|
[321] »Dieses wohl nicht; freilich aber ein wenig in Hinsicht auf geistige wie körperliche Erziehung vernachlässigt«, sagte der Justizrat, als ob er mit seinen leiblichen Ohren gehört habe, was die Baronin in der Tiefe ihrer Seele gerufen hatte. »Blödsinnig ist sie nicht, sie sieht nur dann und wann so aus.«
»Daß der Umgang mit Ihnen ein wenig mehr als bloße Behutsamkeit erfordert, weiß ich, es ist nicht mehr nötig, daß Sie mir dieses immer von neuem deutlich machen, Scholten. Guten Abend, mein Kind; wirst du mir erzählen, was dir eben träumte?«
Die Kleine machte nur die größten und verwundertsten Augen; wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt starrte sie die schöne Dame an, antwortete aber nicht.
»Guten Abend, Eilike«, sagte der Justizrat. »Gut geschlafen? Eigentlich sollte man dir einen guten Morgen wünschen.«[321]
Jetzt ging ein Lachen über die Züge des Mädchens, während es sich mit den Knöcheln beider Hände die Augen rieb und von neuem herzhaft gähnte.
»Wie Viele hast du heute schon verschlungen?« brummte Scholten, und jetzt zeigte es sich, daß das Ding doch auch zu reden wußte.
»Oh, noch niemand, Herr Pate. Wir haben auch gar nicht zu Mittag gekocht. Der Vater hatte keine Zeit, und ich habe ihm geholfen. Jetzt schläft er, und ich bin hier und habe auch geschlafen. Es ist wohl der heiße Tag gewesen, und unterwegs hatte mir der liebe Gott noch einen Botengang linksab geschickt. Das hat mich wohl noch schwindliger gemacht; da bin ich hier in der Kühle eingeschlafen, ohne daß ich weiß, wie es zugegangen ist. O nehmen Sie es nur nicht übel!«
»Im Brotschranke war ein halbes gebratenes Huhn – delikat! – und ein Topf mit Pflaumen in Zucker?!« sagte oder fragte der Justizrat, wie verstohlen mit dieser Bemerkung sich seitwärts anschleichend.
»O ich weiß, Herr Pate! Ich stand auf den Zehen; aber sie hat mich am Zopf umgedreht, und da habe ich hier auf der Bank gewartet und bin eingeschlafen.«
Die Augen der Kleinen leuchteten bei dem neuen Blick auf den Wandschrank; aber die Augen des Justizrats Scholten leuchteten gleichfalls bei einem Blick in denselben. Mit einem Sprunge war er vor der Stubentür, und sofort erhub sich in der Tiefe des Hauses – wahrscheinlich in der Küche – ein Lärm, der die stillen Schläfer an der Kirche unter den Kreuzen und grünen Hügeln hätte aufwecken können. Der gemütliche alte juristische Sommergast der Witwe Bebenroth schien toll geworden zu sein. Er schrie, er brüllte – Pfannen und Töpfe rasselten –, dazwischen zeterte und heulte die Witwe; die Frau Baronin Salome von Veitor aber schob der Eilike den irdenen Teller mit dem Brot zu und sagte:
»Du wirst für jetzt wohl damit fürliebnehmen müssen, mein armes Kind.«
»Oh!« rief Eilike Querian, griff mit beiden Händen gierig zu,[322] riß ganze Stücke mit den blendend weißen, scharfen Zähnen ab und erstickte fast im Kauen und Schlingen.
Der Anblick war solcher Art, daß die Frau Salome, die Hände faltend, murmelte:
»Wer konnte darauf achten? Ich hab's nicht gesehen; aber ich hoffe, er hat seinen Spazierknittel mit in die Küche genommen und macht Gebrauch davon. Ich hoffe zu Gott, daß er das Weib durchprügelt!«
Keuchend, mit dem hellen Wutschweiß auf der Stirn, trat Scholten wieder ein.
»Das Kind habe alles gefressen, behauptet der Unhold und will darauf einen selbstverständlich falschen Eid schwören«, sagte er grinsend. »Eilike –«
Das Kind hatte sich bereits erhoben. Es stand in einer seltsam pathetischen Stellung. Die linke Hand hatte es auf die Brust gelegt, die rechte erhob es, reckte die Schwurfinger auf und sagte mit wunderlich feierlichem Tone:
»Der barmherzige Herr und Schöpfer vom Himmel und der Erde ist mein Zeuge. Ich habe es nicht getan.«
Die Frau Salome sah von dem jungen Mädchen auf den Justizrat:
»Scholten, ich bitte Sie?! Was ist das, Scholten?«
»Eilike Querian. Querians Tochter, wie ich Ihnen sagte. Mein Patchen aus der Marktkirche zu Hannover, wie ich Ihnen bemerkte. Ich habe die Person nach dem Wirtshause geschickt. Nicht wahr, Eilike, wir sind mit jeglichem Tafelabhub zufrieden?«
Das Kind lachte. Es kaute weiter, schien den Herrn Paten wenig zu verstehen und schien vor allen Dingen mit allem zufrieden zu sein, was ihm zwischen die gesunden glänzenden Zähne kam. – Die Witwe Bebenroth kam mit einem leeren Korbe zurück, trat patzig in die Stube, schlug die Arme unter und sagte grimmig, verdrossen und voll höhnischen Triumphes:
»Nichts! Alles ratzenkahl – der letzte Knochen für die Hunde. Sapperment, ist das ein Umstand!«[323]
»Sapperment«, brummte der Justizrat. »Weib, ich hätte Lust, dir einen Kriminalprozeß auf den Hals zu hängen!«
Da setzte die Witwe ihren Korb nieder und verzog den Mund zu einem neuen Geheul:
»Oh, Herr Rat, ich habe noch einen Schinken im Rauch. Mein letzter Seliger ist dieses sein letztes Frühjahr durch mit langer Zunge drumherum gegangen, und ich habe ihn leider Gottes mehr als einmal von der Leiter heruntergezogen und ihm das Messer aus den Händen gerissen. Ach Gott, ach Gott, hätte ich gewußt, daß dies sein letztes Frühjahr sein sollte, so hätte ich ihn gut und gern mit seiner Gier dran gelassen. Ein Drache bin ich nicht, sondern nur eine arme, elende Witfrau, Herr Justizrat, und das wissen Sie seit sechs Jahren am besten.«
»Herunter mit dem Schinken! Her mit ihm!« rief Scholten; doch sein kleiner Gast stand auf, knickste höflich und sagte:
»Ich bin ganz satt, Herr Pate; ich danke auch schön.«
»Sapperment«, wiederholte Scholten, und die Witwe Bebenroth murmelte etwas von einer »diebischen, gefräßigen Kröte« und verschwand, auch diesmal ihren Schinken noch rettend.
»Sie hat das Huhn doch sich selber genommen«, flüsterte Eilike Querian, und dann trug sie Teller und Brot und Messer ein jegliches an seinen Platz und wischte den Tisch ab mit einem Flederwisch, den sie vom Nagel hinter dem Ofen holte, brachte auch den Gänseflügel wieder an seinen Ort, kam zurück an den Tisch und auf ihre Bank und hub nun an, bitterlich zu weinen. Die Tränenflut kam so überraschend für die Frau Salome, daß sie beinahe erschrak und jedenfalls ihren Stuhl höchst verdutzt zurückschob. Der Justizrat, mit den Zuständen seines kleinen Gastes bekannt, zog nur ganz unmerklich die struppigen grauen Augenbrauen zusammen, schob die Brille auf die Stirn und fragte:
»Also es ist einmal wieder gar nicht auszuhalten zu Hause, mein Mädchen?«
»Ich bin aus dem Fenster gestiegen. Es ist böse von mir; aber er hat es gottlob nicht gemerkt. Ich meine, ich könnte sterben,[324] ohne daß er es merkte. Er hat mich wieder nackt abgebildet, daß ich mich vor mir selber fürchte –«
»Er ist verrückt: und wenn wir sechsmal aus einem Neste sind, meine Geduld mit ihm ist zu Ende!« rief der Justizrat, die Faust schwer auf die Tischplatte fallen lassend. »Es ist unverantwortlich, daß ich ihm nicht schon längst die Tür habe aufbrechen lassen; aber es soll heute abend – jetzt gleich – noch geschehen. Er soll hervor! Einen andern Herbst und Winter durch lasse ich dich nicht mehr mit ihm allein, mein armes Kind! Er ist unzurechnungsfähig; ich werde jetzt auf der Stelle mit dem Vorsteher reden und mich diese Nacht noch mit einer Darlegung der Verhältnisse an die zuständigen Behörden wenden. Sie sollen mir die Vormundschaft über ihn und dich legaliter übertragen. Zum Henker, es ist kaum zu glauben, was alles den verständigen Leuten in dieser Welt über den Kopf wachsen will! Prometheus?! Oh, der Narr soll mir nur mit seiner Dummheit kommen Am Kaukasus werde ich ihn nicht festschmieden lassen, wohl aber solide und behaglich in das Landesirrenhaus setzen lassen. Ichor?! Sapperment, die Doktoren und Chirurgen nennen das auch serum sanguinis, Wundwasser – Eiter und Jauche! Ich werde ihn an den Ohren hervorziehen – beim Zeus, das heißt dem verständigen, klaren, blauen Himmel, das werde ich.«
Ja, beim unbewölkten Zeus, der es aber versteht, Wolken zu sammeln und tüchtig zu regnen: der Justizrat Scholten sah in diesem Moment nicht aus, als ob er viel von dem Blute der Götter in den Adern der erdgeborenen Menschen halte! Wie ein alter Kater sah er aus oder, edler gesagt, wie ein Schwurgerichtspräsident, der bei ausgeschlossener Öffentlichkeit über einen mit dem Untergange von Sodom und Gomorrha in Verbindung zu bringenden Fall zu Gerichte sitzt.
Die Frau Salome sah noch verdutzter auf ihn wie vorhin auf die so unvermutet in Tränen zerfließende Eilike. Das Kind hielt angsthaft, mit offenem Mund, in der offenen Hand den Groschen hin, welchen es Vorhin für einen Botenweg von einer gutherzigen Seele im Dorfe zur Belohnung empfangen hatte; – der alte Jurist erschien in demselben Grad erregt wie vorhin, als[325] er, wutentbrannt ob des fehlenden Hühnerbratens und seines Topfes voll Zwetschen, in die Küche der Witwe Bebenroth stürzte, und er beruhigte sich in demselben Grade rasch wie nach jenem Zornausbruche.
Die gesträubten Brauen glätteten sich, die grimmigen Falten legten sich wieder in die gewöhnlichen Furchen zurecht, und der Justizrat sprach zur Frau Salome:
»Euer Gnaden verwundern sich? Euer Gnaden haben keine Ursache, sich zu wundern. Aber dieser Querkopf, dieser Querian, macht mir die Sache dann und wann zu arg, und wie er die Eilike traktiert, das hat sie Ihnen eben selber vorgetragen. Ein altes Vieh bin ich nicht, wie eben meine Witwe da draußen brummt, und wenn ich einmal den Polyphem herauskehre, so hat das gewöhnlich seine guten Gründe. Eilike, mein Herz, wie oft hab ich es dir verboten, von den Leuten Geld zu nehmen!«
»Oh, sie geben es mir aus gutem Herzen.«
»Und aus Mitleid«, ächzte Scholten. »Das ist der Jammer, und – der Querian gehört doch ins Irrenhaus. Du aber nimmst es aus Dummheit, mein Kind, und so muß ich auch das gehen lassen, wie es geht. Es ist, um sich die Haare auszuraufen!«
Die Frau Salome von Veitor hatte selten in ihrem Leben die anderen Menschen so lange allein reden lassen. Jetzt jedoch hielt sie es nicht länger aus, und es war ihr eigentlich auch nicht zu verdenken, wenn sie endlich eine genauere Einsicht in die Umstände der Leute wünschte, deren Bekanntschaft sie in so absonderlicher Art machte.
»Wenn ich hier nicht in die Höhle des Polyphemos geraten bin, so ist's vielleicht die Grotte des Trophonios. Nun warte ich aber mit Schmerzen auf die kluge, geheimnisvolle Stimme aus dem Dunkeln, Justizrat. Und auch der Esel draußen vor der Tür wird allgemach ungeduldig, und ich bin es gewohnt, auch auf ihn einige Rücksicht zu nehmen.«
Sie sagte das letztere lachend, aber es zitterte doch eine ganz andere Bewegung in der Stimme, mit welcher sie hinzusetzte:
»Was dieses Kind ist, sehe ich. Wie es geworden ist, kann ich[326] mir in hundertfacher Weise vorstellen. Wie da zu helfen wäre, kann ich mir auch auslegen; – im Grunde ist da noch wenig versäumt und verloren. Aber wer und was ist dieser unheimliche Herr mit dem verqueren Namen? Querian! Hat je ein Mensch ein ehrlich Handwerk getrieben, ein Geschäft gemacht oder in der Gelehrsamkeit es zu etwas gebracht mit einem Namen wie dieser?«
»Nein«, erwiderte der Justizrat, »und deshalb hat der Unglückliche es in der Kunst versucht, und es ist bis dato ihm auch damit nicht geglückt, wenngleich dieses noch am ersten das Feld war, worauf er Querian heißen konnte. Ein Doktor Querian, ein Pastor Querian und ein Geheimrat Querian sind freilich vollkommen unmöglich. Weshalb hieß der Tropf nicht Scholten und brachte es zu einer anständigen Stufe auf der Leiter bürgerlicher Respektabilität?!«
»Also Mr. Shandy hat da wieder einmal recht?«
»Wieder einmal, Gnädige; aber: ›nomina omina‹ sagen schon die Lateiner. Was die Eilike angeht, so habe ich da eine homöopathische Kur gebraucht und den Haus- durch den Taufnamen heruntergedrückt. Als Eilike Querian kann man es am Ende doch noch zu etwas bringen, sowohl im Romane wie im gewöhnlichen Leben. Nicht wahr, mein Kind, es wird doch noch etwas aus uns, und die Sonne scheint uns nicht nur in den Mund, sondern auch in das Herz. Ein wenig Hunger dann und wann bewirkt nur, daß wir den Mund ein wenig weiter aufsperren –«
»Die Witwe Bebenroth darf uns dann aber nicht zu häufig zwischen das Glück und unseren Instinkt oder Appetit geraten. Lieber Freund, was die Sonne anbetrifft, so ist dieselbe heute bereits seit einiger Zeit untergegangen, und ich habe, wie Sie wissen, noch einen ziemlichen Weg nach Hause vor mir. Was treibt, was schafft Ihr kurioser Freund und Gevatter? Es wird Dämmerung, und ich habe über keinen Hippogryphen zu verfügen, der mich aus diesem Reiche der Romantik in meine modernen, nüchternen vier Pfähle zurückbringt.«
»Er bildet Menschen, Frau Salome. Machwerke, die von ferne so aussehen, in der Nähe aber immer ein wenig anders. Es würde[327] aber ein eigener Geschmack dazu gehören, mit seinen Kreaturen Haus und Garten zu bevölkern. Sie haben es gehört; er hat wieder einmal sein Kind nackt abgebildet; – nun sage, Eilike, hast du dich da wiedererkannt, und hast du dir gefallen?«
Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf und schauderte wie in einem unüberwindlichen Grauen.
»Es war das, weshalb ich aus dem Fenster sprang. Es war nicht der Hunger. Ich will leben und möchte auch ein schönes Kleid haben wie die schöne Dame. Er aber bildet mich tot ab. Oh, ich wollte, ich wäre tot; aber dann auch begraben und mit grünem Gras und Blumen auf meinem Grabe; dann brauchte ich mich nicht mehr zu fürchten und zu schämen!«
»Scholten?!« rief die Frau Salome, zusammenschauernd wie eben Eilike Querian. »Oh, das unselige Geschöpf! Und Sie dulden das? Sie ertragen es, derartiges in dem Tone sich sagen zu lassen?«
»Prometheus im Dorf! Ein Tropfen vom Blute der Götter, Madam«, sagte der Justizrat finster.
»Oh, und Sie haben mehrmals den Versuch gewagt, mich über das unglückliche Kind lächeln zu machen! Der Himmel verzeihe das Ihnen. Aber ich will diesen Mann kennenlernen! Wenn er Geld haben will, soll er es haben. Er soll mir heraus! – Wenn er ein Künstler – ein Bildhauer ist, soll er weg von hier – einerlei wohin – nach Italien – nach Rom, und mir soll er sein Kind lassen. So antworten Sie doch, Scholten; sagen Sie etwas, sprechen Sie doch!«
Der Justizrat war aufgestanden und ging in der Stube auf und ab. Nun blieb er vor der Frau Salome stehen und sagte mit einer Stimme, die ob der Rührung nur noch schnarrender wurde:
»Ich würde es da nicht zum erstenmal erfahren, daß Ihnen der Gott Abrahams in Fällen Gedeihen gibt wo andere Leute unfehlbar und ohne Gnade fehlgreifen. Wissen Sie was? Ich will in dieser Nacht einmal nach Pilsum schreiben. Darf ich Ihnen übrigens jetzt noch die Hand küssen, teure Freundin?«
Er tat das letztere und behielt diese Hand dann noch mehrere Augenblicke zwischen seinen Händen. Eilike Querian aber sah[328] und hörte dem allen zu. Der Esel vor der Tür aber wurde nun in der Tat recht ungebärdig, zog an seinem Zaume, scharrte und stampfte und ließ Töne hören, die dem Kinde sehr spaßhaft vorkamen und über die es leise, aber doch sehr herzlich lachte.
Ausgewählte Ausgaben von
Frau Salome
|
Buchempfehlung
»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818
88 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro