95. Valeria an Theophanien.

[26] Byzanz, im October 304.


Man hat mich von deiner Seite gerissen, von dem einzigen Herzen, das auf dieser Welt noch für mich empfindet, um mich in die Arme meines Vaters zu führen, den ich nie gesehen, und seit ich denken kann, nur aus den Wirkungen seiner Macht, und den Eingriffen in meine Wünsche kennen gelernt habe.

Ich schreibe dir in einem Augenblick der höchsten Bewegung. Der Kaiser ist von seinem langen Aufenthalte in Salona, wo sich seine Kräfte nur wenig erholt haben, endlich gestern nach einer langsamen Reise hier angekommen. Mich hat man, um ihn hier zu erwarten, von dem Orte weggeschleppt, wo sich Alles befindet, was über und unter der Erde noch Werth für mich hat.

Morgen soll ich ihm vorgestellt werden. Ein ängstliches Gemisch streitender Empfindungen wühlt in meiner Brust. Ach, darf ich es dir gestehen, daß Abneigung und Furcht am hellsten aus dem verworrenen Haufen hervortreten?

Warum hat man mich nicht in der glücklichen Dunkelheit gelassen, in der ich lebte! Heimathliche Insel! Ihr frischgrünenden Fluren, ihr hallenden Bäche, ihr duftigen Nebelgestalten! Warum hat man mich von Euch getrennt? Ach dort, wo es so trüb war, war ich so glücklich! Was soll mir die Pracht der Kaisertochter, was der blendende Glanz des Mittags? Dorthin will ich, dorthin, wo der düstre Himmel über unermeßlichen Waldungen schwebt, wo eine lichte Gestalt einst diese trübe Natur zum Paradies um mich her verklärte, in das einfache Haus, das seine Gegenwart zum Tempel[27] weihte, dorthin, wo ich geliebt ward, und wieder unendlich liebte, wo meine Seele an seinen Lippen hing, mein Geist, dem Körper entflohen, nur in seinen Gedanken und Gefühlen sich empfand! Oder laßt mich an dem waldigen Hügel bleiben, wo er unter grünem Nasen schläft! Da ist jetzt mein Vaterland, und sonst auf der weiten Erde keine Heimath mehr für mich.

Ach, Theophania, ich war einst sehr glücklich! Kein Mensch kann sich einen Begriff von jener stillen Seligkeit machen. Alles in mir war Harmonie, Friede, Genuß. Du verstehst mich, im Arm deines Agathokles fühlst du mir nach, was ich nicht zu erklären vermag – fühlst es mir doch nicht nach – denn Agathokles war nicht dein Lehrer. Alles, was du bist, ist nicht sein Werk – nicht sein Mund enthüllte dir die Geheimnisse der Seligkeit, nicht sein Geist schloß die Welt und den Himmel vor dir auf! Und nun! – –

Leb' wohl, Theophania! Ich habe nach diesem Nun nichts mehr hinzuzusetzen, denn ich habe nichts mehr zu denken, zu hoffen. Mein Leben, mein ganzes Wesen hat mit ihm aufgehört.


Zwei Tage später.


Die gefürchtete Stunde ist vorüber, und ich athme freier. O Natur und Religion! Welche Macht der Erde gleicht eurer siegenden Gewalt! Vater! Verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun! Einst, als ich an Florianus Seite sitzend aus seinem Munde die Erzählung des Versöhnungstodes vernahm, als sein strahlendes Auge Flammen in meiner Seele entzündete, seine stolze Haltung mich unwillkührlich emporzog,[28] er nun mit einer Stimme der edelsten Begeisterung diese Worte des sterbenden Gottmenschen aussprach, und sein ganzes Wesen so deutlich sagte: Auch ich kann so verzeihen – ach, da sprang ich bebend vor Liebe und Andacht auf, und wollte an seine Brust sinken; aber ein scheues Gefühl hielt mich zurück, ich ergriff seine Hand und drückte sie an meine Lippen, an mein Herz. Er verstand mich – o welch' ein Augenblick war dies!

Vorgestern Abends rang ich im heißen Gebet um Kraft zu der bevorstehenden Prüfung, um Geduld und ein kindliches Herz. Müde und weinend schlief ich endlich sehr spät gegen den Morgen ein. Ein lieblicher Traum kam, meine nassen Augen zu trocknen. Ich sah ihn – so hell, so lebendig, wie ich ihn noch nie in meinen Träumen, in denen sein Bild so oft erscheint, gesehen hatte. Ein seltsames Gefühl bewegte mich. Das Bewußtseyn, daß er todt war, und die Ueberzeugung, ihn dennoch vor mir zu sehen, ein geheimes Grauen, und eine unaussprechlich wehmüthige Freude ergriffen wechselweise mein Herz. Ich eilte in seine Arme, und bebte vor dem Gedanken, nur ein Schattenbild zu umarmen. Aber es war kein Schatten, er war es wirklich. Er schloß mich an seine Brust, ich fühlte das Klopfen seines Herzens. Da erhob er die Linke feierlich, und sagte mit seiner schönen Stimme, deren Klang so tief in meiner Seele liegt: Vater! Verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun. Da blickte ich ihn an und sah sein Gesicht in hoher Verklärung strahlen, allmählig wurde es zu lauter Schimmer – ich wollte, von Grauen und Seligkeit überwältigt, vor ihm niedersinken, und erwachte. Noch lange bebte in meiner wunderbar[29] bewegten Brust der Eindruck des Traumgesichtes nach, und meine Thränen floßen heftig und schmerzlich um den entrissenen Freund, bis mir plötzlich die Bestimmung des kommenden Tages einfiel, und der furchtbare Mann, der mein Vater hieß, und Alles, was ich durch ihn gelitten hatte, was ich noch leiden würde. Da erklang Florianus Stimme wieder in meinem Innersten: Vater! Verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun. Auf ein Mal fiel es mir wie ein Schleier von den Augen, auf ein Mal war ich wie verwandelt. Ich konnte verzeihen, ich konnte entschuldigen, ich fühlte, daß ich sogar würde lieben können, wo ich bis jetzt nur gezittert hatte. Der Kaiser kannte ja mein stilles Verhältniß nicht, als er mich aus Britannien wegführen ließ, er hat es gut mit mir gemeint, mich nach seinem Begriffe glücklich machen wollen. Ach, es gibt so wenig Menschen, die glücklich zu machen verstehen, so wenig, die es über sich gewinnen können, jene, die sie lieben, nach ihrer Weise froh werden zu lassen! Der Mensch nimmt so gern seine Wünsche zum Maaßstab für die übrige Welt – und wie klein, wie unbedeutend müßte dem Augustus, selbst, wenn er sie gekannt hätte, die Liebesangelegenheit eines jungen Mädchens vorkommen, ihm, der das Wohl und Weh der ganzen Welt in seinem Herzen trägt! So dachte ich, oder vielmehr, so entwickelte der Engel, der mir auf Erden in einer theuern Gestalt erschienen war, der jetzt im Traum vor mir gestanden, und die bedeutenden Worte gesprochen hatte, die Gedankenreihe in meiner Seele. Ja, Theophania! Es war mein Schutzgeist! Um mich den Weg des Heils zu leiten, nahm er einst die schöne Bildung[30] meines Freundes an, und ist jetzt wieder in den Himmel zurückgekehrt, wo ich ihn finden werde, wenn ich seiner würdig bleibe. O Theophania! Laß mir den süßen Glauben – er hält mich aufrecht!

Mir ward leichter um's Herz, nachdem jene Ideen und Empfindungen in mir klar geworden waren. Mit ergebener Fassung, ja sogar mit einer Art von angenehmer Erwartung, den zu sehen, an den mich so heilige Bande knüpften, ließ ich mich mit all' dem Geschmeide belasten, das mein Vater mir gesandt hatte, und folgte meinem Führer in den Palast.

In der Einsamkeit und Einfachheit meiner Kindheit, fern von Allem, was mir richtige Begriffe von dem Leben und Wesen der Großen dieser Erde hätte geben können, standen ihre Bilder, wenn ich sie mir dachte, in beinahe übermenschlicher Hoheit und Glanz vor mir. Als späterhin mein Schicksal von dem Ersten unter ihnen so unsanft berührt, und in den wilden Wirbel der Welt gezogen worden war, da gesellte sich ein Schein von Furchtbarkeit zu jenen riesenhaften Gestalten, und die Herren der Erde erschienen mir mit den Zügen unerbittlicher, strenger Richter. O meine Liebe! Wie so ganz verschieden fand ich die Wahrheit von diesen Bildern meiner Phantasie! In einem Lehnstuhl saß oder lag vielmehr ein kranker abgezehrter Greis, dessen Blick und Haltung eher Alles, als den Gebieter von Myriaden verkündigte. Freilich umhüllte ein Purpurgewand diese zitternden Glieder, aber es schien mit seiner Pracht und jugendlichen Farbe nur dieses Alters, dieser Hinfälligkeit zu spotten. Ist das der Herr der Erde? dachte ich. O Vorsicht! Was sind die Könige vor deinem Thron! Mich bewegte[31] eine seltsame Empfindung, sie war nicht mehr Furcht, sie war dem Mitleid verwandt, und so trat ich ein paar Schritte näher. Da streckte er mir die Hand entgegen, und richtete sich, von Zweien seines Gefolges unterstützt, mühsam auf. Komm, mein Kind! sagte er: komm näher, daß ich dich recht ansehe. Der leise gütige Ton der väterlichen Stimme, die ich jetzt zum ersten Mal hörte, überwältigte jeden Rest von Scheu, ich eilte hinzu, sank vor ihm nieder, und drückte die zitternde Vaterhand fest an meine Lippen, an mein Herz. Ich war zu bewegt, um zu sprechen, und auch mein Vater schien erschüttert. Bald aber faßte er sich wieder, hieß mich aufstehen, und betrachtete mich genau, indem er meine Züge mit einem Bilde verglich, das ihm ein sehr schöner junger Mann, dessen Gesicht ganz allein unter allen, die ich hier sah, einen freundlichen Eindruck auf mich machte, von einem Tische herüber gelangt hatte. Ach, es war wahrscheinlich das Bild meiner nie gekannten Mutter! Der Gedanke ergriff mich sehr, und ich fing an zu weinen. Da winkte mir einer der glänzenden Herren, und ich verstand, daß ich mich bezwingen sollte, weil allzugroße Rührung dem Kranken schädlich seyn konnte. Ich mußte also im ersten Augenblick der Ergießung mein volles Herz verschließen, und meine Thränen verschlingen. Ach, da offenbarte sich der Fluch, der auf Macht und Hoheit liegt, an mir. Ich begann, in meine alten Gedanken zurückzusinken, als mein Vater das Bild bei Seite legte, und mich sehr liebreich über allerlei Umstände meines früheren Lebens befragte, auch mit einer Schonung, für die ich ihm ewig danken werde, Alles vermied, was mich an mein größtes Unglück erinnern konnte. Endlich stellte er mir mit einem[32] bedeutenden aber nicht strengen Blick, den schönen jungen Mann, als meinen Landsmann – Constantin vor. Ach, ich hatte es dunkel geahnet, als ich ihn sah, ich hatte wenigstens gewünscht, ihn so zu finden. Nun ward mir viel leichter. Ich hatte nebst meinem theuern Vater noch ein Herz in dieser freudenlosen Welt gefunden, das Theil an mir nahm, mich verstand, und über das, was mir allein wichtig ist, gleich mit mir dachte.

So endigte der erste Besuch viel besser, als ich gehofft hatte; ich soll nun, so gebeut es mein Vater, ihn täglich besuchen, so lange er in Byzanz bleibt, dann mit ihm nach Nikomedien gehen, und ihn nie wieder verlassen.

Leb' wohl, Theophania! Ich muß mich bereiten, am Hofe zu erscheinen. Einer Kaisertochter wird es nicht so gut, wie der Tochter des gemeinsten Handwerkers, daß sie ihrem Vater unvorbereitet, und mit ihrem alltäglichen Anzuge, an die Brust fliegen könnte.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828, S. 26-33.
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