Erster Akt


[219] Veranda der Villa Hofreiter und Garten.

Rechts die Veranda, geräumig, mit Balustrade, die auch beiderseits längs der sechs in den Vorgarten führenden Stufen weiterläuft. Doppeltür von der Veranda zum Gartensalon steht offen. – Vor der Veranda Rasenplatz mit Rosensträuchern in Blüte. – Ein grüner, ziemlich hoher Holzzaun schließt den Garten ein, der Zaun biegt rückwärts im rechten Winkel um und läuft hinter der Villa weiter. Fußweg außen längs des Zauns. Fahrstraße parallel dem Fußweg. Innen, längs des Zauns Buschwerk. Die Gartentüre, links, Mitte, der Veranda gegenüber, steht offen. Rings um den Rasenplatz Bänke: eine vorn dem Zuschauerraum gegenüber, eine der Gartentür gegenüber, eine dritte jenseits des Rasens, also mit der Lehne zum Zuschauerraum. Auf der Veranda ein länglicher Tisch mit sechs Sesseln. In der Ecke hinten hinten Oleanderbaum. Die Veranda ist durch eine rotweiß gestreifte Markise überdeckt. Eine elektrische Lampe auf dem Tisch. Ein Wandarm rechts von der Türe. Auf dem Tisch Teegeschirr. Später Nachmittag, nach einem Gewitterregen. Wiesen und Blätter feucht. Lange Schatten der Gitterstäbe fallen in den Garten.


FRAU GENIA 31 Jahre, einfach-vornehm gekleidet; dunkelgrauer Rock, violette Seidenbluse, sitzt am Tisch der Veranda auf dem Sessel an der Schmalseite, die dem Publikum zugekehrt ist. Sie stellt eben die Teetasse hin, sieht einen Augenblick vor sich hin, steht auf, rückt den Sessel fort, sieht nach hinten über die Balustrade in den Garten, dann geht sie über die Stufen in den Garten hinab, die Hände auf dem Rücken, wie es ihre Gewohnheit ist.

DAS STUBENMÄDCHEN kommt aus dem Gartensalon auf die Veranda mit einer großen Tasse, will das Teegeschirr abräumen, zögert.

GENIA noch auf den Stufen, wendet sich nach ihr um. Servieren Sie nur ab. Der gnädige Herr wird wohl in der Stadt Tee getrunken haben.


Nach einer kleinen Pause, in der sie den Himmel betrachtet.


Übrigens könnten Sie aufziehen.

STUBENMÄDCHEN während sie das Servierbrett hinstellt und die Markise hochzieht. Soll ich der gnädigen Frau nicht was zum Umnehmen bringen? Es ist kühl geworden.

GENIA. Ja. Den weißen Mantel. Sie riecht an einer Rose am Strauch, dann setzt sie ihren Spazierrgang fort, längs der Veranda nach hinten.

STUBENMÄDCHEN hat die Markise ganz aufgezogen, räumt ab und entfernt sich mit dem Teegeschirr.[219]

FRAU WAHL UND ERNA kommen auf der Straße von rückwärts, längs des Zauns und nähern sich dem Eingang.

GENIA weiter gehend längs der Wiese, nähert sich gleichfalls dem Eingang.

FRAU WAHL UND ERNA grüßen schon von draußen durch Kopfnicken.

GENIA winkt leicht mit der Hand, beschleunigt ihre Schritte ein wenig, und trifft am Tor mit beiden zusammen.

FRAU WAHL UND ERNA beide in dunkeln englischen Kostümen mit Jacke bleiben stehn.

FRAU WAHL schlank, beweglich, etwa 45 Jahre, von einer gewissen lässigen, aber sehr bewußten Vornehmheit. Sie näselt ein wenig, spricht ein nicht ganz echtes aristokratisch-wienerisch. Blick und Redeweise bald zu müde, bald zu lebhaft. Während sie spricht, schaut sie meist an ihrem Partner vorbei und erst, wenn sie zu Ende geredet hat, betrachtet sie ihr Gegenüber freundlich-forschend, wie um sich beruhigt zu finden.

ERNA größer als ihre Mutter, schlank, bestimmt und gradheraus bis zur Unbedenklichkeit, ohne vorlaut zu wirken. Fester, unbefangener Blick.

GENIA reicht beiden freundlich die Hand. Wohlbehalten aus der Stadt zurück?

FRAU WAHL. Wie Sie sehn, liebe Frau Genia. Es war ein fürchterliches Wetter.

GENIA. Bei uns heraußen auch bis vor einer Stunde.

FRAU WAHL. Sie haben schon recht gehabt, daß Sie lieber zu Hause geblieben sind. Auf dem Friedhof ist man geradezu versunken. Ich bin wirklich nur Erna zu Liebe mit hinausgefahren. Es hätte wohl genügt, der Zeremonie in der Kirche beizuwohnen – meiner Ansicht nach! Ich bitte Sie, wem erweist man am Ende einen Dienst damit ...

ERNA. Da hat die Mama freilich recht ... Zum Leben haben wir ihn doch nicht wieder erweckt, den armen Korsakow.

GENIA. Die Beteiligung war wohl sehr groß?

FRAU WAHL. Enorm. In der Kirche hat man sich kaum rühren können. Und auch auf dem Friedhofwaren sicher ein paar hundert Menschen – trotz des miserablen Wetters.

GENIA. Viele Bekannte?

FRAU WAHL. Ja, natürlich ... Natters kamen in ihrem neuen scharlachroten Automobil angefahren.

GENIA lächelnd. Von dem hab' ich schon gehört.

FRAU WAHL. Es hat einen phantastischen Eindruck gemacht, an der Friedhofsmauer ... Nicht g'rad phantastisch, aber sonderbar hat's ausgeschaut ...

DAS STUBENMÄDCHEN kommt mit dem weißen Mantel, den sie Genia[220] umgibt. Küss' die Hand, gnädige Frau, küss' die Hand, Fräulein.

FRAU WAHL leutselig. Grüß' Sie Gott, liebe Kathi.

ERNA. Guten Abend.


Stubenmädchen ab.


GENIA. Haben Sie meinen Mann nicht gesprochen, draußen auf dem Friedhof?

FRAU WAHL. Ja ... flüchtig.

ERNA. Er war sehr erschüttert.

GENIA. Das denk' ich mir.

ERNA. Ich hab' mich eigentlich gewundert. Er gehört doch sonst nicht zu den Menschen, denen leicht etwas nahe geht.

GENIA lächelnd. Wie genau Sie ihn kennen.

ERNA. Nun, sollt' ich nicht? Sehr einfach. Schon als siebenjähriges Mädel hab' ich ihn geliebt. Lang vor Ihnen, gnädige Frau.

GENIA. Schon wieder »gnädige Frau«.


Erna beinahe zärtlich Frau Genia. Küßt ihr die Hand.


GENIA. Er hat übrigens Alexei Korsakow sehr gerne gehabt.

ERNA. Offenbar. – Früher dacht' ich nämlich, daß Korsakow einfach – sein Klavierspieler gewesen ist.

GENIA. Wie meinen Sie das ... sein Klavierspieler?

ERNA. Nun, so wie der Doktor Mauer sein guter Freund ist, Herr Natter sein Bankier, ich seine Tennispartnerin, der Oberleutnant Stanzides ... sein Sekundant.

GENIA. Oh ...

ERNA. Wenn's einmal zu so was käme, mein' ich ... Er nimmt sich von jedem, was ihm gerade konveniert, und um das, was sonst in dem Menschen stecken mag, kümmert er sich kaum.

FRAU WAHL. Wissen Sie, Frau Genia, wie mein seliger Mann solche Bemerkungen von Erna zu nennen pflegte? Ihre Produktionen auf dem psychologischen Seil.

OTTO VON AIGNER kommt herbei, grüßt beim Tor. Guten Abend.

GENIA. Guten Abend, Herr von Aigner. Wollen Sie nicht ein wenig zu uns hereinkommen?

OTTO. Wenn's gestattet ist. Er tritt in den Garten. Er ist einfünfundzwanzigjähriger junger Mann, von zurückhaltendem und liebenswürdigem Benehmen; trägt die Uniform eines Marinefähnrichs. Begrüßung.

GENIA. Wie geht's Ihrer Frau Mama? Ich hatte eigentlich gehofft, sie heute Nachmittag bei mir zu sehen.

OTTO. Ist sie nicht gestern bei Ihnen gewesen, gnädige Frau?[221]

GENIA. Ja. Und vorgestern auch. Lächelnd. Sie hat mich eben ein wenig verwöhnt.

OTTO. Meine Mutter ist schon vor zwei Stunden in die Stadt gefahren. Sie hat heute abend zu spielen. Zu Frau Wahl und Erna. Die Damen waren heute wohl auch in der Stadt? Ich sah Sie in der Früh' während dieses schrecklichen Wolkenbruchs zur Bahn fahren.

FRAU WAHL. Wir haben dem Begräbnis von Korsakow beigewohnt.

OTTO. Richtig, das war ja heute. Weiß man eigentlich, warum er sich umgebracht hat?

ERNA. Nein.

FRAU WAHL. Irgendwer heut' auf dem Friedhof meinte, es sei ein Selbstmord aus gekränktem Ehrgeiz gewesen.

GENIA. Wie –? ... Korsakow ...?

FRAU WAHL. Ja. Weil er nämlich immer zu hören bekam, er könne nur Chopin spielen und Schumann – aber keinen Beethoven und keinen Bach ... Ich hab' es übrigens auch gefunden.

OTTO. Daß einen so was in den Tod treiben sollte, ist doch etwas unwahrscheinlich. Hat er keinen Abschiedsbrief hinterlassen?

ERNA. Korsakow hat nicht zu den Menschen gehört, die Abschiedsbriefe schreiben.

FRAU WAHL. Woher weißt du das wieder so bestimmt?

ERNA. Dazu war er viel zu klug und zu geschmackvoll. Er hat eben gewußt, was das heißt: tot sein. Und daher war es ihm ganz egal, was die Leute am nächsten Morgen für ein Gesicht dazu machen werden.

OTTO. Irgendwo hab' ich gelesen, daß er am Abend vor seinem Selbstmord noch mit einigen Freunden soupiert haben soll ... in bester Laune ...

FRAU WAHL. Ja, das steht dann immer in der Zeitung.

GENIA. Diesmal stimmt es zufällig. – Das weiß ich nämlich, weil mein Mann auch unter diesen Freunden gewesen ist, die mit ihm soupiert haben.

FRAU WAHL. Ah ...

GENIA beiläufig. Er hat ja manchmal bis spät abends in der Stadt zu tun, und dann soupiert er immer im Imperial, – an einer Art Stammtisch – noch aus seinen Junggesellentagen. In der letzten Zeit war auch Korsakow oft dabei, der im Hotel gewohnt hat. Und wie mir Friedrich selbst erzählte, – es war[222] ihm an diesem letzten Abend nicht das geringste anzumerken. Sie haben nachher im Kaffeehaus noch miteinander Billard gespielt.

FRAU WAHL. Wie, Ihr Mann und Korsakow?

GENIA. Ja. Sie haben sogar gewettet – und Friedrich hat verloren. Am nächsten Morgen, vom Bureau aus, hat er den Diener ins Hotel geschickt mit den verwetteten Zigarren ... und – wissen Sie denn das nicht? Der Diener war es ja, der die Sache entdeckt hat.

FRAU WAHL. Wieso denn?

GENIA. Nun, er klopfte ein paarmal, niemand rief herein, endlich öffnete er die Türe, um die Zigarren zu deponieren und ...

ERNA. Da lag Korsakow tot ...

GENIA. Ja. Tot auf dem Diwan, den Revolver noch in der Hand ...


Pause.


FRAU WAHL. Ihr Diener muß nicht wenig erschrocken sein. – Was hat er denn mit den Zigarren gemacht? Hat er sie dort stehn lassen?

ERNA. Die Mama ist für historische Genauigkeit.

GENIA. Verzeihen Sie, Frau von Wahl, aber darnach zu fragen hab' ich wirklich total vergessen.


Geräusch von einem Auto.


FRAU WAHL. Es hält hier.

GENIA. Das ist Friedrich ...

ERNA. Da könnte man gleich eine Tennispartie verabreden. Ist der Platz schon instand gesetzt?

OTTO. Natürlich. Ich hab' gestern mit Herrn Hofreiter zwei Stunden gesingelt.

FRAU WAHL. Er war in der Stimmung, Tennis zu spielen?

ERNA. Warum soll er denn nicht in der Stimmung gewesen sein, Mama? Daran kann ich nun gar nichts finden. Auf meinem Grab dürfte man Cake walk tanzen oder sogar Machich ... oh ja ... Es wäre mir eher ein sympathischer Gedanke.

DOKTOR MAUER kommt. Fünfunddreißig Jahre, groß, blonder Vollbart, Zwicker, Narbe von einem Säbelhieb auf der Stirne, dunkler Sakkoanzug, nicht elegant, aber durchaus nicht nachlässig gekleidet. Guten Abend, meine Herrschaften.

GENIA. Sie sind's, Doktor?

MAUER alle sehr schnell begrüßend. Küss' die Hand, gnädige Frau. Zu Frau Wahl. Guten Abend, Fräulein Erna, guten Abend Herr Fähnrich: Zu Genia. Der Friedrich läßt sich schön empfehlen,[223] Frau Genia, er hat noch in der Fabrik zu tun. Ich bin mit ihm bis hin gefahren, und er war so freundlich, mir das Auto zu überlassen für ein paar Krankenvisiten, die ich da heraußen zu machen habe. Er kommt später mit der Bahn.

FRAU WAHL. Wir müssen uns leider empfehlen. Zu Mauer. Hoffentlich sehn wir Sie auch bald einmal bei uns, Herr Doktor. Trotzdem wir uns, gottlob, eines ungestörten Wohlbefindens erfreuen.

ERNA. Sie müssen aber bald kommen, Doktor, im Juli reisen wir nämlich nach Tirol, an den Völser Weiher.

MAUER. Ah!

FRAU WAHL. Wir haben dort Rendezvous mit dem Gustl. Zu Otto. Das ist nämlich mein Sohn, der reist das ganze Jahr herum. Na, nicht grad das ganze – aber recht viel ... das kann man schon sagen ... Voriges Jahr war er in Indien.

ERNA. Und ich möcht' wieder einmal kraxeln.

MAUER. So? Da trifft man sich vielleicht auf irgend einer Felsenspitze. Mich zieht es nämlich auch in die Dolomiten. Zu Genia. Und ich will nicht verhehlen, gnädige Frau, daß ich große Lust hab', mir heuer den Friedrich dazu auszuborgen.

GENIA. Zu Dolomitentouren –? ... Was sagt er denn dazu ...?

MAUER. Er scheint nicht gänzlich abgeneigt.

FRAU WAHL. Ich hab' gemeint, daß der Friedrich seit ... seit ... dem Unglück von damals das Bergsteigen ganz aufgegeben hat.

MAUER. Aber doch nicht für immer.

GENIA zu Otto, erklärend. Ein Freund meines Mannes, ein gewisser Doktor Bernhaupt, ist nämlich direkt von seiner Seite weg von einem Felsen abgestürzt und auf der Stelle tot geblieben. Es sind üb rigens schon sieben Jahre her.

OTTO zu Genia. So? An dieser Partie hat Ihr Herr Gemahl teilgenommen?

ERNA nachdenklich. Man muß sagen ... er hat nicht viel Glück mit seinen Freunden.

GENIA zu Otto. Sie wissen von dieser Geschichte?

OTTO. Sie blieb mir begreiflicherweise im Gedächtnis, da sie gerade auf dem Felsen passiert ist, den – mein Vater vor mehr als zwanzig Jahren als allererster bestiegen hat.

GENIA. Richtig, der Aignerturm war es.

MAUER. Der Aignerturm ... Man hat wirklich schon vergessen, daß der nach einem lebendigen Menschen so heißt.


Kleine Pause.
[224]

ERNA. Das muß doch eigentlich ein sonderbares Gefühl für Sie sein, Herr Fähnrich, daß da in den Dolomiten ein Felsen steht, mit dem Sie gewissermaßen verwandt sind.

OTTO. Das ist gar nicht so sonderbar, Fräulein. Beide sind mir nämlich ziemlich fremd, der Felsen und mein Vater. Ich war ein Bub' von vier oder fünf Jahren, als sich meine Eltern von einander trennten ...

FRAU WAHL. Und seither haben Sie Ihren Herrn Papa nicht mehr gesehn?

OTTO. Es fügte sich so ...


Pause.


ERNA zum Gehen auffordernd. Also Mama ... ich denke, es wäre Zeit.

FRAU WAHL. Ja, wahrhaftig! – Wann wir überhaupt mit dem Auspacken fertig werden sollen! Zu Mauer. Wir sind nämlich erst am Sonntag herausgezogen. Wir führen noch nicht einmal Menage ... Wir müssen in diesem entsetzlichen Kurpark unsere Mahlzeit nehmen.

ERNA. Aber Mama, es schmeckt dir doch sehr gut.

FRAU WAHL. Aber so viel Leut' sind immer dort, besonders abends ... Also auf Wiedersehn, Frau Genia ... Gehn S' ein Stückerl mit uns, Herr Fähnrich?

OTTO. Wenn's erlaubt ist ... Adieu, gnädige Frau, bitte mich dem Herrn Gemahl zu empfehlen.

ERNA. Auf Wiedersehn, Frau Genia. Adieu, Herr Doktor.


Verabschiedung. Frau Wahl, Erna, Otto ab.

Genia, Mauer.


MAUER nach einer kleinen Pause, hat Erna nachgesehen. Das ist eine, der man beinahe die Mutter verzeihn könnte.

GENIA. Auch nicht die schlimmste, die gute Frau Wahl ... Ich find' sie eher amüsant. Wenn's also nur daran liegt! Während sie der Veranda zugeht. Ich hab's Ihnen neulich schon gesagt, überlegen Sie sich die Sache, Doktor.

MAUER halb im Scherz. Ich glaube, ich bin ihr nicht elegant genug. Folgt ihr allmählich.

GENIA ein paar Stufen hinauf. Ich hab' übrigens gar nicht gewußt, daß Friedrich auch nachher noch im Büro zu tun hätte.

MAUER. Ja, das sollt' ich Ihnen noch ausrichten, Frau Genia, er muß eine wichtige Depesche abwarten.[225]

GENIA. Amerika?

MAUER. Ja. Wegen der Patentangelegenheit mit seinen neu erfundenen Glühlichtern.

GENIA. Es ist nur eine Verbesserung, Doktor! Setzt sich.

MAUER stehend an die Balustrade gelehnt. Wie immer, jedenfalls scheint die Sache gewaltige Dimensionen anzunehmen. Ich höre, er will zubauen zu der Fabrik; den Häuserblock daneben ankaufen ...

GENIA. Ja ...

MAUER. Und nebstbei hat sich wieder das Konsortium gemeldet, das ihm so nachläuft, wegen Ankaufs der Fabrik. Morgen früh hat er eine Konferenz mit seinem Bankier.

GENIA. Mit Natter.

MAUER. Natürlich, mit Natter.

GENIA. Sie waren auch beim Begräbnis, die Natters, hör' ich.

MAUER. Ja.

GENIA. Das scharlachrote Automobil soll großes Aufsehen gemacht haben.

MAUER. Ja, was ist da zu machen? Es ist nun einmal scharlachrot.


Kleine Pause.

Genia sieht Mauer schwach lächelnd an.


MAUER. Übrigens – die Geschichte ist aus.

GENIA weiter ruhig lächelnd. Wissen Sie das ganz bestimmt?

MAUER. Ich kann Sie versichern, Genia.

GENIA. Hat Ihnen Friedrich etwa ...

MAUER. Nein, von dergleichen spricht er ja nie. Aber wozu hätte man seinen diagnostischen Blick. Es ist sogar schon geraume Zeit her, daß es aus ist. Ich versichere Sie, Frau Genia, Friedrich ist tatsächlich immer im Büro oder in der Fabrik. Sie kennen ihn ja! Seine neuen Glühlichter müssen die Welt erobern, sonst macht ihm die ganze Sache keinen Spaß. Frau Natter existiert also nicht mehr für ihn.

GENIA. Es ist immerhin beruhigend, so etwas zu hören.

MAUER. Zur Unruhe war doch wahrhaftig nie ein Anlaß. Adelchen ist im Grunde die harmloseste Person von der Welt. Wenn man nicht zufällig wüßte –

GENIA. Ja, sie! Von ihr aus drohte keinerlei Gefahr. Aber Herrn Natter halt' ich bei all seiner äußern Liebenswürdigkeit und Gutmütigkeit für einen brutalen Menschen. Sogar für etwas tückisch. Und manchmal hab' ich schon Angst gehabt um Friedrich. Das können Sie sich ja denken. Angst, wie um[226] einen Sohn, – einen ziemlich erwachsenen, der sich in zweifelhafte Abenteuer einläßt.

MAUER sitzt ihr gegenüber. Es ist wirklich interessant, wie Sie die Dinge auffassen. Man möchte fast glauben, daß Frauen, die zu Müttern geboren sind, gelegentlich die Gabe besitzen – es auch für ihre Gatten zu sein.

GENIA. Oder zu werden, lieber Doktor. Es war mir ja nicht immer so mütterlich zumute. In früherer Zeit war ich mehr als einmal nahe daran, auf und davon zu gehen.

MAUER. Oh! –

GENIA. Mit meinem Buben natürlich. Den Percy hätt' ich ihm nicht gelassen, da können Sie ruhig sein!

MAUER. Sie wollten einmal von Friedrich fortgehen ...?

GENIA. Ja, das wollt' ich ... Und ein anderes Mal hab' ich mich sogar umbringen wollen. Das ist freilich schon lange her. Vielleicht kommt's mir jetzt auch nur so vor, daß ich das – –

MAUER. Gewiß ... Das hätten Sie nie und nimmer getan ... Schon um ihm keine Ungelegenheiten zu verursachen.

GENIA. Halten Sie mich für so rücksichtsvoll? Das ist ein Irrtum, Doktor ... Es gab sogar eine Zeit, in der ich das Rücksichtsloseste vorhatte, was eine Frau einem Mann und besonders einem eiteln antun kann. Mich ... zu rächen.

MAUER. Zu rächen?

GENIA. Sagen wir zu revanchieren.

MAUER. Ach so ... Das wäre jedenfalls das einfachste gewesen. Und hätte vielleicht auch sonst manches für sich gehabt. Na, vielleicht kommt's noch. Es kann auch Ihnen einmal die Stunde des Schicksals schlagen, Frau Genia.

GENIA. Und es müßte am Ende gar nicht die Stunde des Schicksals sein.

MAUER ernst. Bei Ihnen schon. Das ist es eben. Eigentlich schade. Mein Gerechtigkeitsgefühl wehrt sich schon lange entschieden dagegen, daß gerade mein alter Freund Friedrich – nicht bezahlen sollte.

GENIA. Und wer sagt Ihnen, lieber Doktor, daß Friedrich nicht bezahlt? Muß es denn gerade in gleicher Münze sein? Er bezahlt schon – in seiner Weise! Es geht ihm wirklich nicht so gut, wie Sie glauben. Auch nicht so gut, wie er selber manchmal glaubt. Zuweilen tut er mir geradezu leid. Wirklich, Doktor, manchmal denk' ich, es ist ein Dämon, der ihn so treibt.[227]

MAUER. Ein Dämon –? Na ja! ... aber es gibt Frauen, die ihren Herrn Gemahl samt dem Dämon zum Teufel jagten in einem solchen Fall ... Auf einen fragenden Blick Genias. wie es seinerzeit zum Beispiel die Mutter des Herrn Fähnrich mit ihrem doch auch ziemlich dämonischen Gemahl gemacht hat.

GENIA. Vielleicht hat sie ihren Gatten mehr geliebt als ich den meinen. Vielleicht ist es überhaupt die höhere Art von Liebe, die nicht verzeiht.

FRIEDRICH HOFREITER kommt. Schlank, nicht sehr groß, schmales, feines Gesicht, dunkler Schnurrbart, englisch gestutzt; blondes grau meliertes, rechts gescheiteltes Haar. Er trägt Zwicker ohne Band, den er manchmal abnimmt; geht etwas nach vorn gebeugt. Kleine, ein wenig zusammengekniffene Augen. Liebenswürdige weiche, beinahe weichliche Art zu reden, die manchmal ins ironisch Bissige umschlägt. Seine Bewegungen sind geschmeidig, aber verraten Energie. Er ist mit Eleganz, ganz ohne Geckenhaftigkeit gekleidet; dunkler Sakkoanzug, darüber offener schwarzer Überzieher mit breitem Atlasrevers, runder schwarzer Hut, schlanker Regenschirm mit einfachem Griff. – Noch am Tor. Guten Abend. Im Hereinkommen. Servus Mauer. Mit einem eigentümlichen Lachen, das zu seinen Gewohnheiten gehört und das oft klingt, als wenn er sich über den Angeredeten lustig machen wollte.

MAUER. Grüß' dich Gott, Friedrich. Steht auf.

FRIEDRICH über die Stiege auf die Veranda, küßt Genia flüchtig auf die Stirn. Guten Abend, Genia. Wie geht's? Gibt's was Neues? Briefe?

GENIA. Gar nichts. Die Abendpost ist übrigens noch nicht da.

FRIEDRICH sieht auf die Uhr. Dreiviertel sieben. Den Briefträger sollt' man auch pensionieren. Von Jahr zu Jahr wird er langweiliger. Das läßt sich direkt beobachten. Vor drei Jahren war die Abendpost immer um halb sieben da. Jetzt selten vor halb acht. Wenn das so weitergeht, wird er nächstens um Mitternacht angetanzt kommen.

GENIA. Willst du vielleicht noch einen Tee?

FRIEDRICH. Dank' schön ... Ich hab' im Büro einen getrunken. Gut war er nicht. Also hat dir der Mauer ausgerichtet ...?

GENIA. Ja ... Ist die Depesche aus Amerika gekommen?

FRIEDRICH. Natürlich ... Und es ist so gut wie sicher, daß ich gegen Herbst hinübermuß.

GENIA. Du wolltest ja einen Herrn aus dem Büro hinüberschicken.

FRIEDRICH. Ah – ich muß ja doch alles selber machen. Willst[228] mitfahren, Genia? Am 29. August von Liverpool, oder am 2. September von Hamburg. Norddeutscher Lloyd. Vom King James kenn' ich den Kapitän.

GENIA. Wir sprechen uns noch bis dahin, nicht?

FRIEDRICH. Ich hoffe das Vergnügen zu haben. Er setzt sich.

GENIA. Es wird dir warm sein im Überzieher.

FRIEDRICH. Nein, ich find' es eher kühl. Ein Wetter war das. Hat's auch hier so gegossen? Auf dem Friedhof war ein Quatsch! – Womit ich nicht die Reden gemeint habe. Sei froh, daß du nicht ... Wirklich, das sollt' endlich abgeschafft werden! Was die wieder zusammengeplauscht haben. – Pause. Na, Mauer, wie bist du denn herausgekommen? Nichts passiert? Wie seid's ihr denn gefahren? Zehn Kilometer die Stund', was? Auf mehr laßt du dich doch nicht ein.

MAUER. Du kannst mich lang frotzeln. Ich trau' keinem Chauffeur. Ich bin ganz wie du, ich verlass' mich nur auf mich selber. In den letzten acht Tagen hab' ich wieder drei Verletzungen nach Automobilunfällen in Behandlung gekriegt.

FRIEDRICH. Richtig, wie geht's denn dem Stanzides?

MAUER. Für einen doppelt gebrochenen Arm gut genug. Ich will jetzt eben noch zu ihm hinschaun. Sehr ungeduldig ist er halt. Und er sollte eigentlich froh sein, daß er sich nicht das Genick gebrochen hat.

FRIEDRICH. Ich auch, das vergißt du. Ich bin nämlich auch zehn Meter weit auf die Straße hinaus geflogen. – Aber es ist schon wahr, die Versicherungsgesellschaften werden bald keine Bekannten von mir annehmen wollen.

MAUER. Du hast wirklich kein Glück mit deinen Freunden, wie das vor einer halben Stunde die Erna Wahl behauptet hat.

FRIEDRICH. So, die Erna ist dagewesen?

GENIA. Ja, mit der Mutter. Sind eben in Begleitung des Herrn Fähnrich fortgegangen.

FRIEDRICH. So, der Otto war auch da? ... Zu Mauer. Hast ihn gesehn?

MAUER. Ja.

FRIEDRICH. Wie g'fallt er dir denn eigentlich?

MAUER etwas befremdet von der Frage. Ein ganz netter Bursch.

FRIEDRICH. Merkwürdig wie er an seinen Vater er innert! Dieselbe Couleur in Grau. Findest du nicht?

MAUER. Möglich ... Der Doktor von Aigner war übrigens nie mein Fall. Zu viel Poseur für meinen Geschmack.[229]

FRIEDRICH. Ah, er hat nur Stil. Das verwechselt man oft. Auch schon lang her, daß ich ihn zuletzt gesehn hab'. Vor sieben Jahren. In Bozen. Erinnerst du dich, Genia?

GENIA. Freilich. Zu Mauer. Mir hat er sehr gut gefallen.

FRIEDRICH. Ja, er hat damals eine gute Zeit gehabt. Jedenfalls war er besser aufgelegt wie ich. Zu Mauer. Weißt, das war nämlich grad ein paar Tag', nachdem die Geschichte mit dem Bernhaupt passiert ist. Na und der Aigner ist damals gerade von einer Wahlreise zurückgekommen; sehr montiert; irgendwo war er angeschossen worden, in einem südtirolischen Nest, von Irredentisten, darauf hat er natürlich von den Deutschen riesige Ovationen bekommen ... nebstbei hat er jeden Tag zwei bis drei Reden zu halten gehabt ...

MAUER. Reden! Ja! Das war immer sein Fall. Schon damals als Präsident des Touristenklubs, wie ich im Ausschuß war. Na, und gar jetzt als Abgeordneter ... Da hat er reichlich Gelegenheit!

FRIEDRICH. Ah, er redt nicht nur; – er tut auch was fürs Land. Die neuen Dolomitenstraßen wären ohne ihn nie gebaut worden. Und diese Riesenhotels und die Automobilverbindungen, eigentlich alles sein Werk! Und nebstbei hat er in jedem Tiroler Dorf mindestens ein Kind. Auch außerhalb seines Wahlkreises.

MAUER. Also gut, sagen wir, er hat Stil. Aber ich muß jetzt gehn. Der Stanzides wird mich schon erwarten. –

FRIEDRICH. Grüß' ihn schon von mir. Ich schau' vielleicht morgen zu ihm hinauf. Zum Nachtmahl kommst du doch wieder her?

MAUER. Ich weiß nicht.

FRIEDRICH. Aber selbstverständlich.

MAUER zögernd. Danke. Ich fahr' doch lieber mit dem zehn Uhr zwanzig Zug hinein. Ich hab' morgen früh im Spital zu tun.

FRIEDRICH. Bist du abergläubisch, Mauer?

MAUER. Warum denn?

FRIEDRICH. Na, ich hab' gedacht, vielleicht willst du nicht im Fremdenzimmer schlafen, weil der arme Korsakow vor acht Tagen oben übernachtet hat. Aber ich glaube nicht, daß die Toten schon in der ersten Nacht Ausgang kriegen zum Erscheinen.

MAUER. Wenn man dich so reden hört ...!

FRIEDRICH plötzlich ernst. Kinder, es ist doch scheußlich! Vor acht[230] Tagen hat er da oben geschlafen, und am Abend vorher hat er noch Klavier gespielt da drin – Chopin – das cis moll-Nocturno – und was von Schumann –, und da auf der Veranda sind wir gesessen, der Otto war auch dabei und das Natternpaar, – wer von uns hätt sich das träumen lassen! – Wenn man nur eine Ahnung hätte, warum? Na, Genia, – hat er dir auch nichts g'sagt?

GENIA. Mir? ...

FRIEDRICH ohne Genias Haltung Bedeutung beizulegen. Plötzliche Sinnesverwirrung, sagen die Leute. Aber es soll uns erst einer sagen, was das heißt: Plötzliche Sinnesverwirrung. Na, Mauer, möchtest du mir's vielleicht erklären?

MAUER. Erstens bin ich kein Psychiater – und zweitens wunder' ich mich nie, wenn sich wer umbringt. Wir sind alle so oft nahe daran. Ich hab' mich einmal umbringen wollen, mit vierzehn Jahren, weil mich ein Professor ins Klassenbuch geschrieben hat.

FRIEDRICH. In einem solchen Falle hätt' ich lieber den Professor umgebracht ... Nur wäre ich dann ein Massenmörder geworden.

MAUER. Ich bitt' dich, ein Künstler! Die sind alle mehr oder weniger anormal. Schon daß sie sich so wichtig nehmen. Der Ehrgeiz an und für sich ist ja eine Geistesstörung. Dieses Spekulieren auf die Unsterblichkeit! Und die reproduzierenden Künstler, die haben's gar schlecht. Sie mögen so groß sein, wie sie wollen, es bleibt doch nichts übrig als der Name und nichts von dem, was sie geleistet haben. Ich glaub' schon, daß einen das verrückt machen kann.

FRIEDRICH. Aber was redst denn! Du hast ihn ja nicht gekannt. Ihr habt ihn ja alle nicht gekannt. Ehrgeiz ... Der? – Dazu war er ja viel zu gescheit! Zu philosophisch könnt' man sagen. Die Klavierspielerei war ihm in Wirklichkeit Nebensache. Habt ihr denn eine Ahnung, für was alles der sich interessiert hat? Den Kant und den Schopenhauer und den Nietzsche hat er im kleinen Finger gehabt, und den Marx und den Proudhon gleichfalls. Es war ja fabelhaft. Ich weiß schon, wen ich mir aussuch' zum Konversieren ... Und dabei täglich sechs Stunden üben! Wo er nur die Zeit zu dem allen hergenommen hat? – Und siebenundzwanzig Jahre! Und bringt sich um. Herr Gott, was hat so ein Kerl noch alles vor sich gehabt. Jung und berühmt, ganz hübsch obendrein – und schießt sich tot.[231] Wenn das ein alter Esel tut, dem das Leben nichts mehr bieten kann ... Aber grad die ... Na. – Und noch am Abend vorher sitzt man zusammen mit so einem Menschen, beim Nachtmahl – und spielt Billard mit ihm ... Was ist denn, Genia? Was ist denn da zum Lachen?

GENIA. Ich hab' die Geschichte eben der Frau Wahl erzählt. Sie hat sich sofort erkundigt, wo die Zigarren hingekommen sind, die du ihm am nächsten Tag geschickt hast.

FRIEDRICH. Ha! ... Die ist doch unbezahlbar. Nimmt eine Zigarrentasche herauf offeriert dem Mauer. Du bist ja nicht abergläubisch. Ich rauch' grad auch eine. Der Franz hat sie mir natürlich zurückgebracht.

MAUER. Danke. Es ist eigentlich schad' drum vor dem Nachtmahl. Nimmt sie.

FRIEDRICH gibt ihm Feuer.

STUBENMÄDCHEN kommt mit Briefen.

GENIA nimmt sie ihr am der Hand. Eine Karte von Percy.

FRIEDRICH. Dear mother. An dich. Schon wieder nur eine Karte. So ein fauler Strick.

MAUER. Was soll denn ein dreizehnjähriger Bursch Briefe schreiben. Und gar noch englisch.

FRIEDRICH. Kann er grad so gut wie deutsch.

MAUER. Also auf Wiedersehn. In einer halben Stunde bin ich wieder da. Die Zigarre hat übrigens wirklich keine Luft. Das ist kein Aberglaube. Bleib nur. Ab.


Friedrich, Genia.


FRIEDRICH. Ja, es war ganz gut, daß du nicht hineingefahren bist, Genia. Die Reden ... und das Wetter dazu. Er sieht die Briefschaften und die Zeitungen flüchtig durch. Übrigens, wie man den Sarg in die Erde gesenkt hat, ist plötzlich die Sonne hervorgekommen. – Pause. Ist heut nicht Donnerstag? Heut hätt' er ja bei uns nachtmahlen sollen. Das muß man dem Mauer auch noch sagen ... Geh, laß mich doch die Karte von Percy anschaun.

GENIA reicht sie ihm. In vier Wochen ist er da.

FRIEDRICH lesend. Ja. Also die beste griechische Aufgabe. Na, auch nicht schlecht. Vielleicht wird er Philoiog oder Archäolog. Hast du übrigens gestern im Daily Telegraph den Artikel über die neuen Ausgrabungen in Kreta gelesen?[232]

GENIA. Nein.

FRIEDRICH. Sehr interessant. Da müßte man eigentlich auch einmal hin. Ja. Pause.

GENIA. Was du da früher von Amerika gesagt hast, – ist das dein Ernst?

FRIEDRICH. Natürlich. Na, hättest du keine Lust, Genia? In New York selbst hätt' ich nicht lang zu tun. Aber dafür auch in Chicago und in Washington, und St. Louis ... Und ich finde, es wäre unverantwortlich, wenn man bei dieser Gelegenheit nicht weiter rutschte; – hinüber bis nach San Francisco. Erinnerst du dich, wie uns der arme Korsakow von seiner Tournee durch Kalifornien erzählt hat? Es muß schon prachtvoll sein.

GENIA. Das wäre ja dann eine Reise von ein paar Monaten.

FRIEDRICH. Ja, wenn bis dahin hier alles in Gang gebracht ist, insbesondere der Neubau, dann könnte man die Reise wohl bis zum Frühjahr ausdehnen ... Na, überleg's dir.

GENIA schüttelt langsam den Kopf.

FRIEDRICH. Hast Angst vor der Seefahrt? Ich bitt' dich, jetzt auf den neuen Schiffen! Und übrigens ist soeben wieder ein vollkommen sicheres Mittel gegen Seekrankheit erfunden worden. Vibrationselektrizität.

GENIA. Ich glaub' nicht, daß ich mich entschließen werde. Trotz der Vibrationselektrizität. Aber eine andere Idee hätt' ich ...

FRIEDRICH. Und zwar?

GENIA. Während du drüben bist, möcht' ich in England bleiben – beim Percy.

FRIEDRICH sieht sie von der Seite an. Hm. Du hättest nicht viel von ihm.

GENIA. Er könnte ja während der Zeit als Externist weiterstudieren. Grad so wie die Buben von meiner Schwester, der Mary. Und ich könnte mit ihm zusammenwohnen.

FRIEDRICH. Was sind denn das ... wie kommst du denn so plötzlich auf diese Idee ...?

GENIA. Nicht so plötzlich. Ich habe erst neulich mit dir davon gesprochen. – Erinner' dich nur. Und da du doch entschlossen scheinst, ihn noch ein paar Jahre drüben zu lassen ...

FRIEDRICH. Natürlich. Du siehst ja, wie famos er sich drüben entwickelt. Es wäre nichts als verdammter Egoismus, wenn wir ihn jetzt, mitten in seiner Ausbildung, wieder zurückholten, in unsern Kontinent, wo sie einen systematisch zu[233] allerlei Sentimentalitäten und Brutalitäten erziehen, statt zum Golfspielen und Rudern.

GENIA. Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre ...

FRIEDRICH. Ja, das muß man schon mit in den Kauf nehmen. Meinst du vielleicht, ich sehn' mich nicht nach ihm? Aber Sehnsucht ist meiner Ansicht nach ein sehr gesundes Element in der Ökonomie der Seele. Sehnsucht hat die Eigenschaft, menschliche Beziehungen zu verbessern. Ich finde überhaupt, man sollte die menschlichen Beziehungen mehr auf Sehnsucht einrichten als auf Gewohnheit. Übrigens können wir ihn ja jedenfalls hinüberbegleiten nach England, und du kannst dich dann noch immer entscheiden, ob du mit mir fahren oder beim Buben bleiben willst über den Winter.

GENIA. Es wäre mir lieber, wenn du die Sache schon heute als meinen festen Entschluß ansähst.

FRIEDRICH. Als deinen Entschluß?

GENIA. Ich hätte ja noch allerlei zu besorgen, eh' ich nach England fahre. Von heute auf morgen läßt sich doch so eine Übersiedlung nicht bewerkstelligen.

FRIEDRICH. Übersiedlung?

GENIA. Nenn's, wie du willst.

FRIEDRICH. Ja, was hast du denn, Genia? Du bist ja geradezu sonderbar?

GENIA. Was ist denn daran sonderbar? Daß eine Mutter ... daß man seinen einzigen Sohn ... Wenn er um ein paar Jahre älter ist, hab' ich ja überhaupt nichts mehr von ihm. Im Sommer zwei Monate, und zu Weihnachten acht Tage und zu Ostern, – das ist doch zu wenig. Ich hab' lang genug gekämpft, – ich kann einfach nicht mehr.

FRIEDRICH. Du, Genia, man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, als wenn's dir nicht so sehr darauf ankäme, einige Zeit bei deinem Sohn zu verbringen, als von deinem ... als von hier abzufahren.

GENIA. Sonderlich vermissen wirst du mich wohl nicht, denk' ich ... Aber wozu darüber reden. Sie steht auf.

FRIEDRICH. Was ist denn?

GENIA. Nichts. In den Garten hinunter geh' ich. Über die Stufen hinab.

FRIEDRICH sieht ihr nach.

GENIA langsam längs der Wiese nach rückwärts.

FRIEDRICH von der Veranda herunter, noch im Überzieher, den Hut hat[234] er oben gelassen, bleibt an einem Rosenstrauch stehen. Riecht daran. Die haben heuer überhaupt keinen Duft mehr. Ich weiß nicht, was das ist. Jedes Jahr schaun sie üppiger aus, aber das Duften haben sie sich ganz abgewöhnt.

GENIA langsam nach rückwärts, Hände auf dem Rücken.

FRIEDRICH nach einer Pause. Du, – Genia.

GENIA. Was?

FRIEDRICH. Na, wenn du bei mir angelangt bist.

GENIA langsam näher. Da bin ich.

FRIEDRICH. Du, Genia, sag' einmal. Faßt sie ins Auge, ganz ruhig. Solltest du vielleicht doch wissen, warum sich der Korsakow erschossen hat?

GENIA ruhig. Was soll denn diese Frage bedeuten? Du weißt, ich bin nicht weniger erstaunt gewesen als du.

FRIEDRICH. Man hatte allerdings den Eindruck. Also sag', warum willst du denn fort von mir ... so von heut auf morgen?

GENIA. Ich will nicht fort von dir. Zu Percy will ich. Und nicht von heut auf morgen, sondern im Herbst. Mit Percy zusammen.

FRIEDRICH. Ja, sonst wär' es wohl zu auffallend.

GENIA. Was wäre auffallend?

FRIEDRICH. Da säh's ja beinahe aus wie eine Flucht.

GENIA. Flucht? Flucht vor dir! Das hab' ich wohl nicht notwendig. Wir sind ja weit genug voneinander, auch daheim! – Pause.

FRIEDRICH. Du Genia! – Er ist ja tot und begraben, – der Herr Alexei Korsakow ...

GENIA. Was willst du denn immer von ihm?

FRIEDRICH. Ruhig, mein Kind, nur ruhig! ... Ich will damit nur sagen, es kann ihm nicht das geringste mehr ... Es würde ihm natürlich auch nichts geschehn, wenn er noch auf der Welt wäre, so wenig wie dir ... Aber du wirst doch zugestehn, diese Auseinandersetzung zwischen uns bekommt ein eigentümliches Cachet ... nein, das ist nicht das richtige Wort ... also ich will nur sagen, daß dieses Gespräch gerade heute stattfindet, daß gerade heute, an dem Tag, da der Herr Korsakow begraben wurde, deine Stimmung so eigentümlich ... Wenn ich auch ein Ehemann bin, Genia, ich bin ja kein Trottel. Also, daß da irgend etwas nicht stimmt, dafür leg' ich meine Hand ins Feuer. Also – was ist gewesen zwischen euch?[235]

GENIA. Ich schau' dich nur an.

FRIEDRICH. Ja, das merk' ich. Aber du wirst zugeben, eine Antwort ist das nicht. Du solltest mich auch nicht mißverstehn, Genia. Es muß ja nichts Wirkliches vorgefallen sein, zwischen dir und Korsakow. Es war vielleicht nur ein Flirt. Ja. Denn, wenn es etwas andres gewesen wäre, hätte er sich nicht zu erschießen brauchen. Außer Lauernd. es ist doch mehr gewesen – und du hast ihn – – – in Gnaden entlassen. Er spricht immer ganz ruhig, nimmt sie aber jetzt beim Arm.

GENIA beinahe lächelnd. Eine Eifersuchtsszene?! – Aber! ... Du solltest wirklich was für deine Nerven tun, Friedrich. Ich weiß nicht ... aber ich kann ja nichts dafür, daß es zwischen dir und Adele Natter zu Ende ist, – und daß noch keine Nachfolgerin da zu sein scheint.

FRIEDRICH. Ah, du bist ja sehr gut informiert. Na, ich will vorläufig nicht untersuchen, von welcher Seite dir diese Wissenschaft kommt, – übrigens kann ich wirklich nichts dafür, daß du mich nie direkt um was gefragt hast; – ich hätte dir nichts abgeleugnet. Keinesfalls hätte ich dir erwidert, du sollst etwas für deine Nerven tun. Das ist überhaupt ... das sieht dir nicht einmal ähnlich. Ich versteh' dich eigentlich gar nicht. Du solltest mich doch besser kennen. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum du dastehst wie eine Bildsäule, statt mir vernünftig zu antworten ... Mir scheint, du traust mir nicht, Genia? ... Du denkst dir, man kann bei ihm nicht wissen? ... Aber ich versichere dich, Genia – halt das nicht für Hinterlist – ich würde es vollkommen begreifen. Du hättest ja schließlich nur Recht gehabt – ob's nun Alexei war oder ... na, über den Geschmack kann man ja nicht streiten. Aber bekanntlich richtet sich in einem solchen Fall die Gattin selten nach dem Geschmack des Gemahls.

GENIA. Warum verleugnest du ihn plötzlich? Du bist ja doch sein Freund gewesen. Heut beim Begräbnis sollst du ja sogar tief ergriffen gewesen sein.

FRIEDRICH. Hat dir das auch der Mauer erzählt?

GENIA. Das zufällig die Erna Wahl. Sie hätte dir nämlich gar nicht zugetraut, daß dir irgend etwas auf der Welt so nahe gehn kann.

FRIEDRICH. Ah, Erna, die Menschenkennerin. Natürlich war ich ergriffen. Es tut mir so leid um ihn, wie's mir selten um wen leid getan hat. Und es tät' mir nicht weniger leid um ihn,[236] wenn ich mit absoluter Sicherheit wüßte, daß du – seine Geliebte gewesen bist. Du kannst dir nämlich gar nicht vorstellen, wie – unwesentlich und nebensächlich gewisse Dinge für einen werden, wenn man grad vom Friedhof kommt. Das sag' ich nicht, um dich zu beruhigen, sondern weil's wahr ist. – Also gib endlich eine Antwort. Früher geb' ich ja keine Ruh'. Kannst auch lügen, aber antworten mußt du. Ich werd' schon wissen, ob's wahr ist. Also ... ja oder nein? –

GENIA. Er war nicht mein Geliebter. Er war leider nicht mein Geliebter. Ist dir das genug?

FRIEDRICH. Ja, das ist mir genug. Denn jetzt weiß ich, daß er's war. Du hast dich nämlich selbst verraten! Merkst nicht? – Leider war er's nicht, hast du gesagt. Und da du ihn geliebt hast, warst du natürlich seine Geliebte. Was hätte dich daran hindern sollen? Und da du jetzt – Schluß gemacht hast, hat er sich eben umgebracht. Sehr einfach. Und warum du Schluß gemacht hast, das ist noch einfacher. Ich werd's dir sagen, warum: Weil solche Dinge eben ein Ende haben müssen. Besonders, wenn es sich um so eine Geschichte handelt mit einem Menschen, der um ein paar Jahre jünger ist – und sich meistens auf Konzertreisen befindet. Und dann, der Percy kommt bald zurück, und da mag dich denn ein gewisses, wie soll ich sagen, Reinlichkeitsgefühl ... Na ... Eigentlich sehr anständig. Somit wäre alles ganz klar, bis auf die Idee mit der englischen Reise. Nein, eigentlich versteh' ich auch das ganz gut. Schließlich, wenn die Sache auch zu Ende war für dich, – dieser Abschluß ... Ja, sogar, wenn du ihn nicht sehr leidenschaftlich geliebt hast – oder hättest ...

GENIA. Bemüh' dich nicht weiter. Da lies. Sie zieht einen Brief aus ihrem Gürtel.

FRIEDRICH. Was soll ich ...?

GENIA. Lies.

FRIEDRICH. Was ist ... Ein Brief? Von ihm ein Brief? An dich ein Brief von ihm? – Ah, behalt ihn. Ich will ihn nicht. Das säh' ja aus ... Ich danke. Wenn es nicht deine Absicht war, mir diesen Brief zu zeigen, – so behalt ihn dir freundlichst!

GENIA. Lies!

FRIEDRICH. Warum soll ich ihn denn lesen? Du kannst mir ja sagen, was drin steht. Ist er nicht vielleicht russisch? Und die kleine Schrift. Da verdirbt man sich ja die Augen.

GENIA. Lies.[237]

FRIEDRICH auf die Veranda. Er dreht das Licht auf, Wandarm stellt sich darunter setzt den Zwicker auf, beginnt für sich zu lesen.

GENIA folgt ihm langsam, bleibt auf der untersten Stufe stehn.

FRIEDRICH lesend. »Leben Sie wohl, Genia.« Liest für sich weiter. Blickt auf zu ihr, erstaunt. Was? Du hast keine Ahnung gehabt, daß er ... Wann hast du denn den Brief bekommen?

GENIA. Eine Stunde, bevor du mir die Nachricht gebracht hast, daß er tot ist.

FRIEDRICH. Du hast's also schon gewußt, wie ich nach Haus gekommen bin? Man ist doch ... Also auf die Gefahr hin, daß du mich für einen Idioten hältst, ich hab' dir nichts angemerkt, nicht das geringste ... Liest weiter für sich, dann schaut er wieder wie überrascht auf, dann liest er halblaut. »Sie hatten ja vielleicht recht, daß Sie sich meinem vermeßnen Wunsch versagten. Wir waren beide nicht geschaffen in Lüge ... Ich vielleicht; Sie nicht ... trotz allem ...« Trotz allem ... Du hast dich wohl sehr beklagt über mich?

GENIA fragender Blick.

FRIEDRICH lesend. »Daß Sie Ihn« – mit großem I, sehr schmeichelhaft – »daß Sie Ihn nicht verlassen wollen, trotz allem, das versteh' ich in dieser Stunde. Sie lieben ihn, Genia, Sie lieben Ihren Gatten noch immer, das ist die Lösung des Geheimnisses. Und vielleicht ist das, was ich mit dem törichten Wort« ... das kann ich absolut nicht lesen ...

GENIA. »Was ich mit dem törichten Wort Treue bezeichne« ...

FRIEDRICH. Ah, du kennst ihn ja auswendig. »Was ich mit dem törichten Wort Treue bezeichne, nichts als die Hoffnung, daß er Ihnen doch einmal zurückkehrt.«

GENIA. Seine Auffassung. Du weißt, daß ich nichts hoffe – und nichts wünsche.

FRIEDRICH sieht sie an; dann. »Als ich Sie gestern sprach, war ich schon entschlossen« Gestern? ... War er denn am Sonntag da? Ja, richtig, ihr seid in der Allee hinten auf und ab gegangen miteinander ... ja ... Liest. »Als ich Sie gestern sprach, war ich schon fest entschlossen, alles weitere von Ihrem ja oder nein abhängig zu machen. Ich habe Ihnen ja nichts davon gesagt, denn ich fürchtete, wenn Sie geahnt hätten, daß es mir vollkommen unmöglich ist, ohne Sie weiterzuleben ...« Etwas ausführlich schreibt er, der Herr Alexei Iwanowitsch ... Musik vom Kurpark her, gedämpft. »Ich wollte mein Glück nicht einem Zwang, nicht einer Art von Erpressung verdanken.[238] Darum« ... Hättest du ja gesagt, wenn du gewußt hättest, daß es um Leben und Tod geht?

GENIA. Wenn ich gewußt hätte ...? Wie kann man sich so was ... Ich hätt's ja nicht geglaubt. Das hätt' ich ja doch nicht geglaubt.

FRIEDRICH. Ich will dich anders fragen.

PAUL KREINDL elegant, jung, angestrengt fesch, erscheint am Tor. Guten Abend! Küss' die Hand, gnädige Frau.

FRIEDRICH. Wer ist denn? ... Ah, Paul, Sie! Herunter.

PAUL. Bitte. Er tritt näher. Ich will nicht stören. Ich komme nämlich als Abgesandter aus dem Kurpark; von Frau Wahl und Fräulein Erna und Herrn Fähnrich von Aigner und dem Herrn Oberleutnant Stanzides ...

FRIEDRICH. Der geht schon aus?

PAUL. Ob die Herrschaften nicht auch zur Musik kommen möchten?

GENIA. Wir danken sehr, aber wir haben einen Gast zum Nachtmahl, den Doktor Mauer.

PAUL. So bringen Sie ihn doch mit, gnä' Frau!

FRIEDRICH. Sie bleiben ja gewiß alle lang im Park.

PAUL. Bis ausgelöscht wird.

FRIEDRICH. Also schön, – vielleicht kommen wir nach ... ohne Verpflichtung.

GENIA. Wir lassen jedenfalls bestens danken.

PAUL. O bitte. Man würde allerseits sehr beglückt sein. Küss' die Hand, gnädige Frau, adieu, Herr Hofreiter, bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich gestört habe. Geht.


Friedrich und Genia im Garten.

Pause.


FRIEDRICH. Ich will dich anders fragen. Ich meine: Wenn du ihn von den Toten wieder aufwecken könntest, – dadurch, daß du dich bereit erklärtest ... seine Geliebte zu werden.

GENIA. Ich weiß nicht.

FRIEDRICH. Du, vergißt, was du früher gesagt hast. »Er war leider nicht mein Geliebter«. Wenn du selbst es bedauerst, daß du's nicht warst, so kann doch nicht so viel dazu gefehlt haben. Und jetzt zweifelst du daran, daß du seine Geliebte würdest, selbst wenn du ihn damit wieder von den Toten ... Warum gibst du's nicht zu? Er hätte nur noch ein paar Tage Geduld[239] haben müssen, dann wärst du doch ... du hast ihn ja geliebt.

GENIA. Nicht genug, wie du siehst.

FRIEDRICH. Du sprichst das aus, als wenn du mir einen Vorwurf ... Ich kann ja nichts dafür.

GENIA. Nur ich. Ich weiß.

FRIEDRICH. Und jetzt bereust du ... daß du ... ihn in den Tod getrieben hast?

GENIA. Es tut mir sehr weh, daß er gestorben ist. Aber zu bereuen, zu bereuen hab' ich doch nichts?! Hätt' er mir gesagt, was er vorhat – hätt' er mir ... Oh, ich hätt' ihn schon zur Vernunft gebracht ...

FRIEDRICH. Wie denn –?

GENIA. Ich hätt' ihm das Wort abgenommen ...

FRIEDRICH. Was denn? Aber red' nicht! Du hättest ihm kein Wort abgenommen; – du wärst einfach seine Geliebte geworden ... selbstverständlich.

GENIA. Ich glaub' nicht.

FRIEDRICH. Aber ich bitt' dich!

GENIA. O, nicht deinetwegen. Nicht einmal wegen Percy.

FRIEDRICH. Ja, warum?

GENIA. Um meinetwillen!

FRIEDRICH. Das versteh' ich nicht.

GENIA. Ich hätt' nicht können. Weiß Gott warum. Ich hätt' nicht können. Pause.

FRIEDRICH. Da hast deinen Brief, Genia.

GENIA nimmt ihn.


Mauer kommt.


MAUER. Guten Abend, meine Herrschaften. Ich hab' euch hoffentlich nicht zu lange warten lassen.

FRIEDRICH ihm entgegen. Servus, Mauer. Na, dem Stanzides scheint's ja schon sehr gut zu gehn. Er sitzt im Kurpark bei der Musik.

MAUER. Ja, ich hab' ihn selber bis hin begleitet.

FRIEDRICH. Der Paul Kreindl war g'rad da, wir sollen auch nach dem Nachtmahl hinkommen.

GENIA. Ich will sehen, ob noch nicht ...

FRIEDRICH. Du, Genia, ich hätt' eine Idee ... Gehn wir doch gleich hinüber in den Park. Weiß der Teufel, ich hab' so eine Lust auf Musik und viel Leut'. Dir ist's doch egal, Mauer, was?

MAUER. Mir? Es kommt nur auf deine Frau an.[240]

GENIA. Ich will euch nicht stören, aber ich für meine Person möcht' lieber zu Haus bleiben.

FRIEDRICH. Nein, das hat keinen Sinn. Komm nur mit, Genia, es wird dir auch ganz gut tun.

GENIA. Ich müßt' mich umkleiden ...

FRIEDRICH. So kleid' dich halt um, wir warten indes da im Garten.

GENIA. Liegt dir so viel daran?

FRIEDRICH zu Mauer. Was sagst du?! Nervös. Also bleiben wir alle schön zu Haus ... Schluß.

GENIA. Ich komm' gleich ... Ich setz' nur meinen Hut auf. Ab.


Mauer, Friedrich.


FRIEDRICH nach einer Pause. Ja, lieber Mauer, ja, ja ...

MAUER. Ich begreif' dich eigentlich nicht .... Das muß doch einer Hausfrau unangenehm sein.

FRIEDRICH. Na, im Kurpark kriegst du auch ganz gut zu essen. Pause. Übrigens – daß du heute hineinfahrst, ist vielleicht doch ganz gut. – Die Chancen für Geistererscheinungen in diesem Haus haben sich nämlich beträchtlich gesteigert.

MAUER. Was?

FRIEDRICH. Du verdienst eigentlich mein Vertrauen nicht, weil du alles mögliche ausplauschst, sogar was ich dir nicht einmal erzählt hab' ...

MAUER. Was heißt das?

FRIEDRICH. Na, daß die Geschichte mit der Adele Natter aus ist, woher weiß die Genia das?

MAUER. Du solltest froh sein, daß man einmal auch etwas Vernünftiges von dir erzählen kann.

FRIEDRICH. Na, ob gerade das so besonders vernünftig war ... Ach Gott, Mauer, das Leben ist schon eine komplizierte Einrichtung! ... Aber interessant ... sehr interessant!

MAUER. Was hast du denn früher gemeint mit den gesteigerten Chancen für Geistererscheinungen?

FRIEDRICH. Ja so. – Na, was glaubst du, warum sich der Korsakow umgebracht hat? – Na, rat einmal!! – Aus unglücklicher Liebe – zu meiner Frau. Was, da schaust du?! Aus unglücklicher Liebe! ... Das gibt's! ... Einen Brief hat er ihr hinterlassen. Den hat sie mir zum Lesen gegeben ... Einen sehr merkwürdigen Brief ... gar nicht schlecht geschrieben ... für einen Russen![241]

GENIA kommt mit Hut, Man hört jetzt die Musik wieder deutlicher. Da bin ich. Also, lieber Doktor, jetzt will ich's Ihnen sagen: Nur Ihretwegen lass' ich unser gutes Nachtmahl im Stich. Die Erna ist nämlich im Kurpark ...

FRIEDRICH. Ah? Die Erna! Zu Mauer. Ja, das wär' was. Na, Mauerl, nimm dich zusammen. Die gönn' ich nicht jedem. Obwohl sie mich, wie es scheint, für einen herzlosen Schuften hält, und mir nicht einmal zutraut, daß der Tod eines Freundes ...


Sie verlassen alle den Garten und treten auf die Straße.

Vorhang.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 2, Frankfurt a.M. 1962, S. 219-242.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das weite Land
Das weite Land: Tragikomödie in fünf Akten
Professor Bernhardi / Das weite Land.
Das weite Land: Dramen 1910-1912
Das weite Land

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon