IX.

[128] Der Sommer hatte nicht gehalten, was das Frühjahr versprochen. Die Herbstsaaten waren zwar gut durch den Winter gekommen und hatten sich während eines milden Frühlings kräftig bestockt. Auch die Sommerung war prächtig aufgegangen, daß es im Mai eine Lust war, über die Haferfelder und die Kartoffelbeete hinwegzublicken. Regen und Sonnenschein folgten sich in gedeihlicher Abwechslung. Das Korn trieb zeitig seine Schoßhalme. Anfang Juni sah es aus, als ob es eine ausgezeichnete Ernte geben müsse.

In der Seele manches Landwirtes, der über die schlechten Erträge der letzten Jahre schier hatte verzweifeln wollen, stieg die tiefgesunkene Hoffnung aufs neue. Kein Stand ist ja so auf das Hoffen angewiesen wie dieser. Von dem Auswerfen des Samens bis zum Bergen der Frucht schwebt der Landmann zwischen Furcht und Hoffnung; jeder Tag ist von Bedeutung für das Gedeihen, und jede Stunde kann alles zerstören.

Auf das vielversprechende Frühjahr folgte im Sommer Kälte und anhaltende Nässe. Die schnell aufgeschossenen Halme stockten plötzlich im Wachstum. An vielen Stellen lagerte sich das Getreide. Die Kornfelder sahen aus, als sei eine Riesenwalze über sie da hingefahren. Licht und Luft fehlte der Ähre, eine mangelhafte Bestäubung fand statt, von unten wuchsen Disteln und allerhand Ankraut durch das Getreide hindurch. Nur hier und da richtete der Wind die Geknickten wieder auf. Die Ähren standen nicht in freier Luft aufrecht, dem Lichte zugekehrt, wie es nötig ist für die Entwicklung jeglicher Kreatur und jeglicher Pflanze; sie senkten sich dem dunklen, feuchten Erdreiche[129] zu, das ihren Wurzeln wohl Nahrung zum Sprießen, ihren Häuptern aber nicht Wärme, Licht und Bewegung zu gewähren vermochte. So kränkelten die Körner, das Wachstum war ohne Saft und Kern. Da gab es viele leere Hülsen und leichte Früchte, und schädlicher Rost fraß die welken Körner an.

Auf den Wiesen hatte prächtiges Gras gestanden. Selbst auf den feuchten und sumpfigen Flecken wuchsen heuer, begünstigt durch das trockene Frühjahr, bessere Kräuter als sonst; die sauren Gräser hatten nicht die Oberhand gewinnen können. Infolge der häufigen Regenschauer war überall ein dichtes Bodengras gewachsen. Zu Beginn der Heuernte regnete es anhaltend. Nach alt bewährter Bauernregel ließ man sich jedoch durch den Regen nicht vom Hauen abhalten. Einmal mußte es ja doch mit Gießen aufhören; der liebe Gott konnte doch unmöglich wollen, daß der Segen, den er hatte wachsen lassen, so in Grund und Boden verdürbe.

Aber die himmlischen Schleusen schlössen sich nicht. In der Kirche wurde eifrig für gutes Erntewetter gebetet – es regnete unbekümmert weiter. Sieben Wochen lang mußte schlechte Witterung bleiben; es hatte ja am Siebenschläfer geregnet.

Als es endlich doch aufhörte, da war es gerade um acht Tage zu spät. Das Heu war zwar aus weiser Vorsicht in große Schober gesetzt worden, aber die Nässe war doch durchgedrungen. Als man die Haufen öffnete, dampfte und stank es. Dumpfe Gärung hatte sich darin entwickelt. Manches Heu war wie verbrannt. Kein Vieh wollte das verdorbene Futter mehr anrühren. Statt auf den Heuboden, wanderte es auf die Düngerstätte oder in den Stall zum Einstreuen.

Nun schien die Sonne durch volle vierzehn Tage[130] herrlich. »Der alte Gott lebt noch!« sagte der Pfarrer von der Kanzel, »seht, wie hat Er es so herrlich hinausgeführetl« Die Bauern hörten sich das mit an; dem Herrn Pastor durfte man ja nicht widersprechen. Aber in ihren geheimsten Gedanken war nicht viel von Ergebenheit in die Ratschlüsse des Höchsten zu finden. »Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten« und »Wer Gott dem Allerhöchsten traut, der hat auf keinen Sand gebaut«. Das waren ja alles sehr schöne Sprüche, aber manchmal sah es wirklich danach aus, als ob man im himmlischen Rate – ebenso wie bei der irdischen Obrigkeit – recht wenig Verständnis für das besäße, was dem Landmanne frommt. Wie konnte es sonst geschehen, daß jetzt ununterbrochen schönes Wetter war, wo ein solcher Tag, vierzehn Tage früher, alles gerettet hätte. Nun war das schöne Heu zu Mist geworden. Mancher schüttelte den Kopf; wirklich, es ging zu verkehrt zu in der Welt! Man wußte nicht mehr, was man denken sollte.

Die Kornernte begann. Stroh war viel da, soviel stand fest. Und wo kein Lager gewesen, konnte man auch mit den Ähren leidlich zufrieden sein. Aber wo sich das Getreide zeitig gelegt hatte und nicht wieder aufgestanden war, da sah es trostlos aus. Jetzt erst beim Mähen merkte man, was das für ein Fitz und Filz geworden war. Kaum daß die Sense durchdringen konnte. Noch einmal so viel Zeit als sonst brauchten die Schnitter. Allerhand Übelstände zeigten sich. An manchen Stellen war das Getreide zweiwüchsig geworden durch die anhaltende Nässe. An den Ähren fand sich reichliches Mutterkorn. Der Rost und andere Krankheiten hatten vieles verdorben.

Den August hindurch blieb trockene, milde Witterung.[131] So viel Einsehen hatte der liebe Gott doch, daß er die Roggenernte wenigstens nicht auch noch verregnen ließ. Den Lästerzungen und Nörglern war dadurch einigermaßen der Mund gestopft, und mancher, der durch die frühere Heimsuchung vor den Kopf gestoßen worden, machte wieder seinen Frieden mit dem lieben Gott. Ja, der Herr Pastor durfte von der Kanzel herab sagen: so viel der Güte und Treue hätten wir gar nicht verdient. –

Es war nicht alles verloren. Die Grummeternte stand noch aus, vielleicht mochte sie ein wenig die Lücke ausfüllen, welche das Verderben des Heues in die Futtervorräte gerissen hatte. Der Hafer stand nicht schlecht. Streifenweise hatte ihn freilich die Zwergzikade arg mitgenommen. Die Kartoffel stand üppig, die Knollen waren zahlreich und gut entwickelt. Wenn der September sie nicht verdarb, mußte es eine gute Kartoffelernte geben.


* * *


Der Büttnerbauer hatte angefangen, sein Korn zu schneiden. In diesem Jahre bildete Roggen seine Hauptfrucht. Ein Schlag, wo er besonders dick gesät hatte, war ihm gänzlich durch Lager verdorben; an anderen Stellen, wo das Getreide weniger dicht gestanden, hatte es der Wind zum Teil wieder aufgerichtet.

Es war eine große Sache darum, wenn der erste Sensenhieb ins Korn getan wurde. Schon mehrfach in den letzten Tagen hatte der Büttnerbauer die Felder umgangen oder war auch in der Wasserfurche ein Stück hineingeschritten, um die Ähren auf ihre Reife hin zu prüfen. Farbe des Strohes und Löslichkeit der Körner wollte ihm noch immer nicht gefallen. Endlich, eines[132] Abends, gab der Alte die Losung: Morgen beginnt die Kornernte!

Karl dengelte die Sensen bis in die sinkende Nacht hinein. Am nächsten Morgen bei Tagesgrauen ging es hinaus. Das große Stück dicht am Hofe, welches seiner geschützten Lage wegen zuerst gereift war, kam zunächst daran.

In einer Reihe traten sie an, ohne besonderen Befehl. Ein jedes kannte seinen Platz von früheren Jahren her. Der Vater an erster Stelle, hinter ihm zum Abraffen der Ähren Toni. Darauf Karl, dem seine Frau beigegeben war. Ernestine hatte die Strohseile zu drehen für die Garben. Die Bäuerin blieb ihres Leidens wegen im Hause.

Die Sensen sirrten. Bald lag eine ganze Ecke des Feldes in Schwaden. Als arbeite eine Maschine, so regelmäßig flog die Sense in der Hand des alten Bauern in weitem Bogen. Ganz unten am Boden faßte sein kräftiger Hieb das Korn und legte es in breiten Schwaden hinter die Sense. Karl konnte es nicht besser als der Alte, trotz der dreißig Jahre, die er weniger auf dem Rücken hatte. Der Abstand zwischen den beiden Männern blieb der gleiche. Der Sohn trat dem Vater nicht auf die Absätze, wie es wohl sonst geschieht, wenn ein junger und kräftiger Schnitter einem alten folgt. Die Frauen hatten genug zu tun, die Ähren hinter den Sensen abzuraffen und auf Schwad zu legen.

So hatte man bereits eine halbe Stunde gearbeitet, und der alte Mann hatte noch nicht den Wink zu einer Ruhepause gegeben. Toni fing an, Zeichen von Müdigkeit an den Tag zu legen. Die Arbeit war dem Mädchen nie besonders von der Hand geflogen; in[133] ihrem jetzigen Zustande wurde ihr jede Anstrengung doppelt schwer. »Tritt ack aus, Toni!« raunte ihr der Bruder zu, »ich wer's Ernestinel ruffen. Mach du ack Strohseele.« Toni hielt inne. Es war die höchste Zeit; sie war in Schweiß gebadet, blaurot im Gesicht. Karl winkte Ernestine heran, die an Stelle der Schwester eintrat. Die Reihe hatte sich geschlossen, ohne daß der alte Bauer, der mit allem Sinnen und Denken bei der Arbeit war, etwas von dem Wechsel gemerkt hätte. Ernestine war eine rührige Arbeiterin. Man sah es den schlanken Gliedern der Sechzehnjährigen nicht an, was für Zähigkeit und ausdauernde Kraft darin steckte.

Als der Büttnerbauer Halt machte im Hauen, weil seine Sense gegen einen Stein geschlagen und er die Scharte auswetzen mußte, bemerkte er, daß seine älteste Tochter nicht mehr in der Linie war. Sie saß im Hintergrunde und drehte an Ernestinens Stelle Strohseile. Das Gesicht des Alten verfinsterte sich; er begriff sofort den Grund ihrer Entfernung – aber er sagte nichts. Die anderen benutzten die Gelegenheit, um sich zu verpusten, während der Vater die Sense schärfte. Dann ging's von neuem ans Werk.

Noch war es nicht acht Uhr des Morgens, und schon brannte die Sonne versengend auf die Schnitter nieder. Die Bäuerin kam vom Gute her, sich mühsam mit einem Korbe schleppend. Sie brachte einen Krug dünnes Bier und Butterschnitten. Bald saß die Familie auf dem Feldraine zum Frühstück vereinigt. –

Nicht immer in neuester Zeit bot die Büttnersche Familie einen so friedlichen Anblick. Öfters gab es jetzt Zwist und Streit. Mit Sammetpfötchen hatte der Bauer die Seinen niemals angefaßt. Er war stets Herr in seinen vier Pfählen gewesen und hatte von[134] den Rechten des Familienoberhauptes nach der Väter Sitte Gebrauch gemacht. Wenn seine Art auch rauh und schroff war, ein willkürlicher und grausamer Herrscher war er nie gewesen. Schlichte Gerechtigkeit hatte er walten lassen in allem. Neuerdings war das anders geworden.

Nie hätte er sich's früher beikommen lassen, seiner Ehehälfte aus ihrem Leiden einen Vorwurf zu machen, jetzt hielt er ihr gelegentlich ihre Gebrechlichkeit vor wie eine Schuld. Er zeigte sich hart und ungerecht gegen die Kinder. Die Bäuerin hatte bereits einer Nachbarin geklagt, daß man ihr den Bauer ausgetauscht habe, daß am Ende gar ein Feind ihn besprochen haben müsse.

Mit seinem Ältesten konnte der Büttnerbauer gar nicht mehr auskommen. Karl war langsam im Denken wie im Zugreifen. Das war immer offenkundig gewesen; aber der Alte schien es jetzt erst zu bemerken. Er fluchte und verschwor sich, die Wirtschaft gehe rückwärts, und daran sei Karl mit seiner Faulheit schuld. Er drohte, ihn zu enterben, wenn das nicht anders werde. Karl ließ dergleichen ruhig über sich ergehen; Ehrgefühl und Stolz waren nicht gerade stark bei ihm entwickelt. Aber Therese nahm die Sache des Gatten um so eifriger auf, verfocht sie mit der Leidenschaft des gekränkten Weibes. Es gab Szenen, wie sie das Haus noch nicht gesehen hatte. Eines Tages kam die Bäuerin bleich und an allen Gliedern zitternd zu Karl aufs Feld hinausgehumpelt, er solle sogleich hereinkommen, der Bauer und Therese rauften in der Familienstube.

Auch dem Gange der Wirtschaft war anzumerken, daß verhängnisvolle Wandlungen vor sich gegangen waren.

Ein unstetes Wesen machte sich in allem geltend.[135] Über Gebühr zeitig mußte aufgestanden werden, so daß die überanstrengten Menschen des Abends todmüde waren und ohne Lust und Liebe am nächsten Tage sich zur Arbeit erhoben. Am unrechten Flecke wurde gespart. Der Bäuerin warf der Bauer Verschwendung vor, wenn sie reichlich und gut kochte; die Folge war, daß fortan mageres Essen auf den Tisch kam, und daß sich die Seinen hinter seinem Rücken satt aßen. Auch dem Vieh wollte er vom Futter abknapsen. Die Pferde, welche Hafer kaum mehr zu sehen bekamen, sollten doch doppelte Arbeit leisten. Er, der früher bekannt gewesen war als Heger und Pfleger seines Viehes, mußte es erleben, daß ihm, als er mit den abgetriebenen Mähren durchs Dorf fuhr, das verfängliche Wort: »Pferdeschinder!« nachgerufen wurde.

Dabei gönnte er sich selbst am wenigsten Ruhe von allen, plagte und schand sich in gottserbärmlicher Weise. Hohläugig und ausgemergelt lief er umher, daß es ein Jammer war, anzusehen. Manchmal überfiel ihn, besonders bei der Mahlzeit, eine Schlafsucht, der er nachgeben mußte, er mochte wollen oder nicht. In der Kirche, wo er früher stets zu den Aufmerksamsten gehört hatte, schlief er jetzt schon im ersten Teile der Predigt ein. Des Nachts dagegen wachte er oft, erschreckte die Bäuerin durch Selbstgespräche und wildes Aufschreien.

Je mehr er seine Kräfte nachgeben fühlte, desto verzweifelter versteifte er sich darauf, seinen Willen durchzusetzen. Plötzlich überkam ihn eine Art von Zwangsvorstellung. Da warf er sich mit allen Arbeitskräften, die ihm zur Verfügung standen, auf die Urbarmachung einer Halde, die von einem eingegangenen Steinbruch zurückgeblieben war. Die Seinigen hielten[136] ihm vor, daß man ja genug Ackerland besitze, und daß die Arbeit zurzeit an anderen Stellen brennend notwendig sei. Aber mit solchen Einwänden durfte man ihm nicht kommen. Wutentbrannt wies er jede Widerrede zurück. Eine ganze wichtige Woche im September wurde so auf das Wegräumen von Schutt und Sprengen von Steinen verschwendet. Und erreicht war damit nichts weiter, als daß ein Stück Land mehr da war, das unbrauchbar blieb für die Bestellung.

Mit aller Welt geriet der Büttnerbauer neuerdings in Zwist. Ein einziges Wort konnte ihn derartig aufbringen, daß er alle Besinnung verlor und den Streit vom Zaune brach. Eines Tages ritt Hauptmann Schroff über das Büttnersche Gut. Er traf den Bauern bei der Feldarbeit, hielt sein Pferd an und redete den Alten in freundschaftlicher Weise an. Der Alte tat, als habe er den Mann noch nie in seinem Leben gesehen, geschweige denn in vertraulicher Weise mit ihm verkehrt. Als der Hauptmann sich nach der Lage des Bauern erkundigte, ihn dabei an das Gespräch erinnernd, das sie im Frühjahr gehabt, da brach gänzlich unerwartet und unvermittelt aus dem Munde des Alten ein Schimpfen und Wettern los, Verwünschungen und Beschuldigungen gegen die Herrschaft, die ihm den Garaus machen wolle, so beleidigend und verletzend, daß der gräfliche Güterdirektor seinem Renner die Sporen gab, machend, daß er von dem alten Isegrim wegkam.

Mit Gemeinde und Behörde war der Büttnerbauer neuerdings ebenfalls zusammengeraten und auch nicht zu seinem Vorteil. Der Dorfweg führte ein Stück entlang der Büttnerschen Grenze. Der Bauer hatte nahe am Wege eine Kiesgrube angelegt, aus der er[137] seinen Bedarf an Sand zu Bauten und Wegebesserungen entnahm. Im Laufe der Zeit hatte sich durch Sandholen und Nachstürzen vom Rande das Loch vergrößert. Es drohte Gefahr, daß Fußgänger und Geschirre, namentlich bei Dunkelheit oder Schneeverwehung, in die Grube stürzen und Schaden nehmen möchten. Die Gemeinde hatte daher das sehr begreifliche Verlangen an den Besitzer der Kiesgrube gestellt, er möge zwischen Weg und Grube ein Geländer errichten. Der Büttnerbauer kehrte sich überhaupt nicht an dieses Ansinnen, das er als einen Eingriff in sein gutes Recht auffaßte. Darauf Beschwerde von seiten der Gemeinde beim Landrat. Das Amt dekretierte, der Bauer habe das Geländer bis zu einem bestimmten Zeitpunkte herzustellen. Der Bauer ließ den Zeitraum verstreichen, ohne einen Finger zu rühren. Hierauf Strafverfügung von seiten der Behörde. Der Bauer schimpfte und tobte; aber hier half all sein Sperren nichts. Er hatte sich selbst ins Unrecht gesetzt. Das Anbefohlene mußte schließlich ausgeführt werden, und Strafe hatte er obendrein zu zahlen.

So tat er in allem gerade das, was ihn am meisten schädigen mußte. Es war, als ob der Teufel den alten Mann geblendet hätte. Die Bäuerin hatte nicht so ganz unrecht mit ihrer Klage, daß ihr Bauer behext worden sein müsse.

Es gab in der Tat ein Schreckgespenst, das dem Bauern im Rücken saß, ein Werwolf, der ihn ritt, daß er, halb wahnsinnig, nicht mehr wußte, wo ein und aus.

Seit er dem Händler den Wechsel unterschrieben, hatte der Büttnerbauer keine ruhige Stunde mehr gehabt. Kaum war Harrassowitz zum Hause hinaus gewesen, hätte er ihn zurückrufen mögen, ihm sein Geld zurückzugeben.[138]

Dabei hegte er keinerlei bestimmten Verdacht gegen Harrassowitz. Er hatte den Händler nicht anders als freundlich und zuvorkommend kennen gelernt. Aber das Bewußtsein, daß es einen Menschen auf der Welt gab, von dem er abhängig war, der einen Zettel besaß, auf dem sein Name stand, und der durch diesen Fetzen sein Schicksal in Händen hielt, das war der Alp, der auf dem Manne lastete, das war das unheimliche Gespenst, das des Tages plötzlich vor ihm auftauchte, ihn besaß, wo er ging und stand und ihn des Nachts vom Lager aufscheuchte.

In der ersten Zeit, als der Verfallstermin noch in weitem Felde stand, hatte er sich der Hoffnung auf einen guten Ausgang nicht verschlossen. Wenn die Ernte gut ausfiel, wenn hohe Preise wurden! Er hatte doch in anderen Jahren manchmal aus dem Roggen allein an zweitausend Mark erzielt. Warum sollte denn das nicht auch in diesem Jahre eintreten, wo Korn seine Hauptfrucht war. Stroh konnte auch verkauft werden und vielleicht auch einige Fuder Heu. Auf die Weise konnte hübsches Geld zusammenkommen, allein aus der Winterung. Und die Sommerfrüchte behielt er dann zur Deckung des Winterbedarfes und zum späteren Verkauf.

So rechnete der Bauer im Frühjahre. Dann kam der erste Rückschlag durch die verregnete Heuernte. Mit dem Heuverkauf war also nichts; man mußte ja das wenige, was man gerettet hatte vor dem Verderben, aufheben für den Winter. Die Kornernte war inzwischen beendet. Der Büttnerbauer hatte eine Menge Puppen setzen können; sein Feld hatte voll ausgesehen. Das Getreide war trocken in die Scheune gekommen.

Der Bauer besaß eine kleine Dreschmaschine und[139] einen Göpel auf seinem Hofe. Das meiste ließ er freilich im Winter mit dem Handflegel ausdreschen nach alter Sitte; das Stroh blieb beim Handdrusch besser, und dann liebte er auch nicht die Neuerungen. – Maschine blieb Maschine, wenn es auch nur ein einfaches Göpelwerk war. In diesem Jahre aber ließ er gleich mehrere Tage hintereinander mit dem Göpel dreschen. Er mußte ja Korn haben zum schleunigen Verkauf.

Der alte Bauer stand am Siebe, während Karl die Garben hineinschob und Therese draußen das Pferd antrieb. Der Bauer nahm selbst das Getreide ab und maß es nach.

Seine Miene wurde düsterer und düsterer. »'s schüttet ne, 's will ne schütten!« erklang sein verzweifelter! Ruf. Was nutzte ihm das viele Stroh, wenn der Körnerertrag so gering war! Und dabei hatte er das Hauptkorn in diesem Jahre auf vorjährigem Kartoffellande gebaut, das noch reich an Dünger gewesen. Er hatte es an Sorge und Fleiß nicht fehlen lassen, und trotzdem kein Erfolg! Es waren die kalten Tage und Nächte im Anfange des Sommers gewesen, die den Landwirt um den Ertrag seiner Mühen betrogen hatten.

Schließlich lag das gesamte Ergebnis der Kornernte in einem stattlichen Körnerhaufen, durchgesiebt und durchgeworfen, von Spreu und Unkrautsamen sorgfältig befreit, auf dem Schüttboden.

»Wenn's nu ack an Preis hätte!« sagte der Büttnerbauer und schickte den Sohn in den Kretscham. Karl sollte dort ein Glas Bier trinken und bei der Gelegenheit im Kreisblatte nachsehen, was der Roggen jetzt gelte.

Karl kam mit der Nachricht zurück, daß Roggen pro erste Septemberwoche neunzig stehe. Kaschelernst[140] habe gemeint, der Preis werde in nächster Zeit noch viel tiefer sinken an der Börse, »von wegen der ausländischen Einfuhr«, so berichtete Karl wörtlich, ohne zu verstehen, was das eigentlich heiße. »Wer klug handeln wolle, der hielte sein Korn bis zum Frühjahr, da werde es schon Preis bekommen,« habe Kaschelernst gesagt.

Der Büttnerbauer konnte sich schon denken, mit welch treuherziger Miene sein Schwager das gesagt haben mochte. »Halten bis zum Frühjahr!« Der Schuft! Als ob der nicht ganz genau wisse, daß der Bauer verkaufen mußte, unter allen Umständen und zu jedem Preise. Und derselbe Mann, der ihm hier so freundlichen Rat erteilen ließ, war es, der ihm die letzte Hypothek Knall und Fall gekündigt hatte. Der alte Bauer griff sich an den Hals und schluckte, als säße da etwas, was nicht hinunter wollte.

Der Büttnerbauer machte sich darauf ans Rechnen. Das war stets als eine geheimnisvolle Sache von ihm behandelt worden. Eine eigentliche Buchführung kannte er nicht. Das Wichtigste behielt er im Gedächtnis. Er wußte Ausgaben und Einnahmen, die er gemacht, von vielen Jahren her auf Heller und Pfennig anzugeben. Aber obgleich er für gewöhnlich nichts buchte, so machte er von Zeit zu Zeit doch einmal einen Abschluß. Dann gab es ein höchst umständliches Rechnen mit Kreide auf einer Tischplatte oder einer Tür. Die Sache nahm Stunden in Anspruch. Lange Zahlenreihen wurden aufgeschrieben, alle vier Spezies bemüht. Den eigentlichen Sinn aber dieser ganzen Rechnerei verstand nur der Büttnerbauer allein. Es war ein Vorgang, der auch äußerlich wie ein Geheimnis behandelt wurde, denn er duldete nicht, daß jemand während der Zeit sich[141] im Zimmer aufhielt. Die Seinen wußten das. Wenn es hieß: »Der Vater rechnet!« hielt man sich wohlweislich fern, denn dann war nicht gut Kirschen essen mit dem Alten.

Auch diesmal hatte er eine verzwickte Rechnung angestellt. Das Ergebnis war ein sehr einfaches und in seiner Einfachheit bestürzendes: Achthundert Mark! Auf mehr kam er nicht! Das war nicht annähernd genug zur Deckung des Wechsels und zur Bezahlung der Michaeliszinsen.

Der alte Mann ballte die Faust. Er wußte selbst nicht, gegen wen. Wer war es denn, der die Schuld daran trug, daß ihm nicht der Lohn seiner Arbeit wurde? Sollte er den lieben Gott dafür verantwortlich machen, oder sollte er die Menschen bei dem lieben Gott verklagen? Wer war der Feind, wo die Macht, die ihn um das Seine gebracht hatte? –

Der Bauer drohte in die leere Luft hinaus. Das war nicht zu fassen, für seinen Arm nicht zu erreichen: die Mächte, die Einrichtungen, die Menschen, welche Schuld hatten, daß sein Schweiß umsonst geflossen war. Irgendwo da draußen, unfaßlich für seinen ungelehrten Verstand, gab es ungeschriebene Gesetze, die mit eherner Notwendigkeit auf ihn und seinesgleichen lasteten, ihn in unsichtbaren Ketten hielten, unter deren Druck er sich wand und zu Tode quälte.

Das Exempel stimmte mit fürchterlicher Genauigkeit. Wenn er den Wechsel bezahlte, langte es nicht zu den Zinsen, bezahlte er die Zinsen, langte es nicht zum Wechsel.

Die einzige Hoffnung blieb jetzt, daß Harrassowitz Stundung gewährte. –[142]

Noch ehe der Verfalltag eintrat, fuhr der Büttnerbauer in die Stadt, er wollte mit dem Händler sprechen.

Als der Bauer das Produktengeschäft von Samuel Harrassowitz betrat, wurde ihm gesagt, der Chef sei noch nicht im Kontor. Er ging daher fort und kam nach Verlauf von einigen Stunden wieder. Diesmal wurde ihm mitgeteilt, Herr Harrassowitz sei zu sehr beschäftigt, um ihn anzunehmen. Der Büttnerbauer ließ sich diesmal nicht so leicht abweisen. Es sei etwas sehr Wichtiges, »ane gruße Sache«, wie er sich ausdrückte, wegen der er mit Herrn Harrassowitz zu sprechen habe. Der Kontorist, mit dem er bis dahin verhandelt hatte, rief einen anderen herbei, den er »Herr Schmeiß« benannte.

Der junge Schmeiß schien bereits eingeweiht in die Angelegenheit, denn er fragte den Bauern, sowie er dessen Namen gehört, ob er etwa wegen Stundung seines Akzepts komme. Der alte Mann bejahte, etwas verwundert über die hochfahrende Art dieses Jünglings. Man solle doch ein paar Monate Geduld haben, bat er, bis er seinen Hafer rein habe und sein Korn vorteilhaft verkauft haben werde.

»Harrassowitz wird sich schwer hüten,« meinte Schmeiß darauf. »Nicht wahr! damit Sie inzwischen Zeit gewinnen, die einzigen pfändbaren Objekte zu Geld zu machen, daß er dann das Nachsehen hat. Wir kennen das! Stundung gibt's nicht. Wenn Sie nicht rechtzeitig zahlen, müssen Sie die Konsequenzen auf sich nehmen, mein Lieber!« –

Mit diesem Bescheide ließ er den verdutzten Alten stehen.

Der Büttnerbauer blieb den ganzen Rest des Tages in der Stadt. Er hoffte, Harrassowitz noch persönlich zu treffen. Er konnte nicht glauben, daß diese Antwort[143] von dem Händler ausgehe, auf dessen gutes Herz er baute. Aber Sam blieb heute unsichtbar für ihn.

Dann kam er auf den Gedanken, zu dem Bankier zu gehen, der ihm neulich das Geld für die Hypothek gegeben hatte. Aber auch Herr Isidor Schönberger ließ bedauern, ihn nicht annehmen zu können.

Unverrichteter Sache, schwerer denn je mit Sorgen belastet, fuhr der Büttnerbauer am Abend nach Halbenau zurück.

Quelle:
Wilhelm von Polenz: Der Büttnerbauer. In: Gesammelte Werke von Wilhelm von Polenz, Band 1, Berlin 1[o.J.], S. 128-144.
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