Ludwig Rubiner

Nachwort zu

»Die Gemeinschaft«

Warum wird noch Blut vergossen? Warum wälzt sich Mord über die Welt, ungeheurer, teuflisch grausamer in diesem internationalen Riesenbürgerkrieg aller Länder, millionenmal wüster als im großen Staatenkriege? Aber dieser geregelte Staatenkrieg war in Wirklichkeit nur das dumpfe, aus trübem Ahnungsdunkel kommende Vorspiel zum heutigen Weltrevolutionskrieg. In Wahrheit setzte hier der erste Stoß einer noch organisierten Riesen-Selbstabschlachtung des Weltkapitalismus ein. – Gewalt kämpft heute gegen Geistiges, überall auf der Erde. Gewalt, die Anhäufung der Trägheit; Gewalt, der Ausdruck leichnamhaften Besitzaberglaubens; Gewalt, Zerfaulendes, ausgelaugt Entwertetes, Zerfallendes, das sich gegen die unaufhaltsame Verwesung, gegen den Zerfall, gegen seine Wertlosigkeit, gegen seinen eigenen Tod erbittert wehren will, indem es den jungen keimenden Wesen kräftigeren Lebens den Tod geben will: Die alte Welt kämpft gegen die neue. Der Besitz gegen die Ablehnung des Besitzes. Ausbeutung gegen die Arbeit. Das Kapital gegen das Proletariat. Das Bürgertum gegen das Schöpfertum.

Dieser Revolutionskampf ist ein riesenhafter Weltprozeß. Hier wird nicht mit einem Schlage gesiegt, durch Schlachten oder durch eine Losung, sondern in allen Beziehungen des menschlichen Lebens, unter Milliarden Wesen tritt Durchdringung mit der Kampfkrisis auf. Die Weltrevolution ist eine Weltkrisis. So wie es schon im ablaufenden Nebeneinander der menschlichen Geschichte Weltkrisen gab, die eine sterbende und eine junge Erdgeneration schieden. Wie – uns gerade noch dämmerhaft zugänglich – im dritten Jahrtausend vor Christus die Krise einer Welt um den Kulturkreis des alten Orients ausgekämpft wurde. Im sechsten Jahrhundert vor Christus die neue Krise gegen jene zur hieratischen Macht erstarrte alte Welt – die kommunistische Bewegung über China, Indien, nach Europa, das geistige Bett zur Vorbereitung des Christentums. Im[329] dritten Jahrhundert nach Christus der Zusammenbruch der Antike in der Völkerwanderung, und der Beginn einer unterirdischen Geschichte des Sozialismus: die Geschichte der Ketzergemeinden. Und geht man auf den Mythos zurück: die Sintflut; und Atlantis, die inmitten wilden, dummen Lebens versank – Mythos der Weltkrise, darnach durch Chaos der Versuch begann, das Leben einfach, in Gemeinschaft neu zu bauen. Doch allein festzustellen, daß der Ablauf der heutigen Weltrevolution Ausdruck der neuen Jahrhundert-Weltkrise ist, genügt nicht. Nach dem Inhalt der Weltkrise muß gefragt werden.

Die alte Kulturmasse, die abgebaut wird, ist, mit dem Vorgange des Abbaus, von komplizierter Gestalt. Die Vergangenheit, diese Häufung von unendlich vielen Einmaligkeiten, die Vergangenheit, die kämpfende und bekämpfte, ist wie jedes Zersetzungsgebilde kompliziert. Aber der Weg der Zukunft, dieser ewige Weg, der lebentragende Weg über Jahrhunderte hin, ist einfach. Der Inhalt der weltändernden Antriebe für das Handeln der Menschen ist von mächtiger Einfachheit. Diese Einfachheit gilt es. Der Inhalt der Weltkrise, ihr Ausgangspunkt und ihr Ziel, ist die Erde. Überhaupt, zugedeckt im Licht mit Hochstockwerken von Betrieben, unter Tage ausgepumpt, ausgekratzt, ausgeschöpft scheint diese Erde, überzogen mit einer Kulturkruste, die nur zustande kommt, um Generationen Erdgeborener von der Erde zu vertreiben, von der Erde fernzuhalten, im Kultur-Vakuum arbeiten zu lassen, ohne je Berührung dieser Arbeiter mit dem Endziel ihrer Arbeit zu dulden. Und dann bricht in den Menschen das Bewußtsein ihrer Erdabkunft durch. Der Kampf um die Erde beginnt. Der Wille, teilzuhaben an der Bestimmung der Erde. Eine Gewißheit, die nicht zu morden ist, steht in den Massen da: Die niedergehaltenen Mitmenschen, die Sklaven, die Arbeitenden sind die wahren Erdsöhne, die Schöpfer dieser Welt. Und sowie im Neben- und Nacheinander der Geschichte, in jedem der großen Kulturkreise ein Aufstieg und ein Zusammenbruch des Kapitalismus sich vollzieht, in der geschichtlichen Idee gleich, nur in der Form im Zivilisationsausdruck, in der zeitlichen Ideologie verschieden, gemäß den durch Jahrtausende voneinander entfernten und verschiedenen Verkehrsformen, Produktionsformen,[330] Lebensformen – so neigt sich der Kapitalismus unseres Kulturkreises seinem Ende zu unter dem heutigen Willen der Massen: Die schöpferischen Mittel der Erde in allen Händen der Schöpfer zu wissen; die Arbeitsmittel in den Händen der Arbeiter; die Produktionsmittel in der Verfügung und Bestimmung der direkt Produzierenden: Und die sind heute international die Proletarier dieser Erde.

Das Vergehende und Absterbende sieht nicht ein, daß es am Tode ist. Es meint, von einer Schar Gewissenloser und von einer Masse Dummer angegriffen zu sein. Die bürgerliche Welt will nicht gestehen, daß sie selbst, ebenso geschüttelt wie das Proletariat von dem neuen Bewußtsein der Erdzugehörigkeit – nur im teuflisch entgegengesetzten, im Besitzersinne –, der Angreifer ist und das Riesenmetzeln, den Anfang des eigenen Todes, begonnen hat. Und nur in den Minuten aufsteigender Wachheit ahnt das Bürgertum den Weltzusammenbruch und die Zukünftigkeit der proletarischen Forderung. Dann erhebt sich, als letztes Kampfargument des Kapitalismus, der Schrei: Die Kultur geht zugrunde, wenn die proletarische Kultur siegt.

Was ist der Inhalt der zugrunde gehenden Kultur? Was verlieren wir beim Verlust dieser Kultur des Bürgertums, Kultur des Kapitalismus? Es ist eine Kultur nicht der Schöpfung, sondern der Wiederholung. Der Besitz, das materielle Leben, ist eine ungeheure Angelegenheit von Addition und Subtraktion, die Fülle des Lebens ist nur Fülle des Besitzers; wird die Masse des Besitzers größer oder kleiner, der Besitzer bleibt; die Starre, die Leichenstarre dieser Zivilisation bleibt. Das geistige und das seelische Leben, das einfache lebenswerte Leben des Menschen ist leer. Leer von Ideen, denn die Ideen sind ersetzt durch die Tatsachen des gegebenen Besitzers; leer von Willensimpulsen, denn an ihre Stelle tritt der mächtige Zwang der Besitzwirtschaft, und an Stelle menschlichen Antriebs um der Menschlichkeit willen tritt als Ersatz die Konkurrenz um der Gesellschaft willen. Die Wissenschaft dient dem Besitz: Ein guter Chemiker oder Physiker wird von dieser Kultur ein Forscher genannt – nicht, der gut ist und dessen Ergebnisse Lebenseinsicht und Lebensweg der Menschheit klären und vereinfachen, sondern der Hilfsmittel findet, um den Besitzerkampf[331] erfolgreicher zu machen. Der Dichter gilt als gut, wenn er die Empfindungen dieser Gesellschaft darstellt. Der Musiker, wenn er ihre Gefühle erregt und betäubt. Der Maler, wenn er den Lebensraum dieser Gesellschaft bejaht, schmückt oder aus ihr persönliche Konstruktionen zum wissenden Genuß ihrer hochbezahlenden Kapitalsherrscher herausholt. Der Denker gilt als groß, der ihre Notwendigkeit und die aller ihrer Diener erweist. Sie alle leben auf dem Riesenberge des Kapitalismus, und diese Kultur, um deren Verlust man so zittert, ist eine Parasitenkultur. Sie ist leer. Tragt ihren Berg ab, und von ihren Werken bleiben die hohlen Gehäuse, die in sich zusammensinken.

Der Sinn des Kampfes um die Zukunft ist Schöpfung. Schöpfung um des Schöpfers willen, des Menschen. Nicht der Besitz und sein Betrieb ist mehr die Mitte der Welt, sondern der Mensch. Die Gemeinschaft der Erde arbeitet für den Menschen; je inniger verbunden der Mensch mit der Arbeit ist, je mehr er ihr Resultat, vom Anbeginn an, ganz real im Gesamtsinne beherrscht, um so mehr Kraft und Raum hat sein Leben. Es ist eine neue Generation in der Welt, in allen Ländern, die das weiß. Sie weiß es nicht aus Verzweiflung oder aus Gier nach Begriffen, sondern aus der tiefen Verbundenheit mit dem Wiedererwachen der Kräfte, die überall sich auf ihre Erdkindschaft besinnen. Dieses junge Geschlecht, ganz geistig an das Ziel hingegeben und ganz real kämpfend, hat mit der alten Kultur abgeschlossen; ihr Schicksal geben diese Menschen für die Gemeinschaft: Eine neue Grundkrise der Welt brennt in ihrem Leben. Ihre Musik ist der Gesang der Gemeinschaft. Ihr Gedicht ruft auf zur Gemeinschaft. Ihr Epos ist die Anleitung zur Gemeinschaft. Ihr Drama entwirrt das Handeln für die Gemeinschaft. Ihr Bild ist das Vorbild zum Leben in der Gemeinschaft. Ihre Wissenschaft ist das Denken von der schöpferischen Gemeinschaft.

Aber noch die Schöpfung ist endlich, vergänglich, zeitlich. Unvergänglich, ewig ist uns der Schöpfer, der Mensch. Für ihn geht der Kampf um die Erde. Aus dem Trümmerhaufen der letzten, großen, nun abgewelkten Jahrtausendschöpfung der Menschheit steigt unvergänglich, unsterblich, neu der Mensch. Das ist der Inhalt der Weltkrise. –[332]

Plato läßt im dritten Buch vom »Staat« den Sokrates einen uralten, östlichen Wahrheitsmythos aussprechen: »Ich möchte den Mut haben und die richtigen Worte finden, um die Regierenden und die Krieger und auch alle übrigen Bürger zu überzeugen, daß das eigentliche Erziehungs- und Bildungswerk, das wir an ihnen taten, kurz alles, was sie zu erleben glaubten und an sich vorgehen sahen, nur gleich einem Traum war, während sie selbst in Wahrheit tief drinnen in der Erde geschaffen und geformt wurden; und auch ihr ganzes Rüstzeug stammt daher. Nun sie aber vollständig fertig da sind und die Erde, ihre Mutter, sie im rechten Augenblick heraufgesandt hat, müssen sie für die Erde, also für ihre Mutter und Bildnerin, mitgan zer Kraft einstehen, denn ein Feind tritt auf. Und sie müssen unter den übrigen Mitmenschen die Gesinnung des Wissens haben, daß auch die ihre Brüder und gleichfalls Erdgeborene sind.«

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 329-333.
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