Vierte Szene

[91] Vorige. Erster Wächter. Zweiter Wächter.

Erster und zweiter Wächter kommen beladen herauf.


ERSTER GEFANGENER. Zwanzig Jahre keine Weiberhand mehr gehalten. Wo ist meine Frau geblieben? Meine Schwester ist tot. Ich stand alle Tage zwölf Stunden an der Maschine. Ich habe für euch gedacht! Sind wir endlich da? Ich will vergessen, was war, lasse mir die Sonne in die Augen brennen. Dieser Geruch vom Wasser her, ich kenne das nicht. Sind wir frei? Umschlingt mich, preßt eure Arme um mich, und dann hinein in alle Börsensäle der Welt, die Banken gesprengt, unsere Brüder befreit! – Springt mit mir unter die Geldherren, jedes Wort erstickt, das noch mit Gelddienst über die Telegraphendrähte läuft![91]

ZWEITER GEFANGENER. Ich wußte es immer, es gibt keinen Besitz! Wir gehören uns alle. Ich bin schwach. Ich habe nie in der Freude gelebt, seit meiner Jugend hab ich Pläne entworfen. Aber ich weiß heute, es gibt eine Freude, vielleicht kann ich allen helfen. Wollt ihr, daß ich für euch tanze? Ich bin alt. Meine Knochen sind weich vom Gefängnis. Soll ich unter euch springen, bis wir den Himmel herunterholen? Daß ich frei bin! Nun müssen alle frei sein!

ERSTER WÄCHTER. Trinken, Brüder, hier! O ich weiß es, wie man die Gefangenen herausholt, vielleicht hab ich darum mein Leben lang die Mauern um mich gehabt. Zusammen mit euch brennen wir wie ein Blasfeuer die Zuchthäuser nieder, unsere Brüder sind frei!

ERSTER GEFANGENER zum ersten Wächter. Ist das nicht deine Tochter, die da am Schiffsrand steht, als wollt sie in die Sonne fliegen?

ERSTER WÄCHTER. Tochter? Ich fühl's kaum mehr. Sie geht so hoch und gerade, ist etwas Feines geworden, nicht mehr zu erkennen von früher; meine Tochter war anders. Die sieht keinen Menschen mehr, schaut durch mich hindurch, daß ich mich oft vor Schreck umdrehe und hinter mich blicke. Sie hört mich schon lange nicht mehr. Aber ich hab ihr nichts zu sagen seit meiner eigenen Flucht!

NAUKE erhebt sich halb, die Hand hohl vor den Augen. Ein Schiff! Ein Schiff an der Flußmündung, dort hinten, in der Ferne.

DER MANN. Wir sind nicht mehr allein auf dem Wasser!

DER OFFIZIER. Ein Schiff. Zu Anna. O sprich, eh ich mit meinen Küssen zu dir falle, sag es mir. Hinauf auf das Schiff. Wünsch es von mir, verlang das! Wir springen von einem Verdeck aufs andere. Nieder mit der Besatzung, wir holen an Bord, was wir finden![92]


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 91-93.
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