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[380] Dieser rote Streifen am Westhimmel und unter ihm, und in ihn hineinragend die schwarzen Schattenrisse von bewohnten und im Bau begriffenen Häusern, Baugerüsten, Fabrikschornsteinen und hohen Pappelbäumen! Kein heiterer, blauer, kein Regenhimmel, kein klarer Sonnenauf- und -untergang übt solche[380] geheimnisvolle, bald bängliche, bald beruhigende Wirkung, solche Magie auf das Menschengemüt aus wie dieser blutfarbene Strich, wenn es Abend werden will nach einem unruhvollen, stürmischen oder auch – in stumpfer Langweile vergangenen Tage. Und im Herbst mehr als in einer andern Jahreszeit.
Das blödeste Auge, das den ganzen Tag über für nichts anderes da war als das Nächstliegende, das schärfste Auge, das die ganze Welt überflog und keinen Horizont an den Dingen der Erscheinung fand: sie heften sich beide an den roten Strich im Westen.
Die Straßendirne in ihrer Kammer, der König am Fenster seines Schlosses, der Weise in seiner Studierstube, der einsame Wanderer auf der Landstraße, der Reiter im Zuge der bewaffneten Hunderttausende, der Reiche und der Arme, der Gesunde und der Kranke: sie haben alle ihre nachdenklichen Gedanken bei dem Blick auf diesen roten Streifen. Und – seltsamerweise nur selten sind diesen Gedanken Worte zu geben.
Rotkäppchen hatte einfach auf den roten Strich aufmerksam gemacht. Von den drei anderen, die hier jetzt in der Abenddämmerung neben dem Wagen auf der aufgeweichten Landstraße standen und sich umsahen, war nur Hofrat Brokenkorb imstande, halblaut zu murmeln: »Wie unheimlich wirkungsvoll!«
Ihm, trotz der geistigen und körperlichen Zerschlagenheit, in der er sich befand, entging keine Einzelheit der trostlosen Umgebung: nicht der Schmutz des Pfades, der nicht Gasse, nicht Landstraße, nicht Feldweg war, sondern von allem etwas – nicht die einzelnen, öden Häuser, die bewohnt oder unbewohnt in das graue Feld hineinwuchsen – nicht die Hecken und Zäune – nicht das lange, schwarze Gitter und das hohe, schwarze Tor dicht zur Seite – nicht die erbärmliche Kneipe jenseits des Weges und die vor ihr lungernden Menschen. Es war das seine Gabe – die hohe Fähigkeit, sinnlich wahrzunehmen, und er hatte sein Talent zu seinem Behagen und in vollbefriedigtem Ehrgeiz hundert- und aber hundertmal vor seinen entzückten und erschütterten Zuhörerschaften verwertet: in diesem Augenblick aber – hatte er kein Publikum und wußte mit seiner Sinnesschärfe und geistige[381] Feinfühligkeit nirgends hin. Das war im höchsten Grade widerlich – widerwärtig und durchaus nicht zu ertragen bis an die Grenzen der Nervenanspannung dieses entsetzlichen Tages mit seinen empörenden Zudringlichkeiten und Rücksichtslosigkeiten.
Sehr rücksichtslos entzog ihm auch jetzt noch dazu sein Freund Peter den Arm, auf den er sich beim Herausklettern aus der Droschke gestützt hatte, und ließ ihn rücksichtslos stehen oder nach Belieben mit den andern über die Straße nachkommen. Peter Uhusen stapfte langen Schrittes durch die Pfützen des Weges zu dem schwarzen, eisernen Tor, ohne sich nach irgend jemand umzusehen.
Er legte die Hand auf das Schloß des eisernen, schwarzen Tores und rüttelte – vergeblich.
»Geschlossen?«
Der Kutscher, der, wie gesagt, noch nie in seiner Praxis solch eine Gesellschaft gefahren hatte und ihr bis an das Tor auf den Fersen geblieben war, deutete mit dem Peitschenstiel auf eine schwarze Tafel mit weißen Buchstaben an einem der Torpfeiler.
»Da ist die Kirchhofsordnung angenagelt. Es ist für das Reglement wohl ein bißchen spät am Tage geworden. Wenn aber die Herrschaften sich für ein Trinkgeld noch mal aufschließen lassen wollen, so müssen Sie sich wohl an den Wächter wenden.«
»Das wissen wir, die wir hier zu Hause sind, ebensogut als wie Sie, Männeken«, rief das Rotkäppchen und wendete sich unruhig, ratlos an ihre übrigen Begleiter: »Was sagen Sie aber? Wie ist das nun mit den Kindern?... Na, den alten Hofmarschall und seine Gänge hier kenne ich gottlob auch. Den müssen wir jetzt vor allen haben – und guck, da stecken sie eben auch drüben in der Penne das Gas an. Gedulden Sie sich gefälligst nur einen Augenblick hier; ich bin umgehend mit der nötigen Auskunft zurück.«
Leichtfüßig hüpfte sie der Schenke zu und verschwand nach einer kurzen Unterredung mit den Leuten vor der Tür im Innern des Hauses. Es dauerte auch in der Tat nicht lange, und sie kam wieder zum Vorschein, begleitet von einem Mann, der wohl mit[382] der geschlossenen Kirchhofstür in Verbindung gebracht werden konnte. Selbstverständlich hielt es auch der größere Teil der Lungerer unter dem Schilde der Kneipe für das bessere, unmittelbar aus der Quelle die Kunde zu schöpfen, was da eigentlich noch los sei. –
Ehe der alte Pförtner herzugehumpelt war, befand sich die seltsame Führerin bereits an der Seite Peter Uhusens und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist der Mann mit dem Schlüssel! Sein Name ist Lochner, und er weiß schon, was wir von ihm wollen. Die Geschichte wird aber immer schlimmer! Du großer Gott, Ihren Nerven traue ich schon, bester Herr, und meinen auch, und daß die Mutter Cruse mir nicht schwach wird, glaube ich auch; aber – der da – der Herr Hofrat... ich glaube wirklich, es wäre besser –«
Sie kam in ihrer Angst und Aufregung mit ihren Worten nicht zu Ende; Herr Lochner hatte nach einem kurzen, aber weltkundigen Blick auf die gnädige Frau, den Hofrat Brokenkorb und den Schmied von Jüterbog bereits den großen Schlüssel aus der Tasche vorgelangt und sagte, die Pfeife aus dem Munde nehmend: »Es ist wohl ein bißchen gegen die Tagesordnung; aber eine Ausnahme ist es auch diesmal der andern Umstände wegen, und so will ich den Herrschaften gern zu ihrem Willen helfen. Bitte einzutreten! Ja, es ist immer eine üble Sache um das Zuspätkommen. Witwe Wermuth? Ja, auf Namen können wir uns hier und zumal auf der Armenseite nicht gut einlassen; aber die Nummer mit den beiden Kindern zur Begleitung, die haben wir noch in Sicherheit, zu der kann ich Sie gern führen. Dieser Kondukt kam leider wirklich für heute zu spät am Tage, und so haben wir uns dieses Geschäft bis morgen früh aufheben müssen.«
»Die Kinder! Die Kinder!« rief Frau Wendeline.
»Zu denen kann ich Ihnen nicht verhelfen, Madam«, sagte der Mann. »Nur zu der Nummer, ich wollte sagen, liebe Dame, zu dem Sarge, den sie uns heute hierher begleiteten.«
Selbst er hielt noch einmal auf dem Wege zwischen den ersten Gräberreihen und den vornehmern Monumenten an und wendete sich zu seinen späten Gästen und sagte mit seiner trocknen, heisern[383] Stimme: »Unsereiner sieht das wohl nicht mehr so wie andere Leute, zu deren tagtäglichem Geschäft und Handwerk solche Vorkommnisse nicht gehören. Man wird hier an zu vieles gewöhnt, vorzüglich auf der Armenseite. Jeden Tag Nummer für Nummer so durch das ganze Jahr ohne Unterschied der Witterung, das härtet ab. Aber leid haben mir die zwei Würmer getan, wie sie da bei der Mama im schwarzen Kasten standen und ich und die Kirchhofsverwaltung ihnen mit dem besten Willen nicht helfen konnten, da die Leute schon von der Arbeit weggegangen waren. Stellen Sie sich nur vor, die armen Kreaturen waren nicht von dem Nasenquetscher wegzubringen! Sie saßen auf dem Sarg und wollten die Nacht drauf sitzen bleiben. Der Junge war wie toll und die ganze Bevölkerung hier herum in Bewegung um sie her, als ich sie endlich aus der Gittertür hatte und hinter ihnen abschloß. Es ist wirklich schon ein bißchen dunkel; hier in den engen Wegen halten Sie sich nur dicht hinter mir und stolpern Sie nicht, wenn Sie so freundlich sein wollen.«
Er schritt weiter, seine Pfeife von neuem in Brand setzend, und sie folgten ihm, einer hinter dem andern, im Zickzack zwischen den Büschen, Hügeln, Kreuzen, Säulenstumpfen und Urnen – wortlos den heißen Atem anhaltend und doch vor Frost schaudernd. Und so gelangten sie auf einen baum-, strauch- und denkmallosen, ziemlich umfangreichen Teil des Gräberfeldes; und von neuem blieb der Führer stehen und deutete auf einen dunkeln Gegenstand am Rande einer weiten Grube und sagte »Ich weiß nicht, wie die geehrten Herrschaften dazu stehen; aber – dies ist die letzte Nummer von diesem Tage. Morgen früh nach acht werden wir unser Amt an ihr mit allem Respekt vor der Sterblichkeit verrichten. Die Herren und die liebe Dame können versichert sein, daß wir sie mit aller Achtung beisetzen werden zur ewigen Ruhe. Schuldig sind wir dieses ja doch einer dem andern, und mir persönlich liegt der Junge, dieser Satansjunge, noch zu sehr in den Knochen. Da kann sich der Mensch wirklich nur gratulieren, daß er keine eigenen Kinder hat, wenn er so eine Kinderhand so von so einem schwarzen Deckel so in aller Güte halb mit Gewalt hat losmachen müssen.«[384]
»Das fehlte uns grade noch!« rief der Schmied von Jüterbog, mit dem Fuße aufstampfend; – sein Freund Hofrat Dr. Brokenkorb war nicht mehr fähig, alle Einzelheiten seiner persönlichen Lebenserfahrungen bis in die letzten Nervenenden nachzufühlen. Er litt auch nicht mehr an Kopfweh und Scheu vor übeln Gerüchen; er lag ohnmächtig in den Armen des Rotkäppchens, und diese sagte: »Habe ich es mir nicht gedacht? Habe ich es nicht gesagt? O ich kenne ja seine Nerven! Ich habe ihn ja dutzendmal zu schön über mich reden hören, wenn ich beim Professor Käsewieter als ertrunkene Verlassene Modell lag!«
»Wir beide hätten freilich die Geschichte am besten unter uns allein abgemacht, Uhusen!« rief die Mutter Cruse. »Den Narren haben wir auf dem Halse, und die Kinder, die Kinder – wer schafft uns die Kinder? Aber jetzt ist da nichts zu ändern; greifen Sie mit zu, Sie, Lochner heißen Sie ja wohl? Nehmen Sie ihn beim Kopf, Peter. Hinüber mit ihm nach der Kneipe da! Lauf vorauf, Mädchen, und bestell was Warmes für ihn; und wenn wir ihn wieder bei Sinnen haben, dann so rasch als möglich mit ihm in den Wagen und nach der Stadt zurück – den Kindern, den Kindern nach!«
Sie gab ihre Befehle kurz, bündig, scharf und gehoben, wie auf ihrer Bühne in Lübeck, Celle und New York – aber auch zutreffend, sachgemäß, pragmatisch in der wirklichen, wahrhaftigen, heißen Daseinsschlacht, in dem großen, furchtbaren, anfang- und endlosen Drama des Lebens. Nicht ohne theatralischen Gestus riß sie ihren Mantel ab und warf ihn über den Ohnmächtigen in den Armen der beiden Männer: »Fort mit ihm!«
Aber keine Komödie war in der Art und Weise, wie sie noch einen Augenblick neben dem Sarge von Erdwine Wermuth stehenblieb und mütterlich, altfraulich-mühsam sich beugte, in die aufgeworfene Erde der dunkeln Gemeingräber griff und eine Handvoll davon auf den Deckel über dem Haupte der Toten legte und sagte: »Ich weiß deiner Kinder wegen nicht, Kind, ob ich morgen früh um acht schon hier sein kann.«[385]
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