Einer von denen, die am wenigsten sich des unerwarteten Besuches ergötzten, war Romeias, der Wächter am Tor. Er wußte ungefähr, was ihm bevorstand, aber nicht alles. Während der Abt die Herzogin empfing, kam Gerold, der Schaffner, zu ihm und sprach: »Romeias, rüstet Euch, auszuziehen! Ihr sollt auf den nächsten Meierhöfen ansagen, daß sie noch heut vor Abend die schuldigen Hühner34 zur Ausschmückung der Mahlzeit schicken, und sollt einen guten Bissen Wildbret beschaffen.«
Des war Romeias zufrieden. Es fügte sich nicht zum[50] ersten Male, daß er das Gasthuhn zu heischen ging, und die Meier und Kellerer auf den Höfen duckten sich des Romeias Worten, denn er hatte eine kräftige Sprache zum Anbefehlen. Des Weidwerks aber freute er sich zu jeder Zeit. Darum nahm Romeias seinen Jagdspieß, hing die Armbrust über und wollte gehen, ein Rudel Hunde zu lösen. Gerold, der Schaffner, aber zupfte ihn am Gewand und sagte: »Romeias, noch etwas! Ihr sollet auch der Herzogin Frauenzimmer, denen der Eintritt verwehrt ist, hinauf ins Schwarzatal führen und der frommen Wiborad vor stellen, daß sie bei ihr Kurzweil finden, bis der Abend kommt. Und sollet fein artig sein, Romeias, es ist eine Griechin dabei mit gar dunkeln Augen ...«
Da legten sich drei tiefe Falten über Romeias' Stirn, und er stieß den Jagdspieß auf den Boden, daß es klirrte: »Weibervölker begleiten?« rief er, – »dazu ist der Wächter am Tor des heiligen Gallus nicht nutz!«
Gerold aber nickte ihm bedeutungsvoll zu und sprach: »Ihr müßt's versuchen, Romeias. Ist's nicht schon zugetroffen, daß Wächter, die ihren Auftrag getreulich erfüllten, des Abends einen großen Steinkrug Klosterwein in ihrem Stüblein vorfanden? Hallo, Romeias!«
Des Mißmutigen Antlitz heiterte sich. Und er ging hinab in den Hof und löste die Hunde; der Spürhund und der Leithund sprangen an ihm hinauf, auch das Biberhündlein kläffte vergnüglich und wollte mit ausziehen35, aber verächtlich jagte er's heim, der Fischteich und seine Insassen gingen den Weidmann nichts an. Von seinen Rüden umbellt schritt er vors Tor.
Praxedis und die anderen dienenden Frauen der Herzogin waren von den Pferden gestiegen und saßen auf einem Rain im Sonnenschein und hatten viel miteinander zu schwatzen von Mönchen und Kutten und Bärten und sonderbaren Launen ihrer Herrschaft. Da trat Romeias vor sie hin und sprach: »Vorwärts!«
Praxedis musterte den wilden Jägersmann und war sich nicht klar, was sie aus ihm machen sollte; mit schnippischer Stimme fragte sie: »Wohin, guter Freund?« Romeias[51] aber hob seinen Spieß und deutete nach einem nahen Hügel hinter dem Walde und sagte nichts. Da sprach Praxedis: »Sind die Worte bei Euch in Sankt Gallen so teuer zu kaufen, daß Ihr keinen andern Bescheid gebt?«
Die Dienerinnen lachten.
Da sprach Romeias ernst: »Möcht' euch doch allzusamt ein Donnerwetter sieben Klafter tief in Erdboden hinein verschlagen!«
Praxedis erwiderte: »Wir danken Euch, guter Freund!« Hiemit war die schickliche Einleitung zu einem Gespräch gefunden. Romeias eröffnete seinen Auftrag, die Frauen folgten ihm willig.
Und allmählich fand der Wächter, daß es nicht der härteste Dienst sei, solche Gäste zu geleiten, und wie die Griechin ihn des Näheren über Wächterei und Jagdhantierung befragte, ward seine Zunge gelöst, und er erzählte von Bären und Wildschweinen, daß es eine Freude war, und erzählte sogar sein großes Jagdstück von dem furchtbaren Eber, dem er einst den Speer in die Seite geworfen und ihn doch nicht zu erlegen vermocht, denn er hatte Füße, einer Wagenlast an Maße gleich, und Borsten, so hoch wie die Tannen des Forstes, und Zähne, zwölf Ellen lang36, – und ward zusehends artiger, denn, wie die Griechin einmal ihren Schritt hemmte, um einer Drossel Schlag zu belauschen, hielt auch Romeias geduldig an, wiewohl ihm sonst ein Singvogel ein viel zu erbärmlich Stück Wild war, als daß er ihn großen Aufmerkens gewürdigt. Und wie Praxedis sich nach einem schönen Goldkäfer bückte, der im rötlichen Moos herumkletterte, wollte ihr Romeias dienstwillig den Käfer mit schwerbesohltem Fuß zur Hand schieben, und daß er ihn bei solcher Gelegenheit zertrat, war nicht seine Absicht.
Sie stiegen einen düstern Bergpfad hinauf; über zerklüftete Nagelfluhfelsen rann die Schwarza zu Tale. An jenem Abhang war einst der heilige Gall in die Dornen gefallen und hatte zum Begleiter, der ihn aufrichten wollte, gesprochen: »Laß mich liegen, hier soll meine Ruhe sein und mein Haus für alle Zeit37!«[52]
Sie waren nicht lang' bergan geklommen, da kamen sie an einen freien, tannwaldumsäumten Platz. An schirmende Felswand angelehnt, stand dort eine schlichte Kapelle in Form eines Kreuzes. Nah dabei war ein viereckig Häuslein gemauert, das mit der Rückseite auch an den Fels anstieß; nur eine einzige niedere Fensteröffnung, mit einem Holzladen verschließbar, war dran zu schauen; nirgends eine Türe oder anderweiter Eingang, und war nicht abzusehen, wie ein Mensch in solch Gebäu Einlaß finden mochte, wofern er nicht durch eine Lucke im Dach von seiten der Felswand sich hinabließ. Gegenüber stund ein gleiches Gelaß, so ebenfalls nur ein einzig Fensterlein hatte.
Es war häufiger Brauch dazumal, daß solche, die Neigung zum Mönchsleben verspürten, und die sich, wie der heilige Benedikt sagt38, stark genug fühlten, den Kampf mit dem Teufel ohne Beihilfe frommer Genossenschaft auf eigene Faust zu bestehen, sich in solch einen GadenA1 einmauern ließen. Man hieß sie Reclausi, Eingeschlossene, Klausner, und war ihre Nutzbarkeit und Lebensabsicht der der Säulenheiligen in Ägyptenland zu vergleichen; scharfer Winterswind und Schneefall macht freilich diesseits der Alpen die Absperrung in frischer Luft unmöglich, das Anachoretengelüst war nicht minder stark39.
In den vier engen Wänden hier auf dem Irenhügel hauste nun die Schwester Wiborad40, eine vielgepriesene Klausnerin ihrer Zeit.
Sie stammte aus Klingnau im Aargau und war eine stolze, spröde Jungfrau gewesen, in mancher Kunst bewandert, und hatte von ihrem Bruder Hitto alle Psalmen lateinisch beten gelernt und war ehedem nicht abgeneigt, einem Mann sein Leben zu versüßen, wenn sie den rechten finden möchte, aber die Blüte aargauischer Landeskraft fand keine Gnade vor ihren Augen, und sie tat eine Wallfahrt gen Rom. Und dort muß ihr unstet Gemüt durchschüttert worden sein, keiner der Zeitgenossen hat erfahren wie; – drei Tage lang rannte ihr Bruder Hitto das[53] Forum auf und nieder und durch die Hallen des Kolosseum und unter Konstantins Triumphbogen durch bis zum vierstirnigen Janus an der Tiber unten und suchte seine Schwester und fand sie nicht; am Morgen des vierten Tags kam sie zum Salarischen Tor herein und trug ihr Haupt hoch und ihre Augen leuchtend und sprach, es sei alles nichts auf der Welt, solang' nicht dem heiligen Martinus die Ehre erwiesen werde, die seinem Verdienst gebühre.
Wie sie aber zurückkehrte in die Heimat, verschrieb sie ihr Hab und Gut der Bischofskirche zu Konstanz mit dem Bedingnis, daß die geistlichen Herren jeweils am eilften jedes Herbstmonates dem heiligen Martin ein besonder Fest halten sollten; sie selber trat in ein eng Häuslein, wo die Klausnerin Zilia sich seßhaft gemacht, und führte ein klösterlich Leben. Und wie es ihr dort nimmer zuträglich war, verzog sie sich ins Tal des heiligen Gallus; der Bischof selbst gab ihr das Geleit und tat ihr den schwarzen Schleier um und führte sie an der Hand in die Zelle am Irenhügel und sprach den Segen, darüber; mit der Mauerkelle tat er den ersten Schlag auf die Steine, mit denen der Eingang vermauert ward, und drückte viermal sein Sigill auf das Blei, damit sie die Fugen löteten, und schied sie von der Welt, und die Mönche sangen dazu, als würd' einer begraben, dumpf und traurig.
Die Leute ringsum aber hielten die Klausnerin hoch in Ehren; sie sei eine hartgeschmiedete Meisterin41, sagten sie, und an manchem Sonntag stund Haupt an Haupt auf dem Wiesenplan, und Wiborad stund an ihrem Fensterlein und predigte ihnen, und andere Frauen siedelten sich in die Nähe und suchten bei ihr Anleitung zur Tugend.
»Wir sind an Ort und Stelle«, sprach Romeias. Da blickte Praxedis mit ihren Begleiterinnen um. Kein menschlich Wesen war zu erschauen; verspätete Schmetterlinge und Käfer summten im Sonnenschein, und die Grille zirpte flügelwetzend im Gras. An Wiborads Zelle war der Fensterladen angelehnt, so daß nur ein schmaler Streif Sonnenlicht hineinfallen konnte. Dumpfes, langsam und halb durch die Nase gesungenes Psalmodieren tönte durch die Einsamkeit.[54]
Romeias klopfte mit seinem Jagdspieß an den Fensterladen, der blieb, wie er war, angelehnt; das Psalmodieren tönte fort. Da sprach der Wächter: »Wir müssen sie anderweitig herausklopfen!«
Romeias war ein Mann von ungeschliffener Lebensart, sonst hätte er nicht getan, was er jetzt tat.
Er begann ein Lied zu singen, womit er oftmals die Klosterschüler ergötzte, wenn sie in seine Turmstube entwischten, ihn am Bart zu zupfen und mit dem großen Wächterhorn zu spielen. Es war eine jener Kantilenen, wie deren, seit daß es eine deutsche Zunge gibt, auf freier Heerstraße, an Wegscheiden und Waldecken und draus auf weiter Heide schon manches gute Tausend in Wind gesungen und wieder verweht worden, und lautete also:
»Ich weiß einen Stamm im Eichenschlag,
Der steht im grünesten Laube,
Dort lockt und lacht den ganzen Tag
Eine schöne wilde Taube.
Ich weiß einen Fels, draus schillt und schallt
Nur Krächzen und Geheule,
Dort haust fahlgrau und mißgestalt
Eine heis're Schleiereule.
Des Jägers Horn bringt süßen Klang,
Des Jägers Pfeil Verderben:
Die Taube grüß' ich mit Gesang,
Die Eul' muß mir ersterben!«
Romeias' Lied hatte ungefähr die Wirkung, als wenn er einen Feldstein in Wiborads Laden geworfen. Alsbald erschien eine Gestalt an der viereckigen Fensteröffnung, auf hagerem Halse hob sich ein blasses, vergilbtes Frauenantlitz, in dem der Mund eine feindselige Richtung aufwärts gegen die Nase genommen; von dunklem Schleier vermummt, beugte sie sich weit aus dem Fensterlein, die Augen glänzten unheimlich. »Schon wieder, Satanas?« rief sie.
Da trat Romeias vor und sprach mit gemütlichem Ausdruck: »Der böse Feind weiß keine so schönen Lieder wie Romeias, der Klosterwächter. Beruhigt Euch, Schwester[55] Wiborad, ich bring' ein paar seine Jungfräulein, die Herren im Kloster lassen sie Euch zu annehmlicher Unterhaltung empfohlen sein.«
»Hebet euch weg, ihr Truggestalten!« rief die Klausnerin. »Wir kennen die Schlingen, die der Versucher legt. Weichet, weichet!«
Praxedis aber näherte sich der Zelle und neigte sich sittig vor der dürren Bewohnerin: sie komme nicht aus der Hölle, sondern vom Hohen Twiel herüber, setzte sie ihr auseinand. Ein wenig falsch konnte das Griechenkind auch sein, denn wiewohl ihre Kenntnis von der Klause im Schwarzatal sich erst von heute herschrieb, fügte sie doch bei, sie hätte von dem auferbaulichen Wandel der Schwester Wiborad schon so viel vernommen, daß sie die erste Gelegenheit genutzt, bei ihr anzusprechen.
Da schien es, als wollten sich einige Runzeln auf Wiborads Stirn glätten. »Reich mir deine Hand, Fremde!« sprach sie und reckte ihren Arm zum Fensterlein hinaus. Die Kutte streifte sich ein weniges zurück, da war er in seiner ganzen fleischlosen Magerkeit dem Sonnenschein ausgesetzt.
Praxedis reichte ihr die Rechte. Wie der junge, lebenswarme Pulsschlag der weißen Hand an der Klausnerin dürre Finger anschlug, ward sie langsam von der Griechin Menschlichkeit überzeugt.
Romeias merkte die Wendung zum Besseren, er wälzte etliche Felsstücke unter das Fenster der Zelle. »In zwei Stunden hol' ich euch wieder ab; behüt' Gott, ihr Jungfräulein!« sprach er. »Und erschreckt nicht, wenn sie in Verzuckung kommt«, flüsterte er der Griechin zu.
Hiemit pfiff Romeias seinen Hunden und schritt ins Waldesdickicht. Er legte auch etwa dreißig Schritte ohne Hindernis zurück, aber dann drehte er sein struppig Haupt und wandte den ganzen Menschen um; auf den Spieß gestemmt, schaute er unverrückt nach dem Platz vor der Klause, als hätt' er etwas verloren. Hatte aber nichts zurückgelassen.
Praxedis lächelte und warf dem gröbsten aller Wächter eine Kußhand zu. Da machte Romeias kehrt, wollte[56] seinen Spieß schultern, ließ ihn fallen, hob ihn auf, stolperte, erholte sich wieder und verschwand in gutem Trab jenseits der moosverwachsenen Stämme.
»O Kind der Welt, das in Finsternis wandelt«, schalt die Klausnerin herab, »was soll die Bewegung deiner Hand?«
»Ein Scherz ...«, sprach Praxedis unbefangen.
»Eine Sünde!« rief Wiborad mit rauher Stimme. Praxedis erschrak.
»O Teufelswerk und Verblendung!« fuhr jene predigend fort. »Da lasset Ihr Eure Augen listig herumstreifen, bis sie dem Manne als wie ein Blitz ins Herz fahren, und werft ihm eine Kußhand zu, als wenn das nichts wäre. Ist das nichts, wenn einer rückwärts schaut, der vorwärts schauen sollte? Wer die Hand an den Pflug zu legen hat und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes42! Ein Scherz?! O reichet mir YsopA2, Euch zu entsündigen, und Schnee, Euch rein zu waschen!«
»Daran hab' ich nicht gedacht«, sprach Praxedis errötend.
»Ihr denkt noch an vieles nicht«, sprach Wiborad. Sie schaute Praxedis mit einem musternden Blick von oben bis unten an. »Ihr denkt auch nicht, daß Ihr heut ein grüngelb Gewand traget, und daß solch herausfordernde Farbe weltabgewandten Augen ein Greuel ist, und daß Ihr den Gürtel so lose und nachlässig drum geschlungen habet, als wäret Ihr eine landfahrende Tänzerin. Wachet und betet!«
Die Klausnerin verschwand eine Weile, dann kehrte sie zurück und reichte einen grobgedrehten Strick heraus. »Du dauerst mich, arme Lachtaube«, sprach sie. »Reiß ab die seidegestickte Umwindung und empfah' hier den Gürtel der Entsagung aus Wiborads Händen; der soll dir eine Mahnung sein, daß du unnützem Schwatzen und Tun den Abschied gebest. Kommt aber wieder eine Versuchung eitlen Herzens über dich, Wächtern Kußhände zuzuwerfen, so wende dein Haupt gen Sonnenaufgang und singe den[57] Psalm: ›Herr, zu meinem Beistand eile herbei!‹ – und will auch dann der Friede nicht bei dir einkehren, so brenn' ein Wachslicht an und halt' den Zeigefinger über die Flamme, so wirst du sicher sein zur Stunde43. Das Feuer heilt das Feuer.«
Praxedis schlug die Augen nieder.
»Eure Worte sind bitter«, sprach sie.
»Bitter!« rief die Klausnerin, »gelobt sei der Herr, daß auf meinen Lippen kein süßer Schmack wohnt! Der Mund der Heiligen muß bitter sein. Da Pachomius in der Wüste saß, trat der Engel des Herrn zu ihm und brach die Blätter des Lorbeerbaums und schrieb die Worte des Gebets drauf und gab sie dem Pachomius und sprach: ›Verschling' die Blätter; sie werden schmecken in deinem Mund wie Galle, aber dein Herz wird erfüllt werden vom Überschwall wahrer Weisheit.‹ Und Pachomius nahm die Blätter und aß sie, und von Stund' an blieb sein Mund bitter, sein Herz aber füllte sich mit Süße und er pries den Herrn44.«
Praxedis schwieg. Es blieb eine Zeitlang still. Die andern Frauen der Herzogin waren nicht mehr zu sehen. Wie die Klausnerin ihren Gürtel herausreichte, hatten sie einand mit dem Ellbogen angestoßen und waren leise um das Häuslein geschlichen. Sie pflückten einen großen Strauß Heidekraut und Herbstblumen im Walde und kicherten dazu.
»Wollen wir auch einen solchen Gürtel umlegen?« sprach die eine.
»Wenn die Sonne schwarz aufgeht«, sprach die andere.
Praxedis hatte den Strick ins Gras gelegt. »Ich will Euch Eures Gürtels nicht berauben«, sprach sie jetzt schüchtern zum Fenster der Zelle hinauf.
»O harmlos Gemüt«, sprach Wiborad, »der Gürtel, den wir tragen, ist kein Kinderspiel wie der, den ich dir reichte; der Gürtel Wiborads ist ein eiserner Reif mit stumpfen Stacheln und klirrt wie eine Kette und schneidet ein; – deine Augen erschauerten seines Anblicks45.«
Praxedis schaute nach dem Wald, als wolle sie spähen, ob Romeias nicht bald zurückkehre. Die Klausnerin mochte[58] bemerken, daß es ihrem Gast nicht allzu behaglich war, sie reichte ein Brett aus ihrem Fensterlein, drauf war ein halb Dutzend rotgrüner Äpfel gelegt.
»Wird dir die Zeit lang, Tochter der Welt?« sprach sie. »Greif' zu, wenn die Worte des Heils dich nicht sättigen. Backwerk und Süßigkeiten hab' ich nicht, aber auch diese Äpfel gefallen dem Herrn wohl, sie sind die Speise der Armen.«
Die Griechin wußte, was der Anstand erheischt. Aber es waren Holzäpfel. Wie sie den ersten zur Hälfte verzehrt, verzog sich ihr anmutiger Mund, und unfreiwillige Tränen perlten in den Augen.
»Wie schmecken sie?« rief die Klausnerin. Da tat Praxedis, als ob des Apfels Rest zufällig ihrer Hand entfalle: »Wenn der Schöpfer allen solche Herbigkeit anerschaffen, so hätte Eva nimmermehr vom Apfel gekostet«, sprach sie mit sauersüßem Lächeln.
Wiborad war beleidigt. »Gut!« erwiderte sie, »daß du der Eva Angedenken nicht erlöschen lässest. Die hat denselben Geschmack gehabt wie du, drum ist auch die Sünde in die Welt gekommen46.«
Die Griechin blickte nach dem Himmel. Aber nicht aus Rührung. Ein Falke kreiste einsam über Wiborads Zelle. »O könnt' ich mit dir über den Bodensee fliegen«, dachte sie. Dann wiegte sie schalkhaft ihr Haupt.
»Wie muß ich's anfangen«, fragte sie, »daß ich vollkommen werde wie Ihr?«
»Der Welt gründlich entsagen«, antwortete Wiborad, »ist eine Gnade von oben; der Mensch kann sich's nicht geben. Fasten, Quellwasser trinken, das Fleisch abtöten, Psalmen beten, das all sind nur Vorbereitungen. Das Wichtigste ist ein guter Schutzheiliger. Wir Frauen sind ein zerbrechlich Volk, aber eindringlich Gebet ruft die Streiter Gottes an unsere Seite, die helfen. Schau her ans kleine Fenster, da steht er oft in nächtlicher Stille, der Erlesene meiner Gedanken, der tapfere Bischof Martinus, und hält Schild und Lanze wider die anstürmenden Teufel; ein blauer Strahlenkranz geht von seinem Haupte aus, es zuckt[59] durchs Dunkel wie Wetterleuchten, wenn er naht, und grunzend entfliehen die Dämonen. Und wenn der Kampf geendet, dann pflegt er gar traulichen Zwiespruch; ich klag' ihm, was das Herz bedrängt, all die Not, die ich mit den Nachbarinnen habe, und alles Leid, das mir die Klosterleute zufügen, und der Heilige nickt und schüttelt die wallenden Locken und nimmt alles mit sich himmelaufwärts und teilt es seinem Freund, dem Erzengel Michael, mit, der hat jeden Montag die Wache am Thron Gott Vaters47, so kommt's an den rechten Ort, und Wiborad, die Letzte der Letzten im Dienste des Hochthronenden, ist nicht vergessen ...«
»Da will ich den heiligen Martinus auch zu meinem Schutzpatron erwählen«, sprach Praxedis. Aber darauf hatte Wiborads Lobspruch nicht gezielt. Sie warf einen verächtlich eifersüchtigen Blick auf die roten Wangen der Griechin: »Der Herr verzeih' Euch Eure Anmaßung«, sprach sie mit gefalteten Händen; – »glaubt Ihr, das ist mit einem leichtfertigen Wort und mit einem glatten Gesicht getan? Unerhört! Viel lange Jahre hab' ich gerungen und die Falten der Askesis wie Narben auf der Stirn getragen und war noch nicht von ihm begnadigt, daß er mir nur einen Blick zuwarf. Es ist ein fürnehmer Heiliger und ein tapferer Kriegsmann vor dem Herrn, der schaut nur auf erprobte Streiterinnen.«
»Er wird mein Gebet nicht gröblich abweisen«, warf Praxedis ein.
»Ihr sollt aber nicht zu ihm beten«, rief Wiborad zornig, »Ihr dürft nicht zu ihm beten. Was hat er mit Euch zu schaffen? Für Euresgleichen sind andere Schutzheilige. Ich will Euch einen sagen. Nehmt Ihr den frommen Vater Pachomius zum Patron.«
»Den kenn' ich nicht«, sagte Praxedis.
»Schlimm genug, so lern' ihn itzt kennen. Der war ein ehrwürdiger Einsiedel in der thebaischen Wüste, aß Wurzeln und Heuschrecken und war so fromm, daß er schon bei Lebzeiten die Harmonie der Sphären und Planeten erklingen hörte, und sprach oft: ›Wenn alle Menschen das hören[60] könnten, was meine Ohren zu hören gewürdigt sind, sie ließen Haus und Hof, und wer den rechten Schuh angezogen, ließe den linken und liefe in Orient.‹ In Alexandria aber war eine Maid, die hieß Thaïs, und niemand wußte, was unendlicher an ihr, die Schönheit oder der Leichtsinn. Da sprach Pachomius: ›Eine solche ist dem ganzen Land Ägypten eine Plage‹, und machte sich auf, schnitt seinen Bart, salbte sich und bestieg sein Krokodil, das er durch Kraft des Gebets dienstbar ge macht; das trug ihn auf schuppigem Rücken den Nil hinab, und er ging zu ihr, als wär' er ein Liebhaber. Seinen großen Palmstock hatte er auch mitgenommen und erschütterte das Herz der Sünderin dermaßen, daß sie ihre Seidengewande verbrannte und ihren Schmuck dazu und dem Pachomius folgte wie ein Zicklein dem Hirten. Und er schloß sie in ein Felsengrab ein, daran ließ er nur ein klein Fenster und unterwies sie im Gebet, und nach fünf Jahren war der Thaïs Läuterung zu Ende und vier Engel trugen ihre Seele gerettet gen Himmel48.«
Aber Praxedis war nicht sehr auferbaut. Der alte Wüstenvater mit seinem struppigen Bart und den bittern Lippen ist ihr nicht vornehm genug: da soll ich mit ihm vorliebnehmen, dachte sie. Sie wagte nicht, es auszusprechen.
Jetzt tönte die Vesperglocke vom Kloster durch den Tannenwald herauf. Da trat die Klausnerin vom Fenster ab und schloß ihren Laden. Dumpfes Psalmbeten ward drinnen hörbar, untermischt mit einem Geräusch wie von niederfallenden Streichen. Sie geißelte sich.
Inzwischen hatte Romeias im fernen Gehölz das Gejaid begonnen und warf seinen Spieß; aber er hatte einen Eichstrunk für ein Rehlein angesehen. Zürnend zog er sein Geschoß aus dem widerstrebenden Holz, – es war das erstemal in seinem Leben, daß ihm solches vorkam.
Vor Wiborads Klause war's lange still. Dann tönte ihre Stimme wieder, aber wie verwandelt, mit klangvoller Leidenschaft: »Steig' hernieder, heiliger Martinus, tapferer Kriegstribun, du meine Trösteinsamkeit, Stern im[61] Dunkel der Zeit! steig' hernieder, meine Seele ist gerüstet, dich zu erschauen, meine Augen dürsten nach dir49.«
Und wieder war's still auf dem Plan – da schreckte Praxedis zusammen. Ein dumpfer Schrei klang in der Zelle auf. Sie sprang ans Fenster und schaute hinein: die Klausnerin war in die Kniee gesunken, die Arme hoch erhoben, ihr Auge gläsern starrend. Neben ihr lag die Geißel, das Werkzeug der Buße.
»Um Gottes willen!« rief Praxedis, »was ist Euch?«
Wiborad fuhr empor und preßte der Griechin Hand krampfhaft. »Menschenkind«, sprach sie mit gebrochenem Ton, »die du Wiborads Schmerzen zu sehen gewürdigt bist, klopf' an deine Brust, es ist ein Zeichen geschehen. Ausgeblieben ist der Erwählte meiner Gedanken, er zürnt, daß sein Name von unheiligen Lippen entweiht ward, aber der heilige Gallus ist dem Aug' meiner Seele erschienen, er, der noch niemals Einkehr hier genommen – und sein Antlitz war das eines Dulders und sein Gewand zerrissen und brandig. Seinem Kloster droht ein Unheil. Wir müssen eine Fürbitte tun, daß seine Jünger nicht straucheln auf dem Pfad der Gerechten.«
Sie beugte sich aus dem schmalen Fenster und rief zur nachbarlichen Klause hinüber: »Schwester Wendelgard!«
Da schob sich drüben das Lädlein zurück, ein ältlich Antlitz erschien, das war die brave Frau Wendelgard, die dort um ihren Ehegemahl trauerte, der vom letzten Heereszug nimmer heimgekommen.
»Schwester Wendelgard«, sprach Wiborad, »laß uns dreimal singen den Psalm: ›Sei mir gnädig, o Gott, nach deiner Huld‹.«
Aber die Schwester Wendelgard hatte just mit träumender Sehnsucht ihres Eheherrn gedacht; sie wußte in festem Gottvertrauen, daß er dereinst noch heimkehren werde aus der Hunnen Landen, und hätte am liebsten jetzt schon die Pforte ihrer Klause eingetreten, hinauszuschreiten in die wehende Luft, ihm entgegen.
»Es ist nicht die Stunde des Psallierens«, rief sie hinüber.[62]
»Desto lieblicher klingt freiwillige Andacht zum Himmel empor«, sprach Wiborad. Und sie intonierte mit rauher Stimme den Psalm. Aber die Antwort blieb aus. »Was stimmst du nicht in Davids Schallgesang?«
»Ich mag nicht«, war Wendelgards einfache Antwort. Es war ihr in langjährigem Klausnertum allmählich schwül geworden. Viel tausend Psalmen hatte sie auf Wiborads Geheiß gesungen, daß der heilige Martinus ihren Ehegespons heraushaue aus der Feinde Gewalt, aber die Sonne ging auf, die Sonne ging nieder – noch immer blieb er aus. Und die hagere Nachbarin mit ihren Phantasmen war ihr verleidet.
Wiborad aber wandte ihre Augen unverrückt dem Himmel zu, gleich einem, der am hellen Tage einen Kometen zu entdecken gedenkt: »O Gefäß voll Ungehorsam und Bosheit«, rief sie, »ich will für dich beten, daß die bösen Geister von dir gebannet werden. Dein Aug' ist blind, dein Sinn ist wirr.«
Doch ruhig antwortete die Gescholtene: »Richtet nicht, auf daß auch ihr nicht gerichtet werdet. Mein Aug' ist noch so scharf wie vor Jahresfrist, da es Euch in mondumglänzter Nacht erschauen konnte, wie Ihr aus dem Fenster der Klause stieget und hinausgewandelt seid, Gott weiß wohin, – und mein Sinn erwägt noch wohl, ob Psalmengesang aus solchem Munde ein Wunder zu wirken imstande.«
Da verzog sich Wiborads bleiches Antlitz, als ob sie auf einen Kieselstein gebissen hätte. »Weh dir, Teufelgeblendete!« schrie sie, ein Schwall scheltender Reden entströmte ihren Lippen; die Nachbarin blieb keine Antwort schuldig, schneller und schneller kam Wort auf Wort geflogen, verschlang sich, verwirrte sich; von den Felswänden klang unharmonischer Widerhall drein und schreckte ein Käuzleinpaar auf, das dort in den Spalten horstete und scharf krächzend von dannen flatterte ... am Portal des Münsters zu Worms, da die Königinnen einander schalten, ging's sänftlicher zu als jetzo.
Mit stummem Erstaunen horchte Praxedis dem Lärm;[63] gern wäre sie beschwichtigend dazwischen getreten, aber Sanftes taugt nicht, um Schneidiges zu trennen.
Da tönte vergnüglicher Schall des Hifthorns vom Walde her und kläffendes Rüdengebell; langsam kam des Romeias hohe Gestalt geschritten. Das zweitemal, da er den Spieß geworfen, war's kein Baumstrunk, sondern ein stattlicher Zehnender; der Hirsch hing ihm auf dem Rücken, sechs lebende Hasen, die der Klostermeier von Tablatt in Schlingen gefangen, trug er gefestigt am Gürtel.
Und wie der Weidmann die Klausnerinnen erschaute, freute sich sein Herz; kein Wörtchen sprach er, wohl aber löste er der lebenden Häslein zwei ihrer Bande; einen in der Rechten, einen in der Linken schwingend, warf er sie so sicher durch die engen Klausfenster der Streitenden, daß Wiborad, vom weichen Fell elektrisch am Haupte berührt, mit lautem Aufschrei zurückfuhr. Der braven Wendelgard hatte sich in währender Hitze des Zwiespruchs der schwarze Habit gelöst, der Hase fuhr ihr so plötzlich zwischen Hals und Kapuze und verfing sich in der Gewandung und suchte einen Ausweg und wußte nicht wohin, daß auch sie ein jäher Schreck überfiel. Da stellten beide die Scheltung ein, die Fensterläden schlossen sich, ruhig ward's auf dem Hügel50.
»Wir wollen heim«, spach Romeias zur Griechin, »es will Abend werden.« Praxedis war weder vom Gezänk noch von Romeias' Friedestiftung so auferbaut, daß sie länger zu bleiben gewünscht hätte. Ihre Begleiterinnen hatten bereits auf eigene Faust den Rückzug angetreten.
»Die Hasen gelten bei Euch nicht viel«, sprach sie zum Wächter, »daß Ihr sie so grob in die Welt hinauswerfet.«
»Nicht viel«, lachte Romeias, »doch wär' das Geschenk eines Dankes wert.«
Zu selber Zeit hob sich die Dachluke an Wiborads Zelle, die hagere Gestalt ward zur Hälfte sichtbar, ein mäßiger Feldstein flog über Romeias Haupt hin, er traf ihn nicht. Das war der Dank für den Hasen.
Man ersieht daraus, daß die Formen geselligen Verkehrs mannigfach von den heutigen verschieden waren.[64]
Praxedis sprach ihr Befremden aus.
»So etwas kommt alle paar Wochen einmal vor«, erwiderte Romeias. »Mäßiger Geifer und Zorn schafft alten Einsiedlerinnen neue Lebenskraft; es ist ein gut Werk, zu Erregung derselben beizutragen.«
»Aber sie ist eine Heilige«, sagte Praxedis scheu.
Da brummte Romeias in Bart. »Sie soll froh sein«, sprach er, »wenn sie's ist. Ich will ihr das Fell ihrer Heiligkeit nicht abziehen51. Aber seit ich in Konstanz meiner Mutter Schwester besucht, hab' ich allerhand erfahren, was mir nicht grün aussieht. Es ist dort noch nicht vergessen, wie sie vor des Bischofs Gericht sich verantworten mußte wegen dem und jenem, was mich nichts angeht, und die Konstanzer Kaufleute erzählen, ohne daß man sie fragt, wie ihnen die Klausnerinnen am Münster das Almosengeld, das fromme Pilgrime zutrugen, gegen Wucherzins ausgeliehen52. Was kann ich dafür, daß mir schon in Knabenzeit im Steinbruch ein seltsam großer Kiesel in die Hände kam? Wie ich den aufgehämmert, saß eine Kröte drin und machte verwunderte Augen. Seitdem weiß ich, was eine Klausnerin ist. Schnipp, schnapp – trari, trara!«
Romeias geleitete seine neue Freundin zur Pforte des außer Klosterbann gelegenen Hauses, das zu ihrer Herbergung bestimmt war. Dort standen die Dienerinnen, der Strauß Waldblumen, den sie gepflückt, lag auf dem Steintisch am Eingang.
»Wir müssen Abschied nehmen«, sagte der Wächter.
»Lebt wohl«, sprach Praxedis.
Da ging er. Nach dreißig Schritten schaute er scharf zurück. Aber zweimal geht die Sonne an einem Tage nicht auf, am wenigsten für einen Wächter am Klostertor. Es ward ihm keine Kußhand mehr zugeworfen. Praxedis war ins Haus gegangen.
Da wandelte Romeias langsam zurück, griff, ohne anzufragen, den Blumenstrauß vom Steintisch und zog ab. Den Hirsch und die vier Hasen lieferte er der Klosterküche. Dann bezog er seine Wächterstube, nagelte den Strauß an[65] die Wand und malte mit Kohle ein Herz dazu, das hatte zwei Augen und einen langen Strich als Nase und einen Querstrich als Mund.
Der Klosterschüler Burkard kam herauf, mit ihm zu spielen. Den faßte er mit gewaltiger Hand, reichte ihm die Kohle, stellte ihn vor die Wand und sprach: »Schreib den Namen drunter!«
»Was für einen Namen?« frug der Knabe.
»Ihren!« sprach Romeias.
»Was weiß ich von ihr und ihrem Namen«, sagte der Klosterschüler verdrießlich.
»Da sieht man's wieder«, brummte Romeias, »wozu das Studieren gut ist! Sitzt der Bub' jeden Tag acht Stunden hinter seinen Eselshäuten und weiß nicht einmal, wie ein fremdes Frauenzimmer heißt! ...«
A1 Kleines Haus, Gemach.
A2 Pflanze, zur Reinigung dienend (nach 3. Mos. 14, 52).
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