III.

[118] Er konnte kaum den Augenblick erwarten, wo er die Rosi wiedersehen würde. Aber am nächsten Tage regnete es wieder, und auch in den nächstnächsten fand sich keine schickliche Gelegenheit. Denn auffällig wollte er es nicht machen, geschweige denn, sie etwa in der Weiberabteilung aufsuchen.

Da geschah es, daß unten ein alter Mann vom Schlage[118] gerührt wurde und starb. An dem Leichenbegängnis mußten sämtliche Pfründner teilnehmen. Sie gingen paarweise geordnet hinter dem mit einem abgeschabten Bahrtuch bedeckten Sarge. Zuerst die Männer, dann die Frauen, die sich, so gut es ging, in eine Art Trauerstaat versetzt hatten. Gleich hinter dem Geistlichen aber und einem Gemeindevorsteher, der von Amts wegen bei der kargen Feierlichkeit anwesend sein mußte, schritten, gewissermaßen als Oberhäupter der folgenden Schar, Herr Weißeneder und Fräulein Hanstein. Diese hatte sich einen alten schwarzen Krepphut mit schleißigen Schwungfedern aufgeputzt, die über ihrer verwitterten und windschiefen Gestalt hoch hin und her schwankten. Der frühere Kaffeehausbesitzer aber trug einen fragwürdigen, schief aufs Ohr gesetzten Zylinder und einen fadenscheinigen Leibrock, der vorn an der Brust mit brüchiger Seide ausgeschlagen war.

So bewegte sich der Zug zu dem Friedhof auf der Türkenschanze hinan, der erst seit einigen Jahren bestand und daher noch nicht viele Gräber aufwies; an einer großen Grufthalle für vornehme Tote wurde sogar noch gebaut. Nur im vordersten Teile drängten sich die Hügel aneinander, mit Blumen und Denksteinen geschmückt, während der übrige, weit bemessene Raum brach innerhalb der Umfassungsmauer lag. Links aber, nicht weit vom Eingang, befand sich das Schachtgräberfeld. Dort versenkte man die Armen, die keine eigene Ruhestätte bezahlen konnten und der Vergessenheit anheimfielen. Der Platz sah wüst genug aus. Eine holperige, von schütterem Graswuchs bedeckte Fläche, aus der hier und dort ein kümmerliches, rasch vergängliches Holzkreuz hervorragte.

Die Grube für den alten Mann stand schon offen. Der Priester machte nicht viele Umstände. Er sprach ein kurzes Gebet, schwenkte ein paarmal das Weihrauchfaß, die Anwesenden ließen jeder eine Schaufel Erde auf den Sarg niederpoltern – und die Sache war abgetan. Die Würdenträger entfernten sich so rasch wie möglich, denn da es ein schöner wolkenloser[119] Tag war, so brannte die Sonne schon sehr empfindlich auf den Nacken. Auch die Pfründner zerstreuten sich. Die einen, um wieder nach Hause zu gehen, die anderen, vorwiegend Weiber, um die vornehmeren Gräberreihen zu besichtigen. Nur die Weigel verweilte noch, während der Totengräber das frische Grab zuwarf. So blieb auch Schirmer in einiger Entfernung zurück. Er sah, wie sie jetzt an ein großes Kruzifix herantrat, das mit einem Betschemel versehen und als gemeinsames Denkmal bei dem Gräberfelde angebracht war. Dort sank sie in die Knie, faltete die Hände, die in groben Handschuhen staken, und begann andächtig zu beten. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, aus dem ihr schmales Antlitz mit der fein geschwungenen Nase licht hervorschimmerte. Rückwärts kam ein noch blonder Haarknoten halb zum Vorschein, der in der Sonne wie Gold glänzte. Wie schön sie noch immer ist! dachte Schirmer und war glücklich, sie betrachten zu können.

Jetzt aber bekreuzte sie sich und stand auf. Dabei fiel ihr Blick auf Schirmer, der ganz leise nähergetreten war. »Sie sein da, Herr Schirmer?« fragte sie ein bißchen verwirrt.

»Schon die längste Zeit. Und hab' zug'schaut, wie andächtig Sie waren.«

»Ich hab' für meine Eltern bet't – und auch für mein' Mann«, erwiderte sie still. »Aber die anderen sind schon alle weg«, fuhr sie umherblickend fort.

»Ja. Und das ist gut. Da können wir doch ungeniert miteinander reden. Wie geht's Ihnen denn, Frau Weigel?«

»Mein Gott, wie soll's mir denn gehn? So im ganzen ist mir ein bissel leichter.«

»Sie schaun auch schon viel besser aus. Und schön sein S' auch noch immer.«

»Ach gehn S'«, sagte sie und wurde rot. Dann begann sie sich langsam in Bewegung zu setzen. Er blieb ihr zur Seite, und bald waren sie bei den stattlichen Gräberreihen angelangt, die jetzt schon wieder still und verlassen dalagen. Sie traten[120] in eine hinein. Ein schwerer Duft von Hyazinthen und Narzissen, die auf den Hügeln blühten, schlug ihnen entgegen.

Sie betrachteten schweigend die Denksteine und die darauf angebrachten Skulpturen. Endlich sagte die Rosi:

»Ja, die Reichen, die können so schön begraben werden. Unsereins wird verscharrt wie ein Hund. Und doch wär's gut, wenn man schon da unten liegen möcht'.«

»Weiß Gott!« erwiderte er. »Ich hab' schon oft dran denkt, meinem elendigen Leben ein End' z'machen. Aber sehn S', Frau Weigel, seit Sie jetzt im Haus' sind, bin ich wie ausgewechselt. Das Leben freut mich wieder, denn mir ist, als wär' alles wieder wie damals. Erinnern S' Ihnen noch an die Zeit?«

Sie senkte den Blick. »Warum soll ich mich denn nicht erinnern? Es war ja so schön da unten an der Donau.«

»Und wissen S' noch, wie gern ich Sie g'habt hab'?«

»Ich weiß's. Aber es hat ja nicht sein können.«

»Es hätt' schon sein können. Aber wir haben uns nicht 'traut.«

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es hat nicht sein können, denn es hätt' sich nicht g'schickt. Schwer is mir g'nug worden. Es hat mir völlig 's Herz ab'druckt. Drum hab' ich auch den Weigel g'nommen, wie er um mich ang'halten hat.«

»Also deswegen. Und Sie sein so unglücklich mit ihm worden.«

»Die erste Zeit is angangen. Aber dann hat er mich mit Eifersucht g'martert. Und ich hab' ihm gar kein' Anlaß geben. Gern hab' ich ihn freilich nicht g'habt, und ich müßt' lügen, wenn ich sagen tät, daß mir nicht manchmal ein anderer g'fallen hätt'. Aber daß ich mich vergessen hätt' oder nur ein bisserl in was eing'lassen –, drauf hätt' ich jede Stund' die Hostie nehmen können. Er aber hat mir nicht glaubt, und wie's G'schäft immer schlechter gangen ist, hat er mich in sein'm Rausch g'schlagen.«

»G'schlagen? Arme Rosi! Ja, wir zwei haben's gut[121] troffen in der Eh'. Aber wissen S', ich hab' mir schon die Tag' was ausdenkt. Wir sollten schaun, daß wir da aus der Versorgung 'naus kommen. Mit unserm Pfründnergeld könnten wir vielleicht irgendwo z'sam menziehn. Wieviel haben S' denn?«

»Sieben Gulden.«

»Und ich fünfzehn. Das wären zweiundzwanzig im Monat. Da könnten wir uns schon ein Zimmer und ein Kucherl nehmen.«

»Ja, wenn ich g'sund wär'. Aber mein Gott, mit diese Händ'!« Sie hob sie empor. »Ich kann ja gar nichts anrühren. Und Sie sagen ja auch, daß S' krank sind. Das wär' eine schöne Wirtschaft. Und das Geld tät' auch nicht langen. Wir müßten doch wenigstens dreißig Gulden haben, wenn wir uns ein Quartier nehmen wollten.«

»Sie hab'n recht«, sagte er niedergeschlagen. »Aber mich freut's, daß Sie nichts dagegen hätten – und mit mir gehn möchten.«

»Warum denn nicht?« erwiderte sie und blickte zu Boden. »Zwei so alte Leut' – «

»Na, gar so alt sein wir doch nicht. Wenn wir g'sund wären, möchten wir beide unsere Jahr' nicht spüren. Sie nicht und ich nicht. Denn seh'n S', Frau Weigel, wir zwei haben ja nie was g'nossen. Unser' Jugend ist unterdruckt worden – drum ist sie auch noch in uns. Mir wenigstens ist jetzt, als wär' ich zwanzig Jahr' alt, und ich spür' fast meine Schmerzen nimmer.«

Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich kann mir's eigentlich auch nicht recht denken, daß ich schon zweiundfünfzig bin.«

»Sie schaun auch nicht danach aus. Denn wie ich g'sagt hab': Sie sind noch immer schön – und ich hab' Sie noch immer so gern wie damals.«

Sie schlug die sanften blauen Augen langsam zu ihm auf. »Was nutzt's«, sagte sie mit einem leichten Seufzer. »Wir können jetzt ebensowenig zusamm'kommen wie damals.«[122]

»Aber wir sind doch beisamm'. Wir können uns ja jeden Tag sehn und miteinander reden.«

»Reden nicht. Wenigstens nicht in der ersten Zeit. Denn, wenn die andern merken, daß wir uns von früher kennen und gut miteinander sind, möchten s' uns gleich verfolgen. Bei uns ist ja der Neid und der Haß z' Haus'. Es kann's keiner sehn, daß der andere eine Freud' hat. Und gar der Weißeneder und die Professerstochter, die möchten uns das Leben völlig verleiden.«

»Wahr is«, sagte er traurig. »Wir haben ein eigenes Schicksal. Aber ich will mit dem Anschaun z'frieden sein. Denn ich bin schon glücklich, wenn ich das liebe gute G'sicht vor mir hab'. Und denken kann ich ja auch den ganzen Tag an die Rosi – und glauben, daß sie mich auch noch ein bissel gern hat. Net wahr?« Er strich ihr sanft über die von dem Kopftuch halbverhüllte Wange.

Sie schwieg. Aber in diesem Schweigen lag für ihn ein unsägliches Glück – –

So standen jetzt die beiden inmitten der Gräber. Die Hyazinthen und Narzissen dufteten; zwei frühe Schmetterlinge gaukelten darüber hin. Und ringsum leuchtete der goldene Nachmittag, während am Horizont weiße schimmernde Wolken in das helle Blau des Himmels emportauchten.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 118-123.
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