Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Ausklingen und Ende.

[445] »So schließt Waltharis Lied.« – Er hat brav gesungen, unser Einsiedel Ekkehard, und sein Waltharilied ist ein ehrwürdig Denkmal deutschen Geistes, die erste große Dichtung aus dem Kreis heimischer Heldensage, die trotz verzehrendem Roste der Zeit unversehrt der Nachwelt erhalten ward. Freilich sind andere Töne darin angeschlagen als in den goldverbrämten Büchlein, die der epigonische Poet ausheckt, – der Geist großer Heldenzeit weht drin, wild und fast schaurig, wie Rauschen des Sturmes im Eichwald, es klingt und sprüht von Schwerteshieb und zerspelltem Helm und Schildrand ein Erkleckliches und ist von minniglichem Flötenton so wenig zu verspüren als von angegeistetem Schwatzen über Gott und die Welt und sonst noch einiges: riesenhafter Kampf und riesenhafter Spaß, altes Reckentum in seiner schlichtfürchterlichen Art, ehrliche fromme schweigende Liebe und echter dreinschlagender[445] Haß, das waren Ekkehards Bausteine; aber darum ist sein Werk auch gesund und gewaltig worden und steht am Eingang der altdeutschen Dichtung, groß und ehrenfest, wie einer jener erzgewappneten Riesen, die die bildende Kunst späterer Zeiten als Torhüter vor der Paläste Eingang zu stellen pflegt.

Und wen die Herbigkeit alter, oft schier heidnischer Anschauung unlieblich anmuten möchte, gleich einem rauhen Luftzug an den Dünen des Meers, draus der frackumhüllte Mensch Erkältung schöpft und ein Hüstlein, der möge bedenken, daß einer das Lied sang, der selber in der Hunnenschlacht gefochten, und daß er's sang, die Locken umsaust vom Winde, der über die Schneefelder des Säntis gestrichen, viel hundert Klafter über den Niederungen des Tales, die Wolfshaut zum Mantel, den Felsblock der Höhle zum Schreibtisch, die Bärin zum Zuhörer.

Es ist schade, daß die neckenden Geister und Kobolde schon lange ihr frohsames Handwerk eingestellt haben, sonst möcht' es manch einem Schreibersmann unserer Tage nicht ungedeihlich sein, wenn ihn plötzlich unsichtbare Hände vom Mahagonitisch hinwegtrügen auf die grünen Matten der Ebenalp; – dort droben, wo der alte Mann in seiner Berggewaltigkeit dem Poeten ins Konzept schaut, wo die Abgründe gähnen, der Donner zwölffältig durch die Schluchten rollt und der Lämmergeier in einsam stolzem Kreisen dem Regenbogen zufliegt, dort muß einer etwas Großes, Kerniges, Bärenmäßiges singen oder reuig in die Kniee sinken wie der verlorene Sohn und vor der gewaltigen Natur bekennen, daß er gesündigt. – –

Unsere Erzählung neigt sich zum Ende.

Es wär' ihr vielleicht ein Gefallen geschehen, wenn Ekkehard jetzt nach Vollendung seines Sanges eines sänftlichen Todes verblichen wäre: das hätte einen gar rührenden Schluß gegeben, wie er oben vor seiner Höhle gesessen, den Blick nach dem Bodensee, die Harfe an den Fels gelehnt, die Pergamentrolle in der Rechten, und das Herz wär' ihm gebrochen, und es hätt' sich ein schön Gleichnis daran geknüpft, wie der Sänger vom Lodern des[446] Geistes in ihm aufgezehrt ward und dahinstarb, gleich der Kerze, die zur Asche sich verzehrt, eben da sie Licht gewährt, – aber den Gefallen erwies Ekkehard seinem Angedenken bei der Nachwelt nicht.

Echte Dichtung macht den Menschen frisch und gesund. Und Ekkehards Wangen hatten sich in währender Arbeit strahlend gerötet, und es war ihm so wohl geworden, daß er oftmals den Arm ausreckte, als woll' er einen Wolf oder Bären mit einem Schlag der Faust niederschmettern. Wie aber sein Walthari durch Not und Todeswunden glücklich zu Ende geführt war, da jubelte er, daß die Tropfsteine in seiner Höhle verwundert einander zublinzeln mochten, den Ziegen im Stall warf er eine doppelte Atzung an Futter zu, dem Handbuben aber übermachte er etliche Silberpfennige, daß er hinübersteige als Botenknabe nach Sennwald im Rheintal und einen Schlauch rötlichen Weines beschaffe. Es war damals wie jetzt: Ist das Buch zu End' gebracht, der Schreiber einen Freudsprung macht280.

Darum saß er abends auf der Ebenalp beim alten Senn und trank ihm tapfer zu und nahm ihm das Alphorn vom Nacken und trat auf ein Felsstück und blies nach dem fernduftigen Hegauer Berggipfel hinüber, frohgewaltig, als woll' er die Herzogin herausblasen auf den Söller und Praxedis dazu, und wolle sie mit Lachen begrüßen.

»Wenn ich wieder auf die Welt käme«, sprach er zu seinem Freund, dem Alpmeister, »und hätte vom Himmel herniederzufallen und die Wahl wohin, ich glaube, ich ließ mich zum Wildkirchlein fallen und nirgend anders hin.«

»Ihr seid nicht der erste«, antwortete lachend der Alte, »dem's bei uns wohl behagt hat. Wie der Bruder Gottschalk noch lebte, sind einmal fünf welsche Mönche heraufgekommen zum Besuch, die haben ein besseres Weinlein mitgebracht, als das von Sennwald ist, und sind drei Tage oben geblieben und haben Sprünge gemacht, daß ihnen die Kutten zu Häupten flogen; erst wie es wieder bergab ging, haben sie das Antlitz in die gehörigen Falten gelegt,[447] und einer hat noch eine lange Rede an unsere Herden gehalten: ›Ihr guten Ziegen, seid verschwiegen‹, sprach er, ›der Abt von Novalese braucht nichts von unserer Geister Entrückung zu wissen.‹«

»Aber stehet mir einmal Rede, Bergbruder, was habt Ihr in diesen letzten Tagen so geduckt in Eurer Höhle zu sitzen gehabt? Ich hab' Euch wohl gesehen, wie Ihr viel Hakenfüße und Runen auf Eselshaut gezeichnet, Ihr habt doch keinen bösen Zauber vor gegen unsere Herden und Berge? Sonst ...« er sah ihn drohend an.

»Ich hab' ein Lied aufgeschrieben«, sprach Ekkehard.

Der Senn schüttelte das Haupt.

»Das Schreiben! das Schreiben!« brummte er. »Mich geht's nichts an, und der hohe Säntis wird, so Gott will, noch auf Enkel und Urenkel herabschauen, ohne daß sie wissen, wie man Griffel und Feder handhabt, aber das Schreiben kann unmöglich vom Guten sein. Der Mensch soll aufrecht einhergehen, wenn er ein Ebenbild Gottes sein will, wer aber schreibt, muß sitzen und den Rücken biegen, ist das nicht das Gegenteil von dem, was Gott angeordnet? Also muß es vom Teufel kommen. Seht Euch vor, Bergbruder! und wenn Ihr mir noch einmal geduckt in Eurer Höhle sitzen wollet wie ein Murmeltier und schreiben: beim Strahl! ich fahr' Euch als Alpmeister dazwischen und reiß' Euch Eure Blätter in Fetzen, daß sie der Wind verweht in die Tannenwipfel. Ordnung muß sein hier oben und einfach Wesen, wir leiden nichts Ausge spitztes!«

»Ich will's nicht wieder tun«, sagte Ekkehard lachend und reichte ihm die Hand.

Der brave Alpmeister war am Sennwalder Rotwein warm geworden.

»Und bei Donner und Blitz«, schalt er weiter, »was soll das heißen, ein Lied aufschreiben? Narrenpossen! Schreibt's einmal auf, wenn Ihr könnt!«

Er hub einen Jodelgesang an in so unmoduliert gröblichen Naturlauten, daß auch das geübteste Ohr einen mit Wort oder Schriftzug darzustellenden Ton vergeblich darin zu entdecken vermocht hätte.[448]

– – Zur selben Stunde saß zu Passau an der Donau im reblaubumrankten Gartenstüblein der Bischofspfalz ein Mann in der Frische sprossenden Mannesalters vor einem steingehauenen Tisch. Ein unnennbar feiner Zug lag um den von braunem Bart überdeckten Mund, üppige Locken wallten unter dem samtnen Barett herfür, seine dunkeln Augen folgten dem Zuge der schreibenden Rechten. Zwei blonde Knaben stunden neugierig an der hölzernen Armlehne seines Stuhles und schauten ihm über die Schulter ... es war schon manch ein Blatt beschrieben von Fahrten und Stürmen und Not und tapferer Helden Tod – er schrieb jetzo am letzten. And dauerte nicht lang', so tat er die Feder weg und trank einen langen, tiefen, ernsten Schluck ungrischen Weines aus dem spitzen Pokal.

»Ist's jetzt fertig?« sprach der eine Knabe.

»Es ist fertig!« nickte der Schreibersmann, »alles fertig, wie es sich hub und wie es kam und wie es ein bitter Ende nahm.«

Er reichte ihm die Blätter, und jubelnd sprangen die Knaben zu ihrem Ohm, dem Bischof Pilgerim, und wiesen ihm die Schrift. »Und du selber stehst auch drin, teurer Oheim«, riefen sie, »der Bischof mit seiner Nichte ritt auf Passau an' – zweimal stehst du drin und dreimal!«

Und Pilgerim, der Bischof, strich seinen weißen Bart und sprach: »Ihr dürft euch freuen, liebe Neffen, daß euch der Konrad die Mär gebrieft, und wenn der Donaustrom drei Tage und drei Nächte mit Gold fließen wollte, ihr möchtet nichts Kostbareres drin fischen, denn diesen Sang; das ist die größeste Geschichte, die auf der Welt je geschah.«

Der Schreibersmann aber stund mit verklärtem Antlitz unter dem Rebgerank und Geißblattgewinde des Gartens und schaute in die welken roten Blätter, die der Herbst von den Zweigen geschüttelt, und schaute hinab in die flutende Donau, und im rechten Ohr hub sich ihm ein helles Klingen, denn zu derselbigen Zeit hatte Ekkehard auf lustiger Alpenhöhe eine hölzerne Schale mit Wein gefüllt und zum alten Senn gesprochen: »Ich hab' einst[449] einen guten Gesellen gehabt, einen bessern findet man in keines Herren Land, der hieß Konrad; und mit Frauenlieb' und Weltruhm ist's nichts, aber der alten Freundschaft bleib' ich zu Dank verpflicht't bis in den Tod, Ihr sollt mit mir sein Wohl trinken, das ist einer, der würde dem Säntis Freud' machen, wenn er hier wäre!« Und der Senn hatte die Schale geleert und gesagt: »Bergbruder, ich glaub's Euch. Er soll leben!«

Darum erklang dem Mann in Passau sein Ohr; er aber wußte nicht warum. Und sein Ohr klang noch, da kam der Bischof Pilgerim einhergewandelt, und hinter ihm brachte der Stallmeister ein weiß Rößlein, das war altersschwach und schäbig, und wenn man ihm näher ins Gesicht schaute, war's auch am linken Aug' blind, und der Bischof nickte mit seiner spitzen Inful und sprach gnädiglich: »Meister Konrad, was Ihr meinen Neffen zuliebe geschrieben, sollt Ihr nicht umsonst geschrieben haben, mein erprobtes Streitroß sei Euer!«

Da zuckte der Meister Konrad wehmütig lächelnd die seinen Lippen und dachte: »Es geschieht mir schon recht, warum bin ich ein Dichter worden!« laut aber sprach er: »Gott lohn's Euch, Herr Bischof, Ihr werdet mir wohl ein paar Tage Urlaub schenken zum Ausruhen von der Arbeit.«

Und er streichelte das alte weiße Rößlein und schwang sich darauf, ohne eine Antwort abzuwarten, und saß stolz und anmutsvoll im Sattel und brachte sein demütig Tier noch zu einem leidlichen Trab und ritt von dannen.

»Ich will meinen besten Stoßfalken gegen ein Paar Turteltauben verloren geben«, sprach der ältere der Knaben, »wenn er nicht wiederum nach Bechelaren reitet zur Markgrafsburg. Er hat immer gesagt: ›So gut ich meinen gnädigen Herrn, den Bischof, ins Lied hereinsetze, kann ich auch der Frau Markgräfin Gotelinde und ihrer schönen Tochter drin ein Denkmal aufrichten, die danken mir's doch am feinsten!‹«

Derweil war der Meister Konrad schon dem Tore der Bischofspfalz entritten; er schaute sehnsüchtig donauabwärts und hub an mit heller Stimme zu singen:
[450]

»Da sprach unverhohlen derselbe Fiedelmann:

›O Markgraf, reicher Markgraf, Gott hat an Euch getan

Nach allen seinen Gnaden, hat er Euch doch gegeben

Ein Weib, ein so recht schönes, dazu ein wonniglich Leben.

Und wär' ich nun ein König‹, fing er wieder an,

›Und sollte Kronen tragen, zum Weibe nähm' ich dann

Eure schöne Tochter, die wünschte sich mein Mut,

Sie ist so süß zu schauen, so minniglich ...‹«


aber bei diesen Worten wirbelte ihm eine Staubwolke entgegen, daß seine Augen unfreiwillig in Tränen standen und sein Gesang verstummte.

Die Strophen waren aus dem Werke, wofür ihn der Bischof soeben gelohnt; das war ein Heldenbuch in deutscher Sprache und hieß: Der Nibelungen Lied281! ...

– Mählich ging's in den Herbst hinein. Und wenn der auch abendlich ein glühender Rot an die Himmelswölbung malt als andere Jahreszeit, so kommen doch kühle Lüfte in seinem Gefolg', daß, wer festgesiedelt auf den Alpen, sich anschickt, zu Tal zu fahren, und kein Wolfspelz vor fröstelndem Klappern der Zähne schützt.

Frischer Schnee glänzte auf allen Kuppen und gedachte für dieses Jahr nimmer zu zergehen. Ekkehard hielt den Sennen die letzte Bergpredigt. Hernach streifte Benedicta an ihm vorbei. »Jetzt ist's aus mit unserer Herrlichkeit da oben«, sprach sie, »morgen zieht Mensch und Tier ins Winterfutter. Wo geht Ihr hin, Bergbruder?«

Die Frage fiel ihm schwer aufs Herz.

»Ich bliebe am liebsten hier«, sprach er. Benedicta lachte hell auf. »Man merkt«, sagte sie, »daß Ihr noch keinen Winter oben versessen habt, sonst würd' es Euch nach keinem zweiten gelüsten. Ich möcht' Euch wohl sehen, eingeschneit im Bruderhäuslein, und die Kälte schleicht durch alle Ritzen, daß Ihr zittert wie ein Espenlaub, die Lawinen krachen ringsumher und die Eiszapfen wachsen Euch in Mund herein ... Und wenn Ihr einmal zu Tal wollet und etwas zu essen holen, da liegt der Schnee haushoch auf dem Pfad, ein Schritt – und Ihr sinkt bis ans Knie ein, ein zweiter – traladibidibidib! so ragt nur[451] noch die Kapuze hervor und man sieht von der schwarzen Kutte nicht mehr als von einer Fliege, die in die Milchsuppe gefallen ist ... And dieses Jahr hat's gar so viel Spiegelmeisen gehabt, das gibt einen strengen Winter! Hu, wie freu' ich mich auf die langen Abende, da sitzen wir beim Kienspanlicht um den warmen Ofen und spinnen Flachs, das Rädlein knurrt, das Feuer brummt, und wir erzählen die schönsten Geschichten, und wer ein braver Bub ist, darf zuhören. Es ist schad', daß Ihr kein Senn geworden seid, Bergbruder, ich würde Euch auch mitnehmen zur StubetenA1

»Es ist schade«, sprach Ekkehard.

Folgenden Tages ging's in festlichem Zuge talab. Der alte Senn hatte sein feinstes Linnen angetan und sah vergnügt drein wie ein Patriarch; die rundliche Lederkappe auf dem Haupt, den schönsten Melknapf über der linken Schulter schritt er voraus und sang den Kuhreihen jugendhell und tapfer, ihm folgten Benedictas Ziegen, die Plänkler der großen Heerschar, die Hirtin mit ihnen, die letzten Alpenrosen mit schon vergilbten Blättern ins dunkle Gelock geflochten. Fetzt kam die schwarzgefleckte große Susanna, die Königin der Herde, als Zeichen des Vorrangs die schwere Glocke um den Hals; ehrbar und stolz war ihr Gang, und wenn eine der Nachfolgenden ihr vorauszuschreiten wagte, so warf sie ihr einen verächtlichen hornstoßdrohenden Blick zu, daß die Anmaßende erschrocken zurückwich. Schwerfällig schritten die anderen bergab: »Ade, du schmackhaft Alpengras, du fröhlich Wiederkäuen!« dachte manch ein fettgeworden Kühlein und knickte sich im Vorbeistreifen noch die letzten Blumen am Pfade.

Der Stier trug den einfüßigen Melkstuhl zwischen den Hörnern, auf des Gewaltigen Rücken saß der Handbub verkehrt und hielt die ausgestreckten Finger beider Hände an seine nicht allzufein geformte Nase und rief zu den Berggipfeln hinauf: »Der Sommer ist gegangen und hat den Herbst gebracht, jetzt wünschen wir einand eine gute,[452] gute Nacht; ihr stille schneeige Herren, lebt wohl itzt allerseit, ich wünsch' euch wohl zu schlafen die ganze Winterszeit!« Ein Schlitten mit der Sennhütte Geschirr und Ausrüstung schloß den Zug.

Und Sennen und Herde und Ziegen verschwanden im Tannenwald, verhallend tönte Hirtensang und Schellengeläut aus der Ferne, dann ward's still und einsam wie in jener Abendstunde, da Ekkehard zuerst vor dem Kreuz des Wildkirchleins gekniet war. Er trat in seine Klause. Es war ihm in seinem stillen Bergleben klar geworden, daß die Einsamkeit nur eine Schule fürs Leben ist, nicht das Leben selbst, und daß wertlos verderben muß, wer in der grimmen Welt immerdar nur müßig in sich hineinschauen will.

»Es hilft nicht«, sprach er, »auch ich muß wieder zu Tale. Der Schnee weht zu kalt, und ich bin zu jung, kann kein Einsiedel bleiben.«


»Fahr' wohl, du hoher Säntis, der treu um mich gewacht,

Fahr' wohl, du grüne Alpe, die mich gesund gemacht!

Hab' Dank für deine Spenden, du heil'ge Einsamkeit,

Vorbei der alte Kummer – vorbei das alte Leid.

Geläutert ward das Herze, und Blumen wuchsen drin:

Zu neuem Kampf gelustig steht nach der Welt mein Sinn.

Der Jüngling lag in Träumen, dann kam die dunkle Nacht;

In scharfer Luft der Berge ist jetzt der Mann erwacht!«


Er griff seine Reisetasche und legte seine wenige Habe drein. Sein Teuerstes, das Waltharilied, sorgsam umhüllt, tat er oben drauf; ein Lächeln umspielte sein Antlitz, wie er noch etliche Gerätschaften umherstehen sah. Auf dem Felsrand stund die halbausgeschriebene Flasche mit Schreibsaft, die griff er und warf sie hinaus in die Tiefe, daß sie in glitzernde Splitter zerschmettert ward. Die dreieckige Harfe lehnte wehmütig an der Rasenbank vor der Höhle: »Du sollst zurückbleiben und dem, der nach mir kommt, seine stillen Stunden versüßen«, sprach er. »Aber kling' ihm nicht matt und nicht süß, sonst mög' es aus den Tropfsteinen in deine Saiten träufeln, daß sie einrosten, und der Sturm von den Gletschern drüber fahren, daß sie bersten!«[453]

»Ich hab' ausgesungen.«

Er hängte die Harfe an einen Nagel.

In währender Klausnerzeit hatte er sich einen starken Bogen geschnitzt, Köcher und Pfeile waren noch aus Gottschalks Nachlaß droben, die nahm er jetzt als gut Gewaffen zur Hand, – gerüstet, im Wolfsmantel stund er vor der Klause und tat noch einen langen, langen Blick nach der Stätte glücklicher Sommerfrische und hinüber zu den vielteuern Gipfeln und hinunter, wo aus dem Tannendunkel der Seealpsee meergrün aufglänzte. Es war so schön wie immer. Der Mauerspecht, der die gleiche Bergritze zu seiner Behausung erkoren, flog ihm traulich auf die Schulter und pickte ihm mit hämmerndem Schnabel die Wangen, dann schwang er sein schwarzrot Gefieder hinauf in die blauen Lüfte, als woll' er dem hohen Säntis des Einsiedels Abzug vermelden.

Aber Ekkehard stieß seinen Speer auf und wandelte den gewohnten schwindelnden Pfad hinunter. An der Felswand zum Ascher hielt er noch einmal und winkte hinauf zu seiner Siedelei und tat einen Jodelruf, daß es am Kamor erklang und am hohen Kasten und rollender Widerhall an der Maarwiese vorbei zog bis in die fernsten Winkel des Gebirges. Der kann's! sprach ein heimkehrender Hirt unten im Tal zu seinem Gefährten.

»Schier wie ein Geißbub!« sagte der andere, als Ekkehard jenseits der Felswand verschwand.

– – Der aufgehende Tag hatte schon etlichemal seine Strahlen auf das Wildkirchlein geworfen, das traurig einem verlassenen Nest gleich ins Tal hinunterschaute. Der Bergbruder kam nimmer zurück.

Am Bodensee rüstete man zur Weinlese. An einem milden Abend saß Frau Hadwig im Gärtlein ihrer Burg, die treue Praxedis zur Seite. Die Griechin hatte unerquickliche Zeiten. Ihre Gebieterin war verstimmt, mißzufrieden, unzugänglich. Auch heute wollte ein Gespräch nicht gelingen. Es war ein schlimmer Gedächtnistag.

»Heute ist's ein Jahr«, hub Praxedis scheinbar gleichgültig an, »daß wir über den Bodensee fuhren und beim[454] heiligen Gallus ansprachen.« Die Herzogin schwieg. – »Es ist viel geschehen seitdem«, wollte Praxedis beifügen – das Wort verhauchte auf den Lippen.

»Wißt Ihr auch, gnädige Herrin, was die Leute von Ekkehard sagen?« fuhr sie nach geraumer Weile fort.

Frau Hadwig schaute auf. Es zuckte um ihre Lippen. »Was sagen die Leute?« sprach sie gleichgültig.

»Herr Spazzo hat neulich den Abt von Reichenau getroffen«, erzählte Praxedis, »der sagte: ›Wisset Ihr auch etwas Neues? Den Alpen ist Heil widerfahren, das Joch des Säntis ertönt von Lyraklang und Dichtergezwitscher, ein neuer Homer hat sich droben eingenistet, und wenn er wüßte, in welchen Höhlen die Musen hausen, so könnt' er ihren Reigen anführen wie ein cynthischer Apollo282.‹ Und wie Herr Spazzo kopfschüttelnd erwiderte: ›Was geht das mich an?‹ da sprach der Abt: ›Es ist Euer Ekkehard, aus der Klosterschule von Sankt Gallen hat's die Fama zu uns getragen.‹ Herr Spazzo hat lachend dazu gesagt: ›Wie kann der singen, der nicht einmal erzählen kann?‹«

Die Herzogin war aufgestanden. »Schweig!« sprach sie, »ich will nichts davon wissen.« Praxedis kannte das Zeichen ihrer Hand und ging betrübt von dannen.

Frau Hadwigs Herz aber dachte anders, als ihre Zunge sprach. Sie trat an des Gärtleins Mauerwehr und schaute hinüber nach den helvetischen Bergen. Dämmerung war eingebrochen, schwerfällige lange stahlgraue Wolkenstreifen standen unbeweglich über dem Abendrot, wie darauf genagelt, das zitterte und flammte wehmütig drunter vor. Im Rinnen und Zerrinnen des letzten Tagesstrahls ward auch ihr Denken weich. Ihr Auge blieb drüben auf dem Säntis haften, – es war ihr, als hätte sie eine Erscheinung, als täte sich der Himmel auf und seine Engel kämen durch die Lüfte gefahren und senkten sich hernieder zu jenen Höhen und brächten einen Mann getragen im wohlbekannten Mönchsgewand – und der Mann war blaß und tot und ein Lichtglanz, schön und lauter, umschwebte das luftige Geleit ...

Aber Ekkehard war nicht gestorben.[455]

Ein zischender leiser Ton schreckte die Herzogin auf, ihr Auge streifte an dem Felsabhang vorüber, über den einst der Gefangene entronnen, eine dunkle Gestalt entschwand im Schatten, ein Pfeil kam über Frau Hadwigs Haupt geflogen und sank langsam zu ihren Füßen nieder.

Sie hob das wundersame Geschoß auf. Nicht Feindeshand hatte es dem Bogen entschnellt, seine Blätter Pergamentes waren um den Schaft gewunden, die Spitze umhüllt mit einem Kränzlein von Wiesenblumen. Sie löste die Blätter und kannte die Schrift.

Es war das Waltharilied. Auf dem ersten Blatt stund mit blaßroten Buchstaben geschrieben: »Der Herzogin von Schwaben ein Abschiedsgruß!« und dabei stund der Spruch des Apostel Jakobus: »Selig der Mann, der die Prüfung bestanden!«

Da neigte die stolze Frau ihr Haupt und weinte bitterlich. –


Hier endet unsere Geschichte.

Ekkehard zog in die weite Welt, er hat den hohen Twiel nimmer gesehen, auch sein Kloster Sankt Gallen nicht. Er hatte sich zwar überlegt, ob er nicht bußfertig wieder eintreten wolle, wie er von den Alpen niedersteigend den bekannten Mauern nahe gekommen war. Aber es fiel ihm ein Sprichwort seines alten Alpmeisters ein: »Wenn einer lang' Senn war, wird er nimmer gern Handbub«, und er ging vorbei. Man hat später am Hofe der sächsischen Kaiser viel von einem Ekkehard gehört, der ein stolzer, trotziger, in sich gekehrter Mann gewesen, bei frommem Gemüt von tiefer Verachtung der Welt beseelt, aber lebensfrisch und gewandt, in jeglicher Kunst erfahren. Er war des Kaisers Kanzler, erzog dessen jugendlichen Sohn, sein Rat galt viel in des Reichs Geschäften. »In kurzem«, schreibt ein Geschichtschreiber von ihm, »erschien er ihnen als ein so Hervorragender, daß es durch aller Mund ging, sein warte noch die höchste Würde der Kirche.«

Die Kaiserin Adelheid wandte ihm ihre volle Hochachtung[456] zu283. Er war auch einer der Hauptursächer, daß der übermütige Dänenkönig Knut mit Heeresmacht überzogen ward.

Es ist unbekannt, ob dies derselbe Ekkehard war, von dem unsere Geschichte erzählte.

Andere haben auch behauptet, es seien mehrere des Namens Ekkehard im Kloster Sankt Gallen gewesen, und der den »Walthari« dichtete, sei nicht der nämliche, der die Herzogin Hadwig des Lateins unterwies. Aber wer der Geschichte, die wir jetzt glücklich zu Ende geführt, aufmerksam folgte, weiß das besser. –

Von den weiteren Schicksalen der übrigen, die unsere Erzählung in buntem Wechsel der Gestalten vor des Lesers Auge gestellt hat, ist wenig zu berichten.

Die Herzogin Hadwig vermählte sich nicht wieder und erreichte in frommem Witwenstand ein hohes Alter. Sie stiftete später ein bescheidenes Kloster auf dem hohen Twiel und vergabte ihm ihre Güter in alemannischen Landen. Über Ekkehard durfte in ihrer Gegenwart nie mehr gesprochen werden; aber das Waltharilied ward fleißig von ihr gelesen und war ihre stete Trösteinsamkeit; nach einer unverbürgten Aussage der Mönche von Reichenau soll sie es sogar fast ganz auswendig gewußt haben.

Praxedis diente ihrer Herrin noch etliche Jahre getreu, aber mählich und mählich stieg eine unbezwingliche Sehnsucht nach ihrer sonnigen, farbenprächtigen Heimat in ihr auf, und sie behauptete, die schwäbische Luft nimmer ertragen zu können. Reich beschenkt ward sie von der Herzogin verabschiedet; Herr Spazzo, der Kämmerer, gab ihr ein ritterlich ehrsam Geleite bis gen Venetia. Eine griechische Galeere trug die immer noch anmutige Jungfrau von der Stadt des heiligen Markus gen Byzanzium. Die Erzählungen, die sie dort machte vom Bodensee und den wil den treuen Barbarenseelen284 an seinen Ufern, wurden von sämtlichen Kammerfrauen am griechischen Kaiserhof mit bedenklichem Kopfschütteln aufgenommen, als spräche sie von einem verzauberten Meer und einem Lande der Fabel.[457]

Moengal, der Alte, sorgte noch eine geraume Zeit für das Seelenheil seiner Pfarrkinder. Als die Hunnen wieder mit räuberischem Einfall drohten, beschäftigte er sich lange mit einem Plan zu ihrem Empfang. Er schlug vor, auf dem Blachfeld etliche hundert tiefe Fallgruben zu graben, sie mit Baumzweigen und Farrenkraut zu überdecken, und hinter ihnen in Schlachtordnung den ansprengenden Feind zu erwarten, auf daß Roß und Reiter in jähem Sturz zuschanden würden. Die schlimmen Gäste ließen sich aber nicht wieder im Hegau blicken und ersparten dem Leutpriester das Vergnügen, ihnen mit wuchtigen Keulenschlägen die Schädel zu zertrümmern. Ein sanfter Tod ereilte den alten Weidmann, als er gerade von einer wohlgelungenen Falkenjagd auszuruhen gedachte.

Auf seinem Grab im Schatten der grauen Pfarrkirche wuchs eine Stechpalme, die ward so knorrig und groß, wie man früher keine gesehen, daß die Leute sagten, es müsse ein Ableger von ihres Pfarrherrn braver Keule Cambutta sein.

Audifax, der Ziegenhirt, lernte die Goldschmiedkunst und zog hinüber nach Konstanz an des Bischofs Sitz und schuf viel schöne Arbeiten. Er führte die Gefährtin seines Abenteuers als angetrautes Eh'gemahl heim, die Herzogin war der Taufpate ihres ersten Söhnleins.

Burkard, der Klosterschüler, ward ein gefeierter Abt des sanktgallischen Gotteshauses285 und verfertigte bei feierlichen Anlässen noch manches Dutzend gelehrter lateinischer Verse, mit denen jedoch, dank der zerstörenden Unbill der Zeit, die Nachwelt verschont geblieben ist.

... Und alle sind längst Staub und Asche, die Jahrhunderte sind in raschem Flug über die Stätten weggebraust, wo ihre Geschicke sich abspannen, und neue Geschichten haben die alten in Vergessenheit gebracht.

Der hohe Twiel hat noch vieles erleben müssen in Kriegs- und Friedensläuften; zu manch einem tapferen Reiterstücklein ward aus seinen Toren geritten und manch ein gefangener Mann trauerte in seinen Gewölben, bis auch der stolzen Feste ihr Stündlein schlug und an einem[458] schönen Maientag der Berg in seinem Innersten zusammenschütterte und von Feindeshand gesprengt Turm und Mauer in die Lüfte flog.

Jetzo ist's still auf jenem Gipfel, die Ziegen weiden friedlich unter den riesigen Trümmerstücken, – aber über dem glänzenden Bodensee grüßt der Säntis aus blauer Ferne so anmutig und groß herüber wie vor viel hundert Jahren, und es ist immer noch ein vergnüglich Geschäft, ins schwellende Gras gelagert eine Umschau zu halten über das weite Land.

Und der dies Büchlein niedergeschrieben, ist selber manch einen guten Frühlingsabend droben gesessen, ein einsamer fremder Gast, und die Krähen und Dohlen flatterten höhnisch um ihn herum, als wollten sie ihn verspotten, daß er so allein sei, und haben nicht gemerkt, daß eine bunte und ehrenwerte Gesellschaft um ihn versammelt war, denn in den Trümmern des Gemäuers standen die Gestalten, die der Leser im Verlauf unserer Geschichte kennengelernt, und erzählten ihm alles, wie es sich zugetragen, haarscharf und genau, und winkten ihm freundlich, daß er's aufzeichne und ihnen zu neuem Dasein verhelfe im Gedächtnis einer spätlebenden eisenbahndurchsausten Gegenwart.

Und wenn es ihm gelungen ist, auch dir, vielteurer Leser, der du geduldig ausgehalten bis hieher, ein anschaulich Bild zu entwerfen von jener fernen abgeklungenen Zeit, so ist er für seine Mühe und einiges Kopfweh reichlich entschädigt. Gehab' dich wohl und bleib' ihm fürder gewogen!

Fußnoten

A1 Die Appenzeller Bezeichnung für die erwähnten Zusammenkünfte.


Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 3, Leipzig/ Wien 1917.
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