Vierundzwanzigstes Kapitel

[706] Biba läßt für die Sonnenbeobachtung eine neue Bandbahn bauen, die den äußeren Teil des Pallas-Rumpfes in der Mitte umspannt. Lesa sagt dem Biba das Wichtigste über die Sonne. Bombimba will wie Lesa in das Kopfsystem, es gelingt ihm aber nicht; er wird von Labu aufgenommen. Die Quikkoïaner wollen wieder das Künstlerische auf dem Pallas fördern. Dort ist aber alles mit Sternbeobachtung beschäftigt. Zwei Meteorgeister kommen in die Nähe des Pallas und umkreisen Turm- und Kopfsystem, sind aber unnahbar, da sie zurückdrängende Atmosphäre haben. Das Kopfsystem kommt tiefer herunter und verbindet sich ganz fest mit dem Rumpf. Lesas blaugrünliches Licht ist jetzt öfters unten zu sehen – zuweilen an vielen Stellen zu gleicher Zeit.


Biba wollte gleich anfangs, als der Quikko den Pallas noch nicht als Mond umkreiste, eine neue sehr breite Bandbahn anlegen, die nur für die Sonnenbeobachtung die Mitte des Pallas-Rumpfes von außen umgeben sollte. Und die Bahn sollte ganz langsam fahren und von links nach rechts geleitet werden, während der Pallas von rechts nach links sich drehte. Diese Drehung sollte durch die Bahn aufgehoben werden, damit man ungestört auf der Bahn sitzend die Sterne beobachten konnte – und besonders die Sonne und die Asteroïden.

Diese Bahn wurde denn auch bald gebaut. Und Biba beschäftigte sich danach so eifrig mit der Sonne, daß er zeitweise alles andre darüber vergaß. Auch ein großes Sonnenteleskop befand sich auf dieser langsamen Bandbahn.

Als der Biba mal außergewöhnlich lange an seinem Sonnenteleskop tätig gewesen war und nun sehr müde in[706] seine Höhle zurückkehrte, um auf seiner kleinen Pilzwiese zu schlafen – da sah er plötzlich wieder das blaugrünliche Licht. Und er wußte gleich, daß Lesa wieder da war. Er horchte hin und hörte, wie Lesa hastig Folgendes sprach:

»Größte Qual und größte Seligkeit treten nicht nur sehr oft – nein – in unserm Sonnensystem – fast immer zusammen auf. Daran muß man sich gewöhnen. Die Sonne sagte mir schon, daß wir den Schmerz nicht fürchten dürfen – der Todesschmerz ist vielleicht der größte Schmerz. Er enthält aber auch die größte Seligkeit – diese Auflösung im Größeren und Stärkeren ist eine ganz außerordentlich großartige Empfindung. Viele Lebewesen können den Tod garnicht auskosten, da sie den Moment des Sterbens nicht festzuhalten vermögen. Es geht ihnen so wie uns, wenn wir einschlafen. Wir können auch den Moment, in dem wir einschlafen, nicht festhalten. Aber uns auflösen, wenn unsre Glieder durchsichtig werden, das können wir bei vollem Bewußtsein. Wir fürchten ja deshalb auch nicht den Tod. Aber viele andre Lebewesen in unserm Sonnensystem tun das. Lieber Biba, dieses weiß ich schon lange. Doch jetzt habe ich auch erfahren, was das Wichtigste der großen Sonnenphilosophie ist: wir sollen alle die größte Selbständigkeit erstreben und erlangen und gleichzeitig dabei stets darauf bedacht sein, uns dem Größeren unterzuordnen. Diese beiden Dinge kommen in Millionen Variationen immer wieder in und auf allen größeren und kleineren Sternen vor, die unsre große Sonne umkreisen. Auch die Kometen ordnen sich unter. Das Sichunterordnen ist das Größte. Sterben ist eigentlich auch nur ein Sichunterordnen. Das ist oft sehr schwer zu verstehen, da es ja der größten Selbständigkeit scheinbar widerstrebt. Indessen – es handelt sich ja immer um ein Sichunterordnen dem Größeren gegenüber. Darum ist Deine Idee vom Asteroïdenring ganz richtig. Der Saturnring kann vorbildlich für uns sein. Wenn wir einen großen Ring bilden – ist[707] der gemeinsame Geist desselben zweifellos größer als der Geist der einzelnen Teile. Darum müssen wir alle darauf hinwirken, daß wir uns zusammenfinden. Wir kämen zusammen weiter. Dann wird es uns schließlich vielleicht auch mal möglich, uns dem ganzen großen Sonnensystem unterzuordnen – vielleicht sterben wir mal in ihm – in dem ganzen großen System, in dem alle Planeten, Kometen und Meteorgeister leben. Lieber Biba! Denk an das Sterben des Asteroïdenrings. Es muß sehr qualvoll sein – aber doch eine ungeheure Seligkeit. Es ist ja das Sterben nur ein Sichauflösen in dem Größeren. Oh – das sage nur Allen – auch den lustigen Quikkoïanern. Der sich selber Quälende kommt immer weiter. Lebe wohl!«

Biba lag ganz still auf seiner Pilzwiese.

Das blaugrünliche Licht verschwand wieder.


Biba verbreitete das, was ihm Lesa gesagt.

Und es machte auf Alle einen großen Eindruck – besonders der letzte Satz von dem sich selber Quälenden.

Es starben mehr Pallasianer in der bekannten Art als bisher.

Bombimba wollte sich wie Lesa im Kopfsystem des Pallas auflösen, es gelang ihm aber nicht. Er stürzte zurück – und drei weitere Versuche mißlangen auch. Da klagte er über furchtbare Schmerzen. Und da nahm ihn Labu auf.

Bombimbas Schmerzen wurden viel besprochen, sonst hatten die Pallasianer vor der Auflösung noch niemals über Schmerzen geklagt. Jedenfalls unternahm es Niemand wieder, wie Lesa ins Kopfsystem zu springen; die Lehre von der Bedeutung der Schmerzen fand unter den Pallasianern keine Anhänger – selbst Biba meinte, daß diese Lehre mit Lesas neuem Zustande zusammenhängen müsse – in dem er von andern Sternen viele Dinge erfahre, die für den Pallasianer nicht so ohne weiteres verwertet werden könnten.[708]

Lesa jedoch empfand immer deutlicher die Wichtigkeit der Schmerzen. Er bemerkte auch, daß auf vielen Sternen besondere unbequeme Einrichtungen aufrecht erhalten wurden, die nur dazu dienen sollten, den Lebewesen eine Lektion über die Bedeutung des Qualvollen zu geben.

Lesa hörte dabei mal neben sich ganz deutlich eine dröhnende Stimme, die da sagte:

»Empfindungen lassen sich doch nicht steigern, wenn man das Schmerzhafte peinlich vermeidet. Eine Steigerung der Empfindungen muß doch das Schmerzhafte mindestens streifen. Schmerz ist doch nur eine zu heftige Empfindung.«

Lesa wußte nicht, wer ihm das sagte – aber er behielt die Worte und wollte sie den Pallasianern mitteilen, merkte aber, daß sie die Geschichte vorläufig noch nicht verstehen konnten; ihr Leben floß immer noch allzu ruhig dahin.

Die Quikkoïaner wunderten sich sehr, daß die Bewohner des Pallasrumpfes nach Herstellung ihres Turms garnicht mehr an neue Unternehmungen dachten.

Und so kam man bald wieder auf künstlerische Pläne. Der kleine Nax suchte Dex, Sofanti und Nuse anzufeuern – auch wollte er den alten Labu aufrütteln. Aber die Vier sagten nach einiger Zeit, daß sie vorläufig von allen künstlerischen Arbeiten absehen möchten, da die Pallasianer viel zuviel mit der Beobachtung der andern Sterne beschäftigt seien.

»Daran haben«, sagte der Sofanti lachend, »die Quikkoïaner Schuld. Hätten die uns nicht auf der Außenseite des Rumpfes und am Turm so viele Sternwarten hergestellt – so wärs anders.«

Die Sternwarten kamen erst ordentlich zur Geltung, als mehrere sehr große Kometen am Pallas vorüberrasten – der Sonne zu. Man sah, daß jeder Kometenkopf aus ganz anderen Stoffen bestand. Der eine Komet hatte sogar weit vorragende Terrassen, die wie Flügel wirkten. Und Biba[709] wollte auf eine dieser Terrassen hinaufgeschnellt werden. Der Komet raste aber zu schnell dahin, sodaß die Sprungseiltuchvorrichtung zu spät fertig wurde.

Die Folge davon war, daß man jetzt überall große Sprungseil- und Sprungtuchvorrichtungen anbrachte, die zunächst zum bequemen Hinüberkommen auf den Quikko dienten.


Auf dem Quikko ließen sich die größten Fernrohre durch Hautaufblasen herstellen. Größere Hautstücke ließen sich da nicht loslösen, sodaß auf dem Pallas nur Fernrohre mit kleinen Hautstücken hergestellt wurden, die künstlich aufgeblasen wurden, während sie sich auf dem Quikko ganz natürlich bildeten.

Hier sah nun der Biba nicht nur die Sonne viel größer als bisher; er sah auch die unzähligen Asteroïden und bemerkte, daß kaum einer dem andern ähnte. Diese ganz verschiedenartigen Lebewesen zusammenzubringen, erschien darum dem Biba als sehr schwer zu lösende Aufgabe.

Auf dem Quikko gelang es auch, die Meteore zu beobachten. Und da sah man, daß auch sie astrale Lebewesen waren.

Und damit das den Pallasianern ganz deutlich wurde, geschah wieder etwas noch nicht Dagewesenes: zwei Meteorgeister kamen dem Pallas ganz nahe und – umkreisten den Pallasturm in großen Ellipsenbahnen – wie kleine Monde.

Man beschloß, zu den Meteorgeistern hinüberzufliegen. Dex und Nuse ließen sich hinüberschnellen. Sie kamen bis auf eintausend Meter an die Meteore heran – kamen dann aber nicht weiter; sie bemerkten, daß die Meteorgeister von einer ganz besonderen, sehr frisch wirkenden Atmosphäre umgeben waren, die zurückdrängend wirkte.

Die Meteore hatten viele lange zappelnde Gliedmaßen, die in allen Farben schimmerten. Auf den Körpern, die kaum hundert Meter lang waren, ließen sich kleine Lebewesen[710] nicht entdecken. Die Teleskope auf dem Quikko zeigten dies ganz deutlich.

Der Kopf der Lebewesen ließ sich aber auch nicht entdecken. Eine Verständigung mit diesen astralen Riesen war ganz unmöglich, obschon man sich auf dem Quikko und Pallas die größte Mühe gab, die Aufmerksamkeit der Meteorgeister zu erregen. Trotzdem umkreisten diese den Turm und das Kopfsystem des Pallas mit dem größten Eifer, als fänden sie es sehr interessant.

Lange Zeit hindurch ließ man diese kleinen Monde nicht aus den Augen. Die Beweglichkeit der Gliedmaßen an diesen Geistern steigerte sich immer, wenn sie dem Kopfsystem des Pallas näher kamen.


Von den neuen Monden wurde man aber bald wieder abgelenkt. Der rote Lichtkegel, der von oben durch die Mitte des Pallas durchleuchtete, wurde eines Tages merklich kleiner, zog sich immer mehr hinauf und verschwand oben, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Das Kopfsystem aber breitete sich im obersten Teile des Turms so heftig aus, daß ein Luftstrom nach unten entstand und die vergessene Sofanti-Musik im Centrum wieder zu ertönen begann.

Darauf wuchs das ganze Kopfsystem heftig weiter nach unten zu – umklammerte den ganzen Turm mit feinen Lichtarmen und mit großen, wolkig wirkenden Gasgebilden.

Und man sah nun ganz deutlich, wie sich immer wieder überall große Kometenschweife bildeten.

Und die großen Kometenschweife erleuchteten den ganzen Nordtrichter.


Das neue Wunder nahm natürlich die ganze Aufmerksamkeit der Pallasianer in Anspruch.

Man machte wieder mit Spiegeln den Versuch, das Licht der Kometenschweife abzulenken, und lernte dabei die[711] Wirkung dieser Kometenschweife kennen – sie wirkten – einschläfernd.

Wer einmal von einem Kometenschweif getroffen wurde, begann sofort zu schlafen und sank auf den nächsten Hügel oder Turm und blieb da Stunden lang liegen. Der Getroffene konnte nicht einmal eine Pilzwiese aufsuchen. Natürlich brachten die andern Pallasianer den Eingeschlafenen sehr bald auf eine Pilzwiese.

Aber diese Kometenschweifwirkung erschien unerklärlicher als alles Andre; vom Verstehen einer Naturkraft konnte hier schlechterdings nicht mehr die Rede sein.


Und Lesa fühlte, daß das Kopfsystem mehr nach unten ging und sich mit dem Turm und dem Rumpf ganz fest verband. Und das brachte auch den Lesa wieder den Pallasianern näher; sie sahen jetzt Lesas blaugrünliches Licht sehr oft aufleuchten – zuweilen an mehreren Stellen zu gleicher Zeit.[712]

Quelle:
Paul Scheerbart: Dichterische Hauptwerke. Stuttgart 1962, S. 706-713.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lesabéndio. Ein Asteroiden-Roman
Lesabendio, Ein Asteroiden-Roman
Lesabendio: Ein Asteroiden-Roman...
Lesabendio: Ein Asteroiden-Roman
Lesabéndio: Ein Asteroïden-Roman
Lesabendio: Ein Asteroiden-Roman

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die frivole Erzählung schildert die skandalösen Bekenntnisse der Damen am Hofe des gelangweilten Sultans Mangogul, der sie mit seinem Zauberring zur unfreiwilligen Preisgabe ihrer Liebesabenteuer nötigt.

180 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon