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[729] Doch nun kam eine schlimme Zeit für sie. Es war, als hätte es das Schicksal darauf angelegt, sie alle Widerwärtigkeiten und Häßlichkeiten bürgerlicher Familienverhältnisse in der Nähe sehen zu lassen. Oder war es nur, daß allmählich ihre Augen sich weiter aufgetan hatten als bisher? Dreimal hintereinander sah sie in verwüstete Ehen. Zuerst waren es zwei noch junge Eheleute, die, ohne Rücksicht auf ihre zwei Kinder von sechs und acht Jahren und ohne die geringste Rücksicht auf Therese, einander während[729] der Mahlzeiten so furchtbare Dinge ins Gesicht sagten, daß sie glaubte vor Scham vergehen zu müssen. Bei dem asten Streit, den sie miterleben mußte, stand sie einfach von Tische auf. Als sie das ein paar Tage darauf wieder versuchte, rief der Gatte sie zurück, verlangte, daß sie bliebe, er müsse unbedingt einen Zeugen für die Beschimpfungen haben, denen er von seiner Frau ausgesetzt sei. Das nächste Mal war es wieder die Frau, die das gleiche von Theresen forderte. Die beiden sahen oft Gesellschaft bei sich, bei welcher Gelegenheit sie vor den Eingeladenen sich als glückliches Paar gebärdeten. Zuweilen aber, und das war für Therese das Unbegreiflichste, schienen sich die beiden Gatten auch wirklich aufs beste zu verstehen, und wie sonst von gegenseitigen Beschimpfungen, so war Therese manchmal auch Zeugin von Zärtlichkeiten, die sie fast noch peinlicher und widerwärtiger berührten als die üblichen Zänkereien.

Die nächste Stellung in einem wohlgehaltenen und wohlhabenden Hause, wo ihr der Beruf des Mannes, der auch abends nur selten daheim war, ein Geheimnis blieb, benagte ihr anfangs nicht übel. Das siebenjährige Mädchen, das ihrer Obhut anvertraut war, war hübsch, zutraulich und klug, die Mutter, die an manchen Tagen ihr Zimmer kaum verließ, an anderen von früh bis abends außer Hause blieb und sich um ihr Kind in einer für Therese völlig unfaßbaren Weise überhaupt nicht zu kümmern schien, kam ihr besonders freundlich entgegen; diese Freundlichkeit nahm immer zu, und allmählich nahm sie eine Form an, die Therese anfangs mit Befremden, bald mit Abscheu und endlich mit Angst erfüllte. Fluchtartig verließ sie eines Morgens, nach einer Macht, in der sie ihr Zimmer hatte versperrt halten müssen, das Haus und schrieb am Bahnhof, von dem aus sie für ein paar Tage zu ihrem Buben nach Enzbach fuhr, an den Herrn des Hauses, daß sie plötzlich zu ihrer erkrankten Mutter habe reisen müssen.

In der nächsten Stellung als der Erzieherin zweier aufgeweckter Knaben von sieben und acht Jahren war es das Verhalten ihres Dienstherrn, das ihr ein Verbleiben unmöglich machte. Zuerst glaubte sie gewisse Blicke und scheinbar zufällige Berührungen nur mißzuverstehen, um so mehr, als das Verhältnis zwischen dem Mann und der jungen, noch hübschen Frau ein völlig ungetrübtes zu sein schien. Bald aber konnte sich Therese über die Absichten des Gatten, der ihr im übrigen gar nicht übel gefiel, keiner Täuschung mehr hingeben, sie mußte sich gestehen, daß sie ihm auf die Dauer nicht hätte Widerstand leisten können oder[730] gar wollen, bis ein ganz brutaler Annäherungsversuch, den er eines Abends wagte, während Frau und Kinder im Nebenzimmer weilten, sie mehr mit Schrecken als mit Widerwillen erfüllte und sie wieder zu überstürztem Abschied nötigte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 729-731.
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