an deren Entschließungen das Wohl von Myriaden hängt. So müssen seine Freunde froh seyn, wenn sein erster wilder Schmerz sich in sanfte Wehmuth, und diese in stillen Ernst auflöset.[75]
Hier in Nikomedien hat mit seiner Ankunft wieder ein regeres Leben angefangen. Der Augustus gibt seinem königlichen Gaste zu Ehren glänzende Feste, Schauspiele u.s.w. Viele, schöne, viele bedeutende Frauen und Mädchen erscheinen dabei, einige benachbarte Fürsten sind mit ihren Familien hier, man kann wohl denken, in welcher Absicht. Ein Thron, eine Gestalt und ein Herz wie Tiridates, der auch als Privatmann so achtungs- und liebenswerth seyn würde, verdienen wohl die Anstrengungen, die freilich etwas zu sichtlich dafür gemacht werden. Meine Zeit ist jetzt wieder sehr beschränkt. Tiridates zeigt uns deutlich, daß meines Vaters und meine Gegenwart ihm die Freuden jener Feste erhöhen, und ihn für manchen Zwang, dem er sich unterwerfen muß, entschädigen. Ich lebe daher ziemlich zerstreut, und habe vier volle Tage an diesem Briefe zugebracht, dem du es wohl abmerken wirst, daß er nicht in derselben Stimmung geschrieben worden ist. Leb' wohl.
Buchempfehlung
Die Ausgabe enthält drei frühe Märchen, die die Autorin 1808 zur Veröffentlichung in Achim von Arnims »Trösteinsamkeit« schrieb. Aus der Publikation wurde gut 100 Jahre lang nichts, aber aus Elisabeth Brentano wurde 1811 Bettina von Arnim. »Der Königssohn« »Hans ohne Bart« »Die blinde Königstochter« Das vierte Märchen schrieb von Arnim 1844-1848, Jahre nach dem Tode ihres Mannes 1831, gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter Gisela. »Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns«
116 Seiten, 7.80 Euro