Sechzehntes Kapitel

[113] Gewartet hatte er in seinem Hôtel garni nicht mit dem Frühstück; auch dazu war er zu sehr der Vetter Just vom Steinhofe geblieben. Aber er hatte doch noch viele schöne Reste auf dem[113] Tische übergelassen; und mit mir von neuem herzlich und herzhaft daran zu Werke zu gehen und sich zu erbauen, dazu war der Vetter immer noch der Mann. Aber ich hatte durchaus keinen Appetit mehr; selbst der sehr mäßige, den ich vom Hause mitgenommen hatte, war mir auf dem Wege unter der Begegnung mit der weiland sœur ignorantine, Mademoiselle Martin, vollständig vergangen.

Nun war es aber trotz dieser Begegnung immer noch ein Mirakel, den Vetter Just vom Steinhofe in einer solchen modernen Karawanserei aufsuchen zu müssen und ihn daselbst sogar auf dem bekannten trostlosen Sofa hinter dem bekannten, schäbig rotbehängten Tische hemdärmelig zu finden. Welch ein Segen und Glück ist es, daß ein richtiger Haspel immer ein Haspel bleibt, selbst wenn er einem in einer gläsernen Flasche als eine Kuriosität vorgewiesen wird!

»Du bist lange ausgeblieben, Fritz! Aber so seid ihr einmal hier, und man muß euch nehmen, wie ihr seid!« rief er mir entgegen. »Jetzt komm her und setz dich und greif zu. Einen Klingelzug habe ich schon verruiniert; aber brauchst du noch etwas, so sag's nur dreist, ich gehe dann lieber selber danach. Alter Junge, ich freue mich unbändig. Öffnete sich jetzt dort die Schranktür und Jule Crote träte hervor, um, mit der Faust auf den Tisch gestemmt, dir und mir die Wahrheit zu sagen, so wäre meine Behaglichkeit vollkommen. Aber wie siehst du denn eigentlich aus? Ist dir etwas Unangenehmes auf dem Wege hierher begegnet, oder haben wir für deine Kräfte etwas zu lange in die Nacht hinein gesessen und von den alten Tagen gesprochen?«

Ich fuhr so rasch als möglich damit heraus, was mir eben begegnet war, und der Vetter fuhr mit der Hand über den Hinterkopf und sprach sehr gedehnt:

»Ach so!... Ja freilich!«...

»O Just«, rief ich, »du bist natürlich sofort da wieder der liebste Gast und beste Freund und Berater! Ich soll womöglich nur in deiner Begleitung dort einen Besuch machen; – ich bitte dich um des Himmels willen, was ist das? Sind die Zustände dort wirklich so trostlos, daß –«[114]

»Hast du wirklich gefrühstückt? Auf Ehre, Fritz, bist du satt und magst du wahrhaftig nichts mehr von dem öden Zeug hier auf dem Tische?« fragte der Vetter kläglich. »Ich frage dich dieses aus Gründen. Nämlich mir ist der Appetit auf längere Zeit vergangen, nachdem ich dort aus alter Freundschaft an die Tür geklopft hatte und von Mamsell Martin hereingelassen worden war. Ach, Fritz, was will das alles sagen, was die Männer erleben können, gegen das, was die Weiber dann und wann erleben müssen. Ich bringe dich natürlich hin, damit du selber siehst, was der Schuft, dem sie in die Hände gefallen ist, aus unserer lieben Irene gemacht hat. Oh, wäre sie tausendmal lieber mit mir über das Wasser und dann, hie und da ohne einen Cent in der Tasche, durch die Straßen von Neuyork und durch alles Sauere und Bittere bis in die Wildnis von Neu-Minden gezogen, als daß sie so dumm war und als bankerottes hochadeliges und reichsgräfliches Fräulein und junges Mädchen unter ihren Leuten blieb.«

»Davon habe ich eigentlich zu erzählen, nicht du, Vetter Just«, seufzte ich. »Das waren trostlose Zeiten auf Schloß Werden, die nach dem Tode des Herrn Grafen kamen. Wir erfuhren es beide damals, Vetter, wie dem Menschen zumute wird, wenn plötzlich hundert fremde Hände und Fäuste das Recht gewinnen, in unser Dasein hineinzugreifen, und alles, was wir für unser ewig Eigentum hielten, als das ihrige in Anspruch nehmen. Da wird das Geräte des Lebens verschoben, das uns für alle Zeit an seinem Platze fest zu stehen schien. Da klingt fremdes Gelächter in Räumen, in denen wir nur zu flüstern wagten. Du hast nicht die Macht, dich gegen die roheste Rede, gegen den erbärmlichsten Witz zu wehren. Und wenn die grünen vertrauten Bäume von draußen in gewohnter Weise dazu in die Fenster sehen und rauschen, so ist das kein Trost, sondern ganz das Gegenteil. Wir auf Schloß Werden hatten geradeso wie du auf deinem Steinhofe von allem Abschied zu nehmen. Und wir erfuhren jetzt erst in herzzerbrechender Deutlichkeit, wie uns alles ans Herz gewachsen war. Ach, du hättest meine Mutter und ihr armes Kind, ihre Irene, in jenem Sommer und Herbst sehen sollen, wie sie in den immer leerer werdenden Räumen in den Winkel gedrückt[115] saßen und alles über sich ergehen ließen, die stolze Irene am stillsten und geduldigsten! Wohl hätte die Komtesse auf dem Försterhofe ein anderes heimatliches Dach finden können, wohl hätte sie mit uns – meiner Mutter und mir – gehen können und unser Schicksal teilen, wenn nur nicht jeder Mensch sein eigen Schicksal hätte, das durch keine Liebe und Aufopferung, keinen Haß und Zorn eines anderen geändert werden kann –«

»Jawohl, da hast du recht«, seufzte der Vetter Just. »Man macht sich hier immer entweder zuviel oder zuwenig Illusionen von der Macht, dem guten oder bösen Willen seiner nächsten Umgebung und liebsten Freundschaft. Gegen das Schicksal, was einem angeboren ist, können sie nichts ausrichten, das steht fest – that is a fact, sagen wir drüben.«

»So kam denn die Vormundschaft und sprach uns drein und dann der Brief aus Graz und dann die Tante aus Graz persönlich. Da war es denn mit uns anderen allen aus, und wie von dem Steinhofe, so ging von Schloß Werden ein jeder seinen eigenen Weg in die Fremde hinein. Wenn dem nicht so wäre, wo bliebe dann nachher wohl die Verwunderung, wenn man sich wieder trifft, wie zum Beispiel wir jetzt, und seine Erfahrungen gegenseitig austauscht?«

»Da hast du wieder recht«, sagte der Vetter Just Everstein, als ob ich ihm wirklich eben die höchste Weisheit, und zwar als etwas ganz neu Entdecktes, mitgeteilt hätte. »Und jetzt sei nur still«, fuhr er dann um so überraschender fort, »du erzählst mir da gar nichts Neues; und so melancholisch, wie du das da herleierst, so trübselig habe ich es alles selber mit durchgemacht von Bodenwerder aus. Großer Gott, wie bald vergessen doch die Leute, wie nahe sie vor ein paar Jahren beieinander gewohnt haben! Von Irenes Ehestand spreche ich dir meinerseits nicht. Da mußt du dich lieber an Mamsell Martin wenden; die war, Gott sei Dank, von Anfang an bis zum Ende dabei und hat dazu heißeres Blut in den Adern als ich und kann dir also die jämmerliche Geschichte mit allem dazugehörigen Nachdruck und Gestus erzählen. Nur tu mir die Liebe, Fritz, und frage nicht die Komtesse[116] danach aus. Freilich, du wirst das wahrscheinlich wohl schon von selber unterwegs lassen, wenn du die alte wilde Hummel und Spielkameradin nach den ihr von der gütigen Vorsehung zudiktierten Lebensschicksalen wieder zu Gesicht gekriegt hast. Kurios aber bleibt es einem immer doch, wie diese nichtswürdigen Schicksale so durcheinanderspielen, daß selbst der Gleichgültigste nie genau weiß, wie sehr ihn die Sache angeht. Daß ich von neuem hier drinstecke, und zwar tief, das weiß ich; nun soll es mich nur wundern, was dir, mein guter Freund Fritze Langreuter, hierbei zu deiner Behaglichkeit und Unbequemlichkeit aufgehoben ist! Well, noch steht es aber bei dir, ob du die arme Frau durch mich nur grüßen lassen willst.«

Wenn es mir bis jetzt noch irgendwie unklar gewesen wäre, wie es möglich war, daß der Vetter Just den Amerikanern imponierte und den Steinhof wiedererlangte, so hätten mir seine letzten Worte unbedingt darüber Aufklärung geben müssen.

Und diesem Vetter hatte ich vordem die Brosamen, die vom Tische meiner Schülerweisheit abfielen, mit dem bekannten Dummen-Jungen-Humor grinsend zukommen lassen?! Und dieser Vetter Just Everstein hatte es einst für eine Glorie gehalten, mir den pythagoreischen Lehrsatz »vordemonstrieren« zu können! Die alten Kirschbäume im Grasgarten auf dem Steinhofe, die jetzt wieder samt dem Grasgarten sein Eigentum waren, schnitten mir aus der Ferne der Erinnerung sehr ironische Gesichter. Der ganze Steinhof lachte; mir aber war durchaus nicht lächerlich zumute: wenn ich ein alberner Schulbube gewesen wäre, so hätte ich dreist meine Stimmung weinerlich nennen dürfen. Um mich daraus zu retten, brachte ich nach althergebrachter Menschenweise die Rede auf etwas anderes, das heißt auf den nächsten besten Bekannten oder Freund. Ich erkundigte mich nach Ewald Sixtus und wünschte etwas Genaueres über das Zusammentreffen des Vetters mit ihm in Belfast zu erfahren.

»Der Mann gefiel mir eigentlich nicht«, sagte der Vetter Just kurz und deutlich. »Ein tüchtiger Ingenieur scheint er geworden zu sein; aber sonst hat die Fremde gerade nicht nach meinem Geschmack auf ihn eingewirkt. Von uns zu Hause mit ihm zu[117] reden, habe ich bald aufgegeben, da er selber stets gleich wieder abbrach. Aber über Wasserbauten und Brückenanlagen haben wir viel miteinander gehandelt. Wie dieser Mensch in dem Försterhause hat flügge werden können, ist auch eines von den vielen unbegreiflichen Wundern dieser Erde. Was mich anbetraf, so schien er sich übrigens auch ein wenig zu wundern, daß ich nicht ganz der alte geblieben war. Gewissermaßen habe ich ihm sogar, wie es scheint, gefallen, aber er hielt mich jedenfalls für einen größeren Kapitalisten, als ich bin; und daß ich auf dem Wege nach der Heimat war, um mir den Steinhof zurückzukaufen, hielt er für eine von meinen alten Dummheiten, und dabei kam auch sein altes lustiges Lachen (weißt du noch, Fritz?) zum erstenmal annähernd wieder zum Vorschein. Ich lachte aber nicht mehr mit wie vor Jahren auf dem Steinhofe, wenn ihr euren Spaß an mir hattet und ich das euch gern gönnte. Um Irene Everstein hatte er sich sowenig – wie du – nimm's mir nicht übel, Doktor! – bekümmert. Das hätte ich meinerseits ihm nun nicht allzu übel genommen, wenn es mir gleich etwas sonderbar nach ihrer so netten Jugendfreundschaft und – liebschaft erschien. Aber auch von seinem alten Vater und von seiner Schwester wußte er wenig. Sie schrieben an ihn wohl, er aber schrieb nur dann zurück, wenn er Zeit hatte, und die hatte er wenig. Ein bißchen Heimweh dann und wann in der Fremde schadet keinem Menschen. Man kann auch trotzdem Geld machen und ein tüchtiger Arbeits- und Geschäftsmann sein. Ich habe es furchtbar gehabt, das Heimweh nämlich, und für eine Million nicht wäre ich auf seinen, unseres Ewalds, Vorschlag eingegangen und wäre noch ein halb Jahr lang bei ihm in England geblieben und hätte Bodenwerder Bodenwerder sein lassen. Übrigens läßt er dich doch grüßen, der alte Junge. Und als ich ihm sagte, daß ich dich jeden falls aufzufinden suchen würde, fand er das uncommon obliging für dich.«

»Ich danke dir und – ihm«, sagte ich, ziemlich gedehnt das letzte Wort betonend. »Von dir, Vetter Just, war das freilich ungewöhnlich zuvorkommend und freundlich!«

»Ärgere dich nur nicht zu sehr, Fritzchen«, lächelte gutmütig[118] der gelehrte Bauer vom Steinhofe. »In früheren Zeiten ist lange genug ununterbrochen an mir die Reihe gewesen, mich über die Leute und Dinge zu verwundern. Jetzt bin ich gottlob wenigstens ein wenig dahintergekommen, daß man mit seinem Erstaunen haushalten muß und daß es schade ist, es an das unrichtige Individuum oder den unrechten Gegenstand wegzuwerfen. Morgen früh aber gehen wir beide zu Irene Everstein oder Frau von Rehlen. Weißt du, ich nenne sie am liebsten immer noch bei ihrem Vaternamen, noch dazu, da es auch der meinige ist. Wenn es dir paßt, so werde ich dich gegen elf Uhr abholen. Du kannst es mir aber aufrichtig sagen, wenn du andere wichtige Abhaltungen hast.«

Ich hatte dergleichen nicht.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 113-119.
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