[Man sagt, der Liebe Fürst sei]

Man sagt, der Liebe Fürst sei

An Treue leer; doch Trug ist's.

Man sagt, dass ohne Morgen

Dein Abend wär'; doch Trug ist's.

Man sagt, du woll'st aus Liebe

Dir selbst das Leben rauben,

Und nach dem Tode gäb' es

Kein Leben mehr; doch Trug ist's.

Man sagt, vergebens fliesse

Der Liebe heisse Zähre,

Und ist das Aug gebrochen,

Sei Dauer schwer; doch Trug ist's.

Man sagt, wenn wir getreten

Aus dieser Zeiten Kreise,

Kehr' unser Geist vom Jenseits

Wohl nimmermehr; doch Trug ist's.

Es sagen jene Leute,

Die nie ein Wahnbild schreckte,

Prophetenworte haben

Wohl nie Gewähr; doch Trug ist's.

Es sagen jene Leute,

Die krumme Pfade wandeln,

Nie führ' ein Pfad den Diener

Zu Gottes Meer; doch Trug ist's.

Man sagt, der Herzenskenner

Gäb' vom verborg'nen Jenseits

Nie ohne Mittler Kunde

Dem Dienerheer; doch Trug ist's.

Man sagt, dem Diener berg' er

Geheimnisse des Herzens,

Ihm, dem er nie des Himmels

Genuss bescheer'; doch Trug ist's.

Man sagt, der Sohn des Menschen,

Geformt aus Erdenstaube,

Nie mach' mit Himmelsbürgern

Bekanntschaft er; doch Trug ist's.[95]

Man sagt, nicht um ein Stäubchen

Wird Böse oder Gute

Die Wahrheitssonne lohnen

Mit Schmach und Ehr'; doch Trug ist's.

Man sagt, nie schwing' die Seele,

Hoch auf der Liebe Flügel,

Vom Staub sich in die Lüfte

Zum Lustverkehr; doch Trug ist's.

O schweig' mit deinem Liede,

Damit nicht Jemand sage:

»Dein Wort gleicht leerem Schalle

Nur allzusehr;« doch Trug ist's.

Quelle:
Rumi, Ǧalal o’d-din: Auswahl aus den Diwanen. Wien 1838, S. 93-97.
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