Dreizehntes Kapitel

[106] Die Zeit des Aufschubs war verstrichen, es waren nur noch drei Tage bis zu dem für die Vermählung festgesetzten, und man erwartete jede Stunde die Ankunft der Gräfin Clementina.

Unter verschiedenen Anverwandten und Freunden, die sich nun allmählich auf dem gräflichen Schlosse einfanden, kam auch einer ihrer Nachbarn, auf den sich schon alle längst gefreut hatten, weil er ihnen durch seine Eigenheiten viel zu lachen gab. Er war vormals Oberstwachtmeister, hatte aber bei seinem herannahenden Alter den Abschied genommen, und lebte nun auf seinen Gütern, wo er Ökonomie trieb, seine Besitztümer verbessern, und seine Bauern aufklären wollte: zu dem Ende las er alles, was in diesem Fache geschrieben ward, und versuchte alle Menschenfreundlichkeit lehrende Theorien zu realisieren. Da er nun den größten Teil seines Lebens sich mit Ideen ganz anderer Art beschäftigt hatte, so konnte es nicht fehlen, daß er alles falsch anfing, seine oft gute Absicht verfehlte, und sich nur selten nützlich, desto häufiger hingegen lächerlich machte. Da seine Verbesserungen gewöhnlich mehr darauf hinausgingen, ihn zu bereichern, als wie er vorgab das Gute wirklich gemeinnützig zu machen, und er bei allen Vorkehrungen, die er traf, seine Bauern zu bilden, sich doch niemals vorstellte, daß sie klug genug wären, seine eigentliche Absicht einzusehen, und aus eben dem Grunde nicht allein sie nicht beförderten, sondern ihr auch noch auf alle ersinnliche Weise[106] entgegenarbeiteten, so lebte er in ewigen Verdrüßlichkeiten und Zänkereien. Übrigens war er, was man einen recht guten tätigen Mann nennt. Niemals hat wohl jemand, bei so vielem Anspruch auf Gravität und Würde, mehr Anlaß zum Lachen und Bedauern gegeben, als der gute Oberstwachtmeister. Er brachte bisweilen seine Lächerlichkeiten mit einer solchen Naivität vor, daß man geneigt war, zu glauben, er wolle sich selbst parodieren: so geschah es denn oft, daß seine Hörer ohne alle kränkende Absicht laut auflachten, wo er eigentlich die ernsthafteste Aufmerksamkeit hatte erregen wollen.

Bei seinem jetzigen Besuche brachte er das Gespräch auf die ökonomischen Einrichtungen des Grafen, und konnte seine Verwunderung nicht genug darüber bezeigen, daß diesem alles so wohl, so leicht und ohne alle Widerwärtigkeiten gelinge, während er mit aller Arbeit es nur bis zum Streit und zur Verwirrung zu bringen wisse. Er hatte auf seinem Wege nach dem Schloß sich mit einem alten Landmann aus dem Schwarzenbergischen Dorfe in eine Unterredung eingelassen, der die eingeführten Neuerungen und Verbesserungen seiner Herrschaft nicht genug loben und segnen konnte. Dieses unverdächtige Lob hatte ihn ganz wild gemacht; er polterte und sprudelte nun eine Anrede an den Grafen heraus, wo neben recht kräftigen derben militärischen Ausdrücken die Worte Bildung und Verfeinerung äußerst drollig hervorstachen, und endigte mit dem Anliegen: der Graf solle ihm Unterricht in der neuesten Verbesserungsmethode geben.

Um ihn etwas zu besänftigen, und ihn von seiner Mutlosigkeit zu heilen, erinnerte ihn der Graf an seine Verschönerungen des Parks, des Gartens und des Wohnhauses. –

»Ja, ja«, sagte er mit Selbstzufriedenheit, »das ist freilich etwas! Es hat mir doch auch, muß ich sagen, viel Arbeit und Kopfzerbrechen und viel schweres Geld gekostet. Nun freilich! so etwas wie mein Ermenonville, meinen otaheitischen Pavillon, meine chinesischen Brücken, dergleichen haben Sie noch nicht ausgeführt, das ist wahr! Apropos, ich muß Ihnen doch erzählen: ich habe von meinem Neffen, der vorigen Sommer von seiner Reise um die Welt zurückgekommen, eine ganz vortreffliche und genaue Zeichnung von den ägyptischen Pyramiden erhalten, die ich, sobald ich mit meinem Vesuv zustande bin, ebenso nachzuahmen gedenke; unter uns, ich hoffe, es soll gewiß ein Meisterwerk und ein seltnes Glück werden. Dabei habe ich den Gedanken, in diesen Pyramiden ein Monument für mein seliges Lottchen zu stiften. Ich habe auch schon den Platz mit Trauerweiden[107] und wilden Rosen bepflanzen lassen, und der Neveu will die alten Inschriften, die er mitgebracht hat, hinein besorgen. Dahin will ich mich dann in melancholischen Stunden in die Einsamkeit begeben, mich meinen Gedanken überlassen, und das Andenken meines lieben seligen Lottchens feiern.

Jetzt meinte ich aber nur die Ökonomie, Ihre Verbesserung des Ackerbaues, und das ehrbare folgsame Betragen Ihrer Bauern. Sehen Sie, das war's, dahin bringe ich's mit aller Arbeit nicht. Wie ich es mir sauer werden lasse, das werden Sie wohl nicht glauben; wie ich mich Tag und Nacht damit beschäftige die Bestien auszubilden; und wie sollt' es einen nicht dreifach ärgern, wenn man dahinter kommt, daß sie ihrem Wohltäter Gutes mit Bösem vergelten, und lügen und betrügen, wo sie nur immer können. Blutsauer habe ich's mir werden lassen! Ja sollten Sie sich vorstellen, ich bin so weit gegangen: als ich neulich etwas von ihnen verlangte, wobei ich, wenn es mir gelungen wäre, auf ein paar tausend Tälerchen jährlich mehr hätte rechnen können, mußten nicht allein meine Töchter, bei einem Fest, das ich veranstaltete, mit ihnen tanzen, ja ich ging so weit, daß ich sie selbst in ihren eignen Häusern überraschte, mich mit ihnen zu Tische setzte, und von ihrer miserablen (Gott verzeih mir die Sünde) Kocherei aus einer Schüssel mit ihnen verzehrte! Ich tat nicht anders, als ob es mir ganz vortrefflich schmeckte, dankte ihnen und unterhielt mich mit ihnen, als ob sie meine Kameraden wären. Ich sage das eben nicht darum, als ob es so besonders tugendhaft von mir wäre, ich weiß recht wohl, daß es gegen die Aufklärung und gegen die reine Menschlichkeit liefe, wenn ich anders handelte, aber ich vermutete, die Halunken würden von meiner Herablassung gerührt sein, und in alles einwilligen, was ich von ihnen verlangte, es wäre denn doch ein Beweis ihrer verfeinerten Sitten und ihrer edlen Herzen gewesen. Aber mir nichts, dir nichts! sie blieben bei ihrem starren Eigensinn, es fehlte nicht viel, so hätten sie sich gegen mich zusammengerottet, bloß aus Egoismus, weil mir, wie sie sagten, allein der Vorteil zufließe, und sie freilich wohl ein wenig mehr Arbeit und einen kleinen Zeitverlust dabei gehabt hätten. Anfangs wollte ich's nun doch mit Gewalt durchsetzen, aber sie waren so undankbar, mir mit einem Prozeß zu drohen! Ich ließ es gut sein und war zufrieden; aber geärgert hat es mich, daß ich aus der Haut hätte fahren mögen! Nun, Herr Graf, sagen Sie mir nur, Sie richten ja aus, was Ihnen beliebt! Tun Sie denn noch mehr?« – »Bei weitem nicht so viel, als Sie, Herr Obristwachtmeister«, sagte der Graf beruhigend. »Aber Sie haben selbst sehr richtig bemerkt, ich bin so[108] glücklich, einen Schlag sehr guter Leute auf meinen Gütern zu besitzen, die mir allenthalben kräftig die Hand bieten. Ich suche nur zu verhüten, daß sie nicht durch zufälliges Unglück bis zu dem schauderhaften Elend gebeugt werden, wo sie Hülfe in der Niederträchtigkeit und Vergessenheit ihres Elends in der Völlerei zu suchen haben. Sie werden erfahren haben, wie meine Schwester für die Kranken sorgt. Auf eine ähnliche Weise werden sie jedesmal unterstützt, wenn es nötig ist. Da sie nun für die ersten Bedürfnisse nicht so hart und unablässig zu sorgen brauchen, so kommen sie von selbst und ganz ohne Zwang darauf, ihren Zustand immer mehr und mehr zu verbessern. Sie tun mir also zuviel Ehre an, Herr Obristwachtmeister, wenn Sie mir allein alle Verbesserungen und manches ungewöhnlich Gute zuschreiben, das Sie auf meinen Gütern bemerken wollen. Sehr viele, ja die meisten Ideen dazu, kommen von meinen Landleuten selbst; sie kennen den Boden, den sie bearbeiten müssen, durch ihre Erfahrung am besten, daher sind sie am ersten imstande und berechtigt, sich die vorteilhafteste Behandlungsart zu ersinnen; ich reiche ihnen nur hülfreich die Hand, wenn etwa die Ausführung ihre Mittel übersteigt. Der Vorteil des Gelingens gehört ihnen unbezweifelt, sowie auch billig der Schaden des Irrtums oder des Verfehlens, der jedoch ihre ganze Bestrafung ausmacht.« – »Das Wichtigste«, fing Eleonore an, »hat mein Gemahl Ihnen noch nicht erwähnt, Herr Obristwachtmeister: ich meine den abgeschafften Frondienst. Die Leute haben nun, was ihnen so wichtig ist, Muße, ihre eignen Geschäfte desto besser zu besorgen.« – Der Obristwachtmeister hatte, während der Graf gesprochen, mit komischer angestrengter Aufmerksamkeit zugehorcht, um etwas zu lernen, auch einigemal Beifall genickt, indem er die Umstehenden nach der Reihe anguckte. Als aber Eleonore vom Abschaffen des Frondienstes anfing, sprang er ungeduldig auf. »Gut, daß Sie davon anfangen, Frau Gräfin! Ich hatte es mir schon längst vorgenommen, Ihnen meine Meinung darüber zu sagen. Sie haben Ihren Bauern den Frondienst erlassen, der jedem Gutsbesitzer von Gott und Rechts wegen zukömmt, dadurch haben Sie aber allen Ihren Nachbarn vielen Schaden zugefügt. Herr Graf! Es ist nicht ein jeder gesonnen, seinen gerechten Vorteil so mutwillig zu verschleudern, und nun wird uns alles erschwert. Nein, erlauben Sie mir, daß ich's Ihnen sage, daran taten sie sehr unrecht! Eine alte Gerechtigkeit muß man nicht aufheben. Unsere Vorfahren haben den Frondienst eingerichtet, und das waren auch keine Narren; die Nachkommenschaft sollte nur mehr Respekt vor ihren Einrichtungen[109] haben! Einzelne Verbesserungen, ja einzelne lasse ich mir gefallen, aber das Ganze darf nicht niedergerissen werden! Alle Teufel! Bei der Ordnung muß es bleiben. Und nehmen Sie mir's nur nicht übel, Herr Graf, auf diese Weise geht es Ihren Bauern freilich herrlich und in Freuden, da Sie sich das Ihrige entziehen! Aber damit wäre mir noch gar nicht gedient, meine Bauern sollen sich nicht aus Eigennutz vervollkommnen, und meinen Willen ihres eignen Vorteils wegen vollziehen, sondern aus reiner Liebe und Dankbarkeit sollen Sie mir meinen Willen tun. Weltlichen Vorteil sollen sie gar nicht vor Augen haben, sondern Moralität, feine Ausbildung des Kopfs und des Herzens! Lieben sollen mich die Halunken!« – In diesem Ton fuhr der gute Obristwachtmeister noch ein Weilchen fort, zur großen Belustigung der Gesellschaft, die über diesen Freund der Kultur sich nur mit Mühe das laute Lachen enthielt. Eleonore mußte einigemal das Gesicht wegwenden; der Graf versuchte es, ihn zu unterbrechen, und ein anderes Gespräch auf die Bahn zu bringen, aber das ging nicht so leicht. Er kramte mit großem Eifer alles durcheinander aus, und schwieg nicht eher, bis man zu Tische ging, wo er sich dann wieder beruhigte. Beim Anblick der mannigfaltigen Flaschen ward er vollends wieder friedlich und freundlich gesinnt, vergaß Kultur, Ökonomie und Moralität, ließ es sich trefflich schmecken, und prüfte so lange die einheimischen und fremden Weine gegeneinander, bis man ihn nach einem andern Zimmer führte, wo er den Rest des Tages ruhig verschlief.

»Wie gefällt dir die herrliche Karikatur?« fragte Eduard. – »Dieses ist einer der umfassendsten Geister, die es gibt«, erwiderte Florentin; »er vereinigt in sich alle die Narrheiten, die man sonst in der ganzen Welt ausgebreitet findet; jedes Rätsel, das uns in ihr verwirrend und ängstigend entgegenfährt, ist aufs belehrendste in ihm allein aufgelöst.« – Juliane bedauerte spottend die armen Fräulein, die aus ökonomisch-politisch-menschenfreundlicher Absicht mit den unwilligen, aufgebrachten Bauern tanzen mußten, und stellte die Not, sich nach ihrer Weise fügen zu müssen, sehr komisch und lebhaft vor. Sogar Therese und die Knaben übten ihren Mutwillen an dem ehrlichen Obristwachtmeister, bis der Graf ihnen endlich Einhalt tat, der sich bei diesen Gesprächen erinnert hatte, daß seinen Bauern am Vermählungstage ein Gastmahl auf dem Schloß bereitet werden müsse, und war verwundert noch keine Anstalten dazu machen zu sehen. – Eleonore gestand ihm: Sie hätte es zwar nicht vergessen, könnte sich aber immer nicht entschließen etwas anzuordnen, was[110] noch jedesmal ihr Mißfallen erregt, so oft sie dabei gewesen. – Der Graf erwiderte: Es lasse sich schwerlich etwas Gegründetes gegen eine so ehrwürdige Sitte einwenden, die von jeher in seinem Hause stattgefunden, und die er nicht gern ohne Grund abschaffen würde. – »Verzeih mir, mein Bester!« sagte Eleonore, »aber ich konnte mir nie weder Gutes noch Erfreuliches dabei denken, wenn ich diese Leute an einer langen Tafel, schnurgerade gereiht sitzen sah, Zwang und staunende Langeweile auf allen Gesichtern, die Männer an der einen, die Frauen auf der andern Seite; zufällig Feinde sich nah, Freunde und Liebende getrennt, fremd, ängstlich, unbehaglich! Von der Dienerschaft, wo nicht gar von der herrschaftlichen Familie selbst bedient, fühlen sie sich in nicht geringer Verlegenheit, so oft ihnen etwas gereicht ward, und nahmen sich dann natürlich so ungeschickt und link dabei, daß die übermütigen Lakaien sich berechtigt glauben, sie hohnlachend zu verspotten. Irgendein Lächeln, oder das Ansehn von Superiorität, das man doch nicht unterdrücken kann, und das nur auffallender wird, je mehr man's unterdrücken will, macht ihnen vollends diesen ostensibeln Akt von Herablassung zur Pein. Es kann nicht fehlen, daß das demütigende und zugleich erniedrigende Bewußtsein sich nicht in ihre Herzen schleiche: sie seien unter dem Vorwand eines Gastmahls bloß zur Dekoration für die Vornehmen bestimmt, die sich an einer ländlichen Szene erlustigen wollten. Dürften diese ehrlichen Leute freimütig ihre Meinung sagen, so würden sicherlich die meisten, wie Sancho Pansa bei den Ziegenhirten, ihrem Herrn für die unbequeme Ehre danken, in seiner Gesellschaft zu speisen; von denen, die es nicht ausschlügen, hätte ich auch nicht die beste Meinung.« – Eleonore wandte ihre ganze Beredsamkeit an, den Grafen zu bewegen, daß er diesen alten Gebrauch abstellen, und den Bauern auf eine andere Art ein Andenken des fröhlichen Tages vergönnen möchte, aber der Graf wollte nichts davon hören. »Es sind noch Leute darunter«, sagte er, »die sowohl am Tage unserer Vermählung, als bei Julianens Geburt sind bewirtet worden, was würden diese glauben und glauben machen, wenn wir es bei dieser Gelegenheit unterließen? Entweder, daß unsere Freude nicht von Herzen gehe, oder daß wir die Gebräuche unserer Vorfahren nicht mehr ehren. Es darf nicht unterbleiben! Doch bleibt dir, Liebe, die ganze Anordnung unumschränkt überlassen. Die Mißbräuche, die du ganz richtig angemerkt hast, werden sich vielleicht vermeiden lassen.«

Das Gespräch ward durch Briefe von der Gräfin Clementina an den[111] Grafen und an Julianen unterbrochen. Beide entfernten sich. Eleonore beratschlagte währenddem mit Eduard und Florentin wegen des Auftrags, den ihr der Graf gegeben. Es ward endlich unter ihnen etwas verabredet, und Florentin eilte sogleich die nötigen Anstalten dazu zu treffen, die Kinder begleiteten ihn.

Der Graf kam zurück, und als er Eleonoren mit Eduard allein antraf, sagte er ihnen: sie dürften nun nicht mehr auf Clementinens Gegenwart bei der Vermählung rechnen, sie hätte es völlig abgeschrieben. Eleonore bat ihn, ihr etwas Näheres aus dem Briefe mitzuteilen, weil sie auf des Grafen Gesicht einige Sorge wahrnahm, die sie beunruhigte.

»Ich befürchte«, sagte er, »daß Clementina von einem ernsthaftern Grund zu kommen abgehalten wird, als der ist, den sie vorschützt. Wenn sie nur nicht wieder krank ist, und es uns verbirgt!« – Eleonore suchte ihn zu beruhigen; sie erinnerte, daß ihre fast niemals weichende Kränklichkeit ein ganz ruhiges Verhalten oft notwendig mache, gefährlich schien es doch nicht zu sein, da sie beide Briefe eigenhändig geschrieben hätte. Sie schlug dem Grafen einen verlängerten Aufschub vor, er unterbrach sie aber mit einiger Ungeduld: » – Es scheint auch Clementinens Wunsch zu sein«, sagte er; »aber, meine Liebe, ich kann weder dir, noch jener hierin nachgeben. Ich werde es nicht länger aufschieben, ein so heilig gegebenes Versprechen zu erfüllen, und ich selbst sehne mich zu lebhaft, dich, Eduard, als meinen Sohn zu umarmen. Es bleibt bei dem bestimmten Tage, gleich nachher wollen wir zusammen Clementinen besuchen, mich verlangt recht danach, sie zu sehen.« – Er ging mit Eleonoren in den Garten, wo er ihr noch einiges aus dem Briefe mitteilen wollte.

Juliane war traurig, ihre geliebte Tante nun nicht erwarten zu dürfen. Sie überlas ihren Brief immer wieder aufs neue. Eduard suchte sie bei sich in ihrem Zimmer auf, und wollte sie durch seine zärtlichen Liebkosungen erheitern. Sie fühlte seine Liebe, konnte sich aber dennoch nicht aus ihrer trüben Stimmung reißen, und bat ihn endlich, sie allein zu lassen. Er ging fort und suchte Florentin auf; er wollte nicht mit seinem Unmut allein sein. Juliane schrieb folgenden Brief an Clementinen.


Juliane an Clementina

[112] Ihr letzter Brief hat mich nicht so froh gemacht, wie sonst alles, was von Ihnen kommt. Sie selbst erwartete ich, liebe Tante, wie soll ich mir nun an einem Briefe von derselben Hand genügen lassen, die ich selbst so gern mit Küssen überdeckt hätte, auf deren Segen ich hoffte!

Ich habe jetzt Sorgen, meine Tante! Wie soll ich sie aber aussprechen? Wenn ehedem eine kindische Sorge mein Gemüt traf, dann wußten Sie es zu erraten, ich war durch Ihre Hülfe davon befreit, ehe ich sie zu nennen wußte. Aber jetzt wird es bedeutender, ich fürchte mich vor den ernsthaften Anstalten. Man kömmt und geht; Einrichtungen werden gemacht, andere zerstört; Vater und Mutter haben lange geheime Unterredungen, dann wird oft Eduard dazugerufen. – O hätte ich es gedacht, daß es soviel Mühe, und mir soviel Angst machen würde! – Und alles ist weit schlimmer geworden, seit Ihren Briefen, Tante! Nachdem sie gelesen waren, fielen lange Unterredungen vor; der Vater war sehr bewegt, meine Mutter weinte. Ich saß unbemerkt an meinem Fenster, da konnte ich sie sehen, sie gingen auf der Terrasse auf und ab. Ich durfte um nichts fragen, denn es schien, als machten sie mir absichtlich aus dem Inhalt des Briefs und des Gesprächs ein Geheimnis, aber es beunruhigte mich. Was kann vorgehen? Ich habe Ihren Brief unzähligemal durchgelesen, um vielleicht in ihm selbst einen Aufschluß zu finden, aber umsonst! – Meine teure Clementina schreibt von Pflichten, die mir nun aufgelegt werden, denen ich vielleicht nicht gewachsen sei. Was sind das für Pflichten? Gibt es noch andere, als die ich kenne: daß ich Eduard einzig und bis in den Tod lieben soll? Und wenn es nur diese sind, wie sollten sie mir zu schwer sein? Kann man zu lieben aufhören? Gibt es eine andere Glückseligkeit, als treu zu lieben bis in den Tod? – Einst sagten Sie mir: das schönste Glück auf Erden für eine Frau wäre, wenn der Gatte zugleich ihr Freund sei. Sie sprachen mir aus der Seele, meine geliebte Clementina; und wenn dem so ist, so dürfen Sie sich mit Ihrem Kinde freuen; Eduard ist gewiß der Freund seiner Juliane; er liebt mich ja, und kann man lieben, ohne der Freund der Geliebten zu sein?

Aber, was ihm nur fehlen mag? Er ist nicht allein besorgt und nachdenklich, wie ich es bin; er ist traurig, voll Mißmut bis zur ungerechten Klage: ich liebe ihn nicht so, wie er hoffte, von mir geliebt zu sein. Ich weiß seine Zweifel nicht zu beruhigen, und meine eigne Unruhe wird immer größer. Vielleicht zerstreut sich dieser Nebel um[113] uns, wenn wir erst in Ruhe uns selber werden leben, wenn erst der Lärm, die Wichtigkeit, die Feierlichkeiten vorüber sind.

Ich hätte vielleicht größeres Recht zu klagen, als Eduard, daß ihm nicht so ganz genügt an seiner Freundin, daß er noch eines Freundes zu seinem Glücke bedarf. Jetzt wünschte ich aber selbst so sehr als er, daß Florentin bei uns bleiben möchte. In diesen Stunden der Mißverständnisse ist er unser guter Engel; die bösen Geister weichen vor seiner Gegenwart. Es ist ein ganz herrlicher Mensch, liebe Clementina! Eduard hängt mit der brüderlichsten Freundschaft an ihm und ich liebe ihn wie einen ältern Bruder. Ich fühle es wohl, was ich ihm schon jetzt verdanke, und was er uns beiden werden könnte! Aber alles unser Bitten vermag nicht, ihn zurückzuhalten. Eduard hat eine Vermutung, die ich Ihnen einmal mündlich mitteilen werde; ich halte sie aber nicht für gegründet, und auf keinen Fall ist es so ernsthaft, als er glaubt.

Diesen Morgen war ich lang allein mit Florentin. Wir überraschten uns beide mit der gegenseitigen Frage: »Was fehlt Eduard?« Jeder von uns glaubte den andern im Verständnis. Er wußte aber so wenig und ist so unruhig über diese Erscheinung, als ich selbst. Zum ersten Male habe ich ihm mit vollem Zutrauen begegnet; ich gestand ihm meine kleine Eifersucht, und daß ich für Eduards Liebe besorgt bin; aber er gab mir Unrecht, er warnte mich, nicht in die gewöhnliche Schwäche der Frauen zu verfallen und Achtung für die Freundschaft der Männer zu haben. Es waren Ihre Worte, Clementina. Ich mußte voll staunender Achtung vor ihm stehen, denn so tiefe Blicke in mein Inneres hat niemand noch, außer Ihnen, getan; solche Dinge hat mir noch kein Mensch sonst gesagt. Er hat mich aus den tiefsten Winkeln meines Herzens, da wo ich selbst nicht hinzudringen wagte, herausgefunden. Es war beinah so hart, mein Stolz empörte sich endlich gegen seine Beschuldigungen. »Sie kennen freilich meine Schwächen«, sagte ich ihm, »aber Sie wissen doch nicht, was ich zu tun imstande bin.« – »Das glaube ich«, sagte er; »wenn Sie das nur in der Tat tun wollten, was Sie zu tun imstande sind; wenn Sie nur nicht das, was Sie sind, verleugnen, um wie die andern zu scheinen.« – Drauf sprach er noch viel über Eduard und mich; so süß tröstete er mich nun, sprach mir so beredt, als ob er für sich selbst spräche, von Eduards inniger Liebe, wußte mir so fein alle seine Feinheiten herzuzählen. – Ich konnte nicht länger sorgen, alle meine Bangigkeit war fast verschwunden bei seinem freundlichen Trost. »Nur vergessen Sie nicht«, sagte er, »was ich Ihnen gesagt; wenn Sie es auch jetzt nicht verstehen, einst werden Sie es doch verstehen lernen.« – Ich fühlte eine Träne über mein Gesicht rollen,[114] als ich ihm die Versicherung gab; seine Worte, seine Stimme, die wie eine scheidende Prophezeiung klang, hatten mich tief bewegt. Er küßte sanft mir die Träne vom Gesicht; ich konnte es nicht wehren, er war selbst zu sehr gerührt. – »Auch ich werde diesen Augenblick nicht vergessen«, sagte er, »so sehe ich Sie niemals wieder.« – Darauf verließ er mich.

Aber Clementina, warum sind Sie nicht bei mir? Wo soll ich Mut hernehmen die ernste Stunde zu überstehen? Mußten Sie gerade jetzt Ihr Mädchen verlassen?

Ich vergesse alles, wovon ich Ihnen sonst schreiben könnte. Mein Herz ist so voll! von mir selbst voll! Muß es, wird es nicht bald besser werden? Leben Sie wohl, Clementina, teure geliebte Freundin! Segnen Sie Ihre Juliane.

Quelle:
Dorothea Schlegel: Florentin. Berlin 1987, S. 106-115.
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