101. Marcius Alpinus an Lucius Scribonianus.

[46] Nikomedien, im April 305.


Die Würfel liegen, die Hand des Zufalls greift nach der Scheere, um das letzte Haar abzuschneiden, welche das bloße Schwert über den wichtigsten von Galerius Feinden aufgehoben hält. Doch ohne Bilder, mein Freund! denn ich liebe sie nicht, weil sie mich unbequem dünken, meine Gedanken, die nichts als klare Wahrnehmungen enthalten, auszudrücken. Im vergangnen Monat hat sich der kaum hergestellte Kaiser dem Volke zum ersten Mal wieder gezeigt, und wer ihn lange nicht sah, hatte Mühe, ihn wieder zu erkennen. Seine Gesundheit ist ganz zerrüttet, seine Kraft gebrochen, dieser Schatten des[46] ehemaligen Diocletians taugt nicht mehr zu dem Geschäfte, das einen starken Arm und ungeschwächten Muth fordert. Er fühlt es, oder ist klug genug zu thun, als fühle er's, und – legt die Regierung nieder. Die Welt wird das lächerlich ernste Schauspiel als eine Wirkung hoher Philosophie, einer ruhmwürdigen Gleichgültigkeit gegen die höchsten Güter der Erde anstaunen, die Klugen werden insgeheim lachen oder fürchten, je nachdem sie zu einer Partei gehören, und Galerius allein gewinnt, denn seine Plane sind ausgeführt, und das still bereitete Werk mancher Jahre ist nun reif. Maximian wird mit Diocletian zugleich den Purpur ablegen, Constantius ist nicht zu fürchten, so bleibt Galerius die Herrschaft über die Welt so ziemlich sicher und allein, wenn Einer, nur Einer noch aus dem Wege geräumt ist, den seine Geburt, und mehr noch als diese, ein unternehmender Ehrgeiz zu einem fürchterlichen Nebenbuhler machen, obwohl er bis jetzt seine Plane und Ansprüche unter dem Schein vollkommener Ruhe und Gleichgültigkeit verbirgt. Er ist sein, doch gibt es Menschen, die ihn durchschauen, denn was hätte nicht schon Gold und Bestechung geoffenbart und bewirkt! Er muß fallen, wenn Galerius sicher seyn soll – er wird fallen, denn er ist in der Hand seines Feindes, und dieser Feind ist in wenig Tagen unumschränkter Herr der Erde.

Das ist er klug genug, selber zu berechnen, und darum hat er seine Anstalten sehr zweckmäßig gemacht. Jetzt, mein Freund! ist es für dich Zeit zu wirken, und deinen bescheidnen Theil an dem großen Plane zu nehmen. Wir wissen, daß in Chalcedon Anstalten zur heimlichem Abreise, oder vielmehr zur Flucht einer bedeutenden Person gemacht[47] werden; es ist ein Schiff bereit, und in dem Hause eines gewissen Clemens, bei welchem sich seit jenem Edicte die Christen zuweilen versammeln, sind Vorkehrungen zu ihrem Empfange getroffen. Ueberdies wissen wir, daß in Constantius Ställen beständig gezäumte Pferde stehen. Wenn es Zeit seyn wird, soll ein fliegender Bote dich benachrichtigen. Du als Präfect von Chalcedon umringst mit deiner Wache das Haus, in welchem gesetzwidrige Versammlungen gehalten werden, und was sich darin befindet, ist dein Gefangener. Du erstaunst über die Bedeutenheit der Person, von deren Anwesenheit du keine Ahnung gehabt hast, und wenn er entlassen zu werden fordert, so entschuldigst du dich mit der Strenge deines Befehls, und der Sonderbarkeit des Falles. Du versprichst in aller Demuth, sogleich nach Nikomedien zu schreiben, thust es auch, und für das Uebrige laß uns hier sorgen. Er soll Britannien, ja die Küste von Europa nie wieder sehen. Nun leb' wohl, mache deine Sachen geschickt, und rechne auf die Dankbarkeit des künftigen Augustus.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828, S. 46-48.
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