16

[241] Furchtbare Worte, Briefe und Blicke sollen zwischen den beiden gewechselt worden sein. Aber darüber sind natürlich keine Einzelheiten bekannt, sondern es dringen nur vage Gerüchte an die Öffentlichkeit, auch über Delius' letzten Besuch im Hause Hofmann – kurz darauf habe er in einem zeremoniellen Handschreiben jede weitere Beziehung für gelöst erklärt. Das Schreiben war in altrömischen Lettern auf Pergament gemalt und mit einer purpurnen Schnur umwunden, an welcher ein umfangreiches Wachssiegel hing. Überreicht wurde es durch einen Soldaten, den Delius sich in Ermangelung eines römischen Söldners aus der städtischen Kaserne geholt hatte. Es heißt auch, der Vorfall mit der Lampe sei noch einmal zur Sprache gekommen, die Frau Professor sei zwar bei ihrer Behauptung geblieben, daß sie nur die Ölflecken gefürchtet habe, Delius aber fasse die Sache nach wie vor von kosmischen Gesichtspunkten aus auf.

Ich hörte denn auch sagen, abgesehen von allem anderen wäre die Art, wie dort der Meister geehrt wird, schon lange ein Punkt gewesen, über den man sich nicht einigen[241] konnte. Hallwig und Delius wollten nur Götter und Mysterien so geehrt wissen, nicht aber einen sterblichen Dichter, selbst wenn er noch so würdig sei, bei Festen oder kultischen Handlungen voranzuschreiten – es dürfe sich dennoch keiner vermessen, in Wahnmoching der Erste sein zu wollen. Und auch das soll Hofmann heimlich angestrebt haben, wenn auch nicht für sich, sondern eben für den Meister.

Wer recht, wer unrecht hat, was in diesem Labyrinth von Konflikten billig oder unbillig ist – wer wollte das ergründen? Man hat ja auch, wie mir der Philosoph einmal sagte, in Wahnmoching von jeher das Licht der Vernunft verschmäht und ein mystisches Dunkel vorgezogen.


Die Beunruhigung der Gemüter ist aufs höchste gestiegen. Bleich und verstört sieht man den Professor umhergehen, verängstigt, aber immer noch mit dem fanatischen Blick die Jadwiga, finster den Rabbi und wehklagend die Kappadozierin. Hallwig selbst bleibt wie immer unsichtbar, aber ich begegnete verschiedentlich Delius auf dem Wege nach seiner Wohnung, die jenseits der kosmischen Wiese liegt. Er hüllte sich dicht in seinen Mantel, der immer mehr einer Toga gleicht, und ging verschlossen seiner Wege, als ob er zu einer Verschwörung eilte. Man sagt, daß die beiden jetzt eine letzte und endgültige Auslese träfen, denn das Kapital für die heidnische Kolonie stehe ihnen tatsächlich zur Verfügung. Delius habe eine Liste der in Betracht kommenden Teilnehmer aufgesetzt, aber Hallwig fast alle Namen wieder gestrichen. Denn seit der Zionismus hereingespielt hat, ist er sehr mißtrauisch und hält fast[242] alle für Juden – selbst Heinz, weil dieser sich gegen die Behandlung des Sonnenknaben, als seines Vetters, aufgelehnt hat.


Und auch Maria ist nun gerichtet. Man stellte sie noch einmal vor die Wahl, mit allen zu brechen, die ihre einst gepriesene heidnische Seele gefährden – seien es gewesene Sonnenknaben, Verräter mit zionistischen Tendenzen oder nur friedfertige Vampire (der Vampir steht noch eine Stufe tiefer als der Molochitische, denn ihm fehlt die zersetzende Kraft, dafür nährt er sich von den enormen Substanzen anderer. So gilt zum Beispiel Willy für einen Vampir, warum weiß niemand, und er selbst spricht nicht gern darüber. Deshalb ist auch das ganze Eckhaus mit einbezogen).

Wir waren alle beisammen, als das Schreiben, welches diese Bedingungen enthielt, abgegeben wurde; wir saßen dabei, während Maria es las und Susanna über ihre Schulter mit hineinsah, denn der Panther hatte es abgefaßt. Man hat ihm das Ressort der Katastrophen und Brüche übertragen. Aber Maria hatte ihren großen Moment, sie sagte: nein, das könne sie nicht.

Dann hatten wir ihretwegen noch schwere Stunden zu überstehen. Sie entschloß sich am Abend, noch einmal zu Hallwig zu gehen und ihn zur Rede zu stellen. So kalt und offiziell durch einen Brief von fremder Hand wollte sie nicht mit diesem Teil ihres Lebens abschließen. Äußerlich war sie sehr ruhig, trotzdem fühlte man, daß eine furchtbare Spannung in ihr war, und Chamotte erzählte uns später, sie habe vor dem Fortgehen einen von Orlonskys spanischen Dolchen von der Wand genommen und zu sich gesteckt.[243]

Gegen Mitternacht kam sie zurück, warf den Dolch auf den Tisch und sagte: »Nein – es ist nichts daraus geworden, es war die ganze Zeit jemand im Nebenzimmer. Und überhaupt – man stellt sich das doch anders vor.«

Mehr erfuhren wir nicht über diese letzte Unterredung. Daß wir das alles so selbstverständlich und ohne besondere Verwendung hinnahmen – bei den unheimlichen Gerüchten, die seit der Affäre Konstantin und seit den letzten Ereignissen umgehen, haben selbst die nüchternsten Köpfe sich gewöhnt, nichts mehr für unmöglich oder untunlich zu halten.

So kam dieser Tage Hofmann zu mir, wir machten einen längeren Spaziergang, und er sprach auch über dieses Thema. Ich wunderte mich erst darüber, aber er sagte, man halte mich für durchaus vertrauenswürdig – er selbst habe von Anfang an dieses Gefühl gehabt.

Und seine Mitteilungen – nun, er vermutet, und mit ihm seine nächsten Freunde, daß von Hallwigs Seite Entsetzliches gegen ihn geplant war: man werde ihn vielleicht auf mysteriöse Weise verschwinden lassen, seinen Geist verwirren oder ihn ums Leben bringen.

»Aber lieber Professor, das ist doch nicht so einfach«, wandte ich ein. Er sah mich von der Seite an:

»Einfacher vielleicht, als Sie glauben, Herr Dame – wissen Sie, daß jener Petersen kürzlich geäußert haben soll, er wisse siebenundzwanzig Arten, wie man einen Menschen unbemerkt aus der Welt schaffen könne? Und denken Sie nur an den Fall Konstantin; sicher wurde auch dabei ähnliches beabsichtigt. Es gibt heidnische Ritualmorde, die vor allem an Verrätern vollzogen werden – und man hält mich ja dort für einen Verräter[244] – mich«, lachte er bitter auf, »mich, der für unsere Sache freudig sein rotestes Herzblut hingegeben hätte!«

»Davon sind wir alle überzeugt«, sagte ich tröstend. »Wer – wir?«

»Nun, ich, die Mädchen im Eckhaus und...«

Hofmann sah mich warm an: »Ich danke Ihnen – es sind wundervolle Frauen, die beiden.«

Dann zeigte er mir seinen Spazierstock – einen schönen Stock mit silbernem Griff und eingelegten Topasen. »Sehen Sie, lieber Dame, ich kann Ihnen nicht sagen, warum, aber ein erfahrener Freund hat mir dringend angeraten, mich dieses Stockes zu entledigen – es spielt da eine symbolische Bedeutung mit. Ich habe ihn eigens deshalb heute mitgenommen, raten Sie mir nun, wie ich ihn beseitigen soll, aber so, daß er nicht wieder aufgefunden wird.«

Wir gingen gerade hinter dem Stadtgarten an einem schmalen Flüßchen entlang, und ich schlug vor, ihn ins Wasser zu werfen. Das leuchtete ihm auch ein, wir blieben stehen, Hofmann schwang den Stock ein paarmal um sich selbst, schleuderte ihn dann aber, wie uns beiden schien, zu weit, denn wir sahen ihn nicht fallen und mußten annehmen, daß er jenseits des schmalen Flusses in einem der drüben gelegenen Privatgärten gelandet sei.

Bestürzt sahen wir uns an: »Das ist ein böses Omen«, stammelte Hofmann; er war einen Moment ganz außer Fassung.

Ich erbot mich, in der Villa drüben anzufragen, aber er sagte, nein, auf keinen Fall, er wolle ihn nicht noch einmal in Händen haben. Noch schlimmer sei es allerdings, wenn er in den Besitz von jemandem gelange, der ihm[245] übelwolle. Dieser Gedanke schien ihm sehr viel Sorge zu machen. – In beklommener Stimmung traten wir den Heimweg an, und ein diesmal wirklich rätselhafter Zufall wollte es, daß wir dicht bei Hofmanns Wohnung Petersen begegneten. Er ging auf der anderen Seite der Straße, warf einen scharfen Blick herüber und ging ohne zu grüßen weiter. Hofmann hatte ihn glücklicherweise nicht gesehen, aber ich kann nicht leugnen, daß ich mir meine Gedanken darüber machte, und diese Gedanken waren düsterer Natur.

Es liegt nicht in meiner Art, irgend etwas leicht zu nehmen, aber jetzt habe ich manchmal ein Gefühl, als ob alle diese Dinge doch noch viel ernster und furchtbarer seien, als ich bisher ahnte. Ich bin auch nicht feige, aber Petersens Blick ging mir durch Mark und Bein. Er wird jetzt wohl denken, daß ich ganz auf Hofmanns Seite stehe. Und wenn ich es täte, wenn ich ihm wie an diesem Morgen mit Rat und Tat beistehe – wird man dann nicht auch mich mit in sein Schicksal verwickeln?

Und noch andere bange Fragen bestürmen mich – ich habe viel persönliche Sympathie für ihn. Ob er wirklich Verrat geübt hat, weiß ich nicht zu beurteilen, und dennoch möchte ich nicht zu denen gehören, die in dieser vielleicht noch für spätere Jahrhunderte bedeutsamen Angelegenheit eine zweifelhafte Rolle spielen.

Selbst wenn meine eigenen Hoffnungen bei diesen letzten Katastrophen wohl mit untergegangen sind...

Ja – das Kapital für die Heidenkolonie soll jetzt da sein. Aber wo sind die Heiden? Allgemein wird die Vermutung laut, daß zuletzt nur Hallwig und Delius übrigbleiben und den Rest ihres Lebens an einsamen Altären vertrauern werden.


[246] Im Mai...


Mein Roman – ich fürchte, er wird nie geschrieben werden. Es bedürfte wohl einer geübteren Hand als der meinen, um aus dem, was ich hier erlebte und erleben sah, eine nur halbwegs zusammenhängende Handlung zu gestalten. Und selbst, wenn ich es könnte – es kommt mir vor, als ob der Leser sich um den Höhepunkt der Handlung, den er doch dazu mit gutem Recht erwartet, betrogen fühlen würde. Denn ebendieser Höhepunkt ist nie gekommen – es war alles schon vorher zu Ende.

Der Höhepunkt würde fehlen, und die letzten Kapitel würden ihn schmerzlich anmuten. Ich weiß ja selbst noch nicht, wie ich sie überstehen soll.


Alle gehen fort – auch die Eckhausbewohner gedenken Wahnmoching auf unbestimmte Zeit zu verlassen. Sie luden mich aufs herzlichste ein, mitzukommen, aber ich fühle nicht mehr die Kraft dazu.

Ich weiß jetzt auch, daß Susanna mich niemals lieben wird – ihr Herz wird immer irgendeinem anderen gehören. Jetzt blutet es noch um den Panther, der sie schnöde verlassen hat; aber als ich seiner neulich Erwähnung tat, fand sie ihr altes frohes Lächeln wieder, das ich so sehr an ihr liebte, und sagte zuversichtlich: »Oh, der kommt schon wieder.«

Sendt ist wieder da, unversehrt, wohlbehalten und mit dem heiteren Lächeln des Weisen stand er plötzlich vor uns.

Wir saßen gerade im Garten des Eckhauses um die Maibowle, die Orlonsky mit kundiger Hand bereitet. Wir feiern alle Tage Abschied, denn keiner weiß, wann er[247] wirklich abreisen wird, und jeder Tag kann der letzte sein.

Orlonsky stellte wie jeden Abend die Bedingung, daß von den Wahnmochinger Ereignissen nicht mehr geredet würde, aber kaum hatten wir die ersten Gläser getrunken, so sprachen wir von nichts anderem.

Maria sah leidend aus, ihre Augen lagen tief in den Höhlen.

»Und doch«, sagte sie, »und doch – ich werde mich niemals damit abfinden, daß alles das vorbei ist.«

Susanna faßte schwesterlich ihre Hand: »Wenn wir wieder hier sind, wohnst du ganz bei uns.«

»Ja – und dann?«

»Oh – einfach vergessen«, sagt Susanna, »man hat uns übel mitgespielt, und es wird besser sein, wir halten uns in Zukunft nur noch an Zinnsoldaten.«

In diesem Moment wurde die Glocke gezogen. Wir fuhren in die Höhe – sollte der Panther – sollte unser letzter Abend – sollte...

Aber es war der Philosoph, und er begriff nicht gleich, weshalb man ihn umringte, begrüßte und mit Fragen überhäufte wie einen Totgeglaubten. Es stellte sich dann heraus, daß er nur eine Frühlingsreise gemacht und nicht mehr die Zeit gefunden hatte, sich zu verabschieden.


10. Mai


Ich habe mich entschlossen, eine weite Auslandsfahrt anzutreten. Was sollte mich hier jetzt noch zurückhalten? Im Gegenteil – manchmal beschleicht mich eine Ahnung, als ob auch meiner irgendein grauenvolles[248] Schicksal harrt, wenn ich bleibe. Ich war noch oft mit Hofmann zusammen, und wenn ich an den Blick denke, den Petersen mir damals zuwarf... Es heißt wohl, daß niemand seinem Geschick zu entrinnen vermag, aber man kann es doch wenigstens versuchen. Chamotte schicke ich in seine Heimat zurück – ich will ganz allein sein und nichts aus der Vergangenheit mit hinübernehmen. Er weinte bittere Tränen, als ich ihm das mitteilte.

»Sei ein Mann, Chamotte, und denke an deine Zukunft«, sagte ich, und mir war elend zumut. Könnte ich auch mir dasselbe zurufen, oder täte es ein anderer – aber in beiden Fällen wäre es ja doch nur grotesk und überflüssig. Und meine Zukunft? – Ich habe keine Zukunft, ich habe nur eine Biographie, und verurteilt, wie ich kam, gehe ich von dannen; wozu? – das wissen nur die Götter.


In wenigen Tagen ist alles bereit. Susanna und ihre beiden Gefährten sind schon fort. Auch Maria wird nicht lange mehr bleiben.

Sie hat in den letzten Tagen ein Faible für mich gefaßt, aber wir wissen beide, daß es jetzt zu spät ist.

Manchmal kommt sie zu mir herauf, dann sitzt sie auf einer von den halbvollen Bücherkisten und erzählt von alledem, was sie nicht vergessen kann. Und wir sprechen von den vielen frohen und unfrohen Stunden, die uns gemeinsam beschieden waren.

Heute abend denke ich abzufahren.

Und gestern...

Sendt kam noch, um mir Lebewohl zu sagen. Er war sehr in Eile und wollte sich nicht erst niederlassen. Wir[249] schüttelten uns herzlich die Hand, und er wünschte mir alles Gute. An der Tür wandte er sich noch einmal um und sagte: »Übrigens, wissen Sie, was ich eben im Café hörte – man hat Hofmann heute vormittag ins Krankenhaus gebracht, er soll auf der Treppe ausgeglitten sein und sich mit einem scharfen spanischen Dolch, den er in der Tasche trug, ziemlich schwer verletzt haben. – Aber, liebe Maria, deshalb brauchen Sie doch nicht so zu erschrecken, es ist, soviel ich weiß, nicht lebensgefährlich.«

Maria hatte sich von ihrer Bücherkiste erhoben und sah ihn ganz entsetzt an.

»Der Dolch«, sagte sie dann mit stockender Stimme, »den Dolch hab' ich ihm doch zum Abschied geschenkt – es war derselbe, den ich damals mitnahm, um Hallwig...«

Ich verstand wohl, was sie meinte, und Sendt schien es auch zu ahnen, denn er zog die Augenbrauen in die Höhe und sah nachdenklich drein. Ein leises Grausen faßte mich, und unwillkürlich sprach ich aus, was mir – und vielleicht auch den anderen – in diesem Augenblick durch den Sinn fuhr:

»Um Gottes willen – sollte Hallwig am Ende doch schon der Zauberei mächtig sein...«

»Mirobuk!« sagte der Philosoph und lächelte eigentümlich. Und ehe wir uns noch recht besonnen hatten, war er gegangen.

Quelle:
Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. München 1976, S. 241-250.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Herrn Dames Aufzeichnungen
Herrn Dames Aufzeichnungen. SZ-München Bibliothek

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die beiden Schwestern Julchen und Lottchen werden umworben, die eine von dem reichen Damis, die andere liebt den armen Siegmund. Eine vorgetäuschte Erbschaft stellt die Beziehungen auf die Probe und zeigt, dass Edelmut und Wahrheit nicht mit Adel und Religion zu tun haben.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon