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[774] Therese fand eine Stellung im Hause eines Bankdirektors zu zwei kleinen Mädchen von acht und zehn Jahren. Sie hatte sich fest vorgenommen, niemals wieder etwas über ihre Pflicht hinaus zu tun, ihr Herz und ihre Seele ganz unberührt zu halten und stets eingedenk zu sein, daß sie in jedem Hause eine Fremde war und blieb. Trotzdem verspürte sie schon nach wenigen Tagen eine lebhafte, immer wachsende Sympathie für das jüngere Mädchen, das von rührend anschmiegsamer Natur war; um so absichtsvoller verhärtete sich ihr Herz gegenüber dem älteren Mädchen. Der Bankdirektor war ein Mann in den Fünfzigern, noch immer das, was man einen schönen Mann zu nennen pflegt, nicht ohne Geckenhaftigkeit, die sich hauptsächlich in der Gewohnheit eines koketten Augenaufschlags und einer höchst gewählten Umgangssprache kundgab. Er hatte auch eine gewisse Art, im Vorübergehen wie zufällig an Theresen anzustreifen und seinen Atem in ihren Nacken zu hauchen, und Therese war vollkommen überzeugt, daß es nur von ihr abgehangen hätte, in ein näheres Verhältnis zu ihm zu treten, um so mehr, da seine Frau, nicht mehr jung, etwas schwerfällig, im Äußeren beinahe vernachlässigt und immer leidend war. Jedenfalls war sie sorgfältig auf ihre Gesundheit bedacht, und immer wieder erbitterte es Therese, daß die Frau Direktor sich bei jeder Gelegenheit nach Herzenslust schonen und ins Bett legen konnte, während man auf sie, die am Ende doch auch eine Frau war, nie und nimmer Rücksicht nahm und niemals Rücksicht genommen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie Vorjahren in einem ihrer Häuser im Zustande eines heftigen Unwohlseins bei miserablem Wetter die Kinder aus der Schule hatte abholen müssen und beinahe schwer krank geworden wäre; und was sie damals als eine der unvermeidlichen Peinlichkeiten ihres Berufs hingenommen, das ließ sie nun in ihrem Herzen die Leute entgelten, bei denen sie jetzt in Stellung war, ohne es sie äußerlich merken zu lassen. Wenn Alfred aber, zu dem sie sich über alle diese Dinge aussprach, ihr gelegentliche Übertriebenheiten und offenbare Ungerechtigkeiten nachwies und sie zu einiger Milde und Nachsicht zu überreden suchte, dann warf sie ihm vor, daß er als Sohn aus gutem bürgerlichen Hause, der niemals Sorgen gekannt, sich natürlich auch mit jüdischen Bankdirektoren solidarisch fühle, schalt ihn egoistisch und herzlos und ging endlich so weit, ihm ins Gesicht zu sagen, daß er, nur er[775] allein an ihrem ganzen Elend schuld sei, weil er sie in Salzburg als junges, unschuldiges Mädchen schon allein gelassen. Auf solche Bemerkungen hatte Alfred nur ein mildes Achselzucken, das sie völlig rasend machte, und so kam es immer wieder bei ihren seltenen Zusammenkünften zu Auseinandersetzungen, Verstimmungen und Streit.

Ihren Sohn hatte sie zwischen Stadt und Land in dem Vorort Liebhartstal, der für sie leicht erreichbar war, günstig untergebracht, zufällig wieder im Hause eines Schneidermeisters; und da Therese längst nicht mehr daran dachte, Franzl eine Mittelschule besuchen zu lassen, so nahm sie das als ein Schicksalszeichen und ließ Franz, noch während er eine nahegelegene Volksschule besuchte, seine Lehrlingszeit beginnen. Es schien ihr, als entwickle er sich nun wieder besser als im vergangenen Jahr: der Meister, ein gutmütiger, nur dem Trunk etwas zugeneigter Mensch, wie auch die Meisterin hatten nichts an ihm auszusetzen, mit dem Sohn, der um etliche Jahre älter war als Franzl, vertrug er sich ganz gut, und so glaubte Therese wieder einmal sich hinsichtlich seiner Zukunft beruhigen zu dürfen.

Alfred überraschte sie eines Tages mit der Mitteilung, daß er demnächst eine kleine Universitätsstadt in Deutschland beziehen werde, um sich bei einem berühmten Psychiater in seinem Spezialfach weiter auszubilden. So sehr er selbst überzeugt schien, daß das keine dauernde Trennung bedeuten sollte, Therese zweifelte nicht, daß nun das Ende da war. Aber sie ließ sich nichts anmerken und war in diesen letzten Wochen, die ihnen noch übrig blieben, von einer Gefaßtheit und zugleich von einer Zärtlichkeit, die Alfred lange nicht mehr an ihr gekannt hatte.

In den ersten Briefen aus seinem neuen Aufenthaltsort gab er sich freier und heiterer, als es zuletzt im persönlichen Beisammensein mit ihr der Fall gewesen war. Doch dem freundschaftlichen Ton dieser Briefe fehlte fast jeder Beiklang von Liebe oder gar Leidenschaft; und Therese, halb absichtlich, halb unbewußt, verstand es bald, sich diesem Tone anzupassen. Im Sommer bezog sie mit den Kindern und der Frau des Bankdirektors eine behagliche Villa in der Umgebung Wiens; fing eben an, sich zu erholen, ja dank dem freundlich-herzlichen Entgegenkommen der Frau Direktor und dem heiteren Wesen der Kinder wohl zu fühlen, als ein Brief von der Frau des Schneidermeisters eintraf mit der kurzen Mitteilung, daß man Franz aus Familiengründen leider nicht länger im Hause behalten könne.[776]

Werd' ich nie Ruhe haben? dachte Therese, erbat sofort Urlaub, fuhr nach Wien und erfuhr im Liebhartstal ohne eigentliche Überraschung, daß Franzl »recht verdorben« sei, den Sohn des Hauses »zu allerlei Schlechtigkeiten« anhalte, sowie auch, daß der Schullehrer sie dringend zu sprechen wünsche. Therese begab sich sofort zu ihm und erhielt unter leicht verständlichen Andeutungen von dem freundlichen und klugen Mann den Rat, den Buben möglichst rasch aus der Schule zu nehmen und ihn wieder aufs Land unter gesündere Verhältnisse zu bringen. Trotz ihres Vorsatzes, sich nichts mehr, was den Buben betraf, zu Herzen gehen zu lassen – diese Eröffnungen trafen sie schwerer, als sie erwartet, und sie vermochte dem bitteren Gefühl der Reue nicht länger zu wehren, daß ihr einmal im gegebenen Moment der Mut gemangelt, eine gefällige Frau aufzusuchen, die sie vor all der Plage und all der Schande behütet hätte, unter deren Zeichen seither ihr Leben stand. Und gegen jenen eigentlich längst vergessenen, lächerlichen und nichtigen Kasimir Tobisch stieg ein so dumpfer Groll in ihr auf, daß sie sich fähig meinte, ihm etwas Böses anzutun, wenn er ihr jemals wieder begegnete.

Es kam ihr der Einfall, ihren ungeratenen Sohn von einem kinderlosen Ehepaar adoptieren zu lassen, was Alfred einmal flüchtig im Gespräch berührt und sie entrüstet zurückgewiesen hatte, und sich dann nicht mehr um ihn zu kümmern. Doch kaum hatte sie begonnen, diesen Plan weiterzudenken, als ihre Stimmung wieder umschlug. Alle mütterlichen Gefühle für den armen Buben, der ja an seiner Natur und an seinem Los völlig unschuldig war, der sich unter anderen Umständen ganz anders, vielleicht zu einem braven, tüchtigen Menschen entwickelt hätte, brachen mit ungeheurer Macht wieder hervor, und sie fühlte ihre eigene Schuld tiefer denn je. War sie denn innerlich jemals treu zu ihm gestanden? war sie nicht immer wieder von ihm abgefallen und manchmal sogar zugunsten von andern Kindern, die sie gar nichts angingen und die sie vielleicht nur deshalb liebte, weil sie aus besseren Häusern, weil sie wohlgepflegt, weil sie glücklicher waren als ihr eigenes Kind?

Und an einem heißen Sommertag, während der Staub der Stadt durch den ärmlichen Vorort gegen die Hügel zu fegte, saß Therese mit ihrem Buben auf einer Bank am Rande der Straße, die bergaufwärts führte, redete ihm ins Gewissen, glaubte in seinen Augen etwas wie Einsicht, ja wie Reue zu lesen, fühlte neue Hoffnung in sich aufsteigen, als er sich näher an sie herandrängte,[777] glaubte zu spüren, daß in seinem Herzen jene Starrheit, die sie so oft verzweifeln machte, sich zu lösen anfing, und richtete, wie in einer plötzlichen Erleuchtung, die Frage an ihn, ob er von nun an mit ihr, mit seiner Mutter, zusammen wohnen wolle. Und Tränen kamen ihr ins Auge, als er sich über diese Aussicht geradezu beglückt zeigte, ihr erklärte, daß er überhaupt nur sie liebhabe, daß er alle anderen Menschen nicht leiden könne. Oh, er würde auch gern mehr lernen und in der Schule brav sein, aber die Lehrer seien ihm aufsässig, und er wolle ihnen keine Freude machen. Daß er aber der Frau Meisterin ein Tüchel gestohlen habe, das sei eine Lüge, und auch die Frau Leutner in Enzbach sei eine falsche Person. Wie sie nur über die Mutter gesprochen habe zu ihrem Mann und zur Agnes und zu anderen Leuten, da könnte er manches erzählen! Und nun gar die Schneidermeisterin – eine Kanaille sei das. Therese erschrak, sie verwies ihm seine Worte. Aber Franz redete hemmungslos weiter über die Meisterin, über ihren Mann, über einen Fuhrwerksbesitzer, der öfters ins Haus käme, gebrauchte Ausdrücke, die Therese noch niemals gehört hatte, und sie konnte nichts anderes tun, als ihn immer wieder zurechtweisen und endlich, da gar nichts half, das Gespräch abbrechen und auf andere Dinge bringen.

In einer unendlichen Traurigkeit ging sie den Weg mit ihm über die staubige Straße wieder hinab. Noch hielt sie seine Hand in der ihren, aber unmerklich glitten die Finger auseinander, und sie war allein. Sie führte Franz für diesmal noch in das Haus seiner Kostgeber zurück, begab sich, fürs erste ohne Erfolg, auf die Suche nach einem neuen Quartier, nach neuen Pflegeeltern für ihren Sohn, übernachtete in einem kleinen Vorstadtgasthof und schrieb Alfred einen ausführlichen Brief, in dem sie sich wieder einmal zu ihm wie zu einem Freunde aussprach. Und am nächsten Morgen in einer beruhigteren Stimmung glückte es ihr, für Franz bei einem kinderlosen Ehepaar ein reinliches Kabinett zu finden, so daß sie immerhin im Gefühl einer erledigten Pflicht aufs Land zurückreisen konnte. Diese letzten Wochen in der Villa hatte sie Gelegenheit, sich zu erholen, ja aufzuatmen. Die Mädchen gaben ihr wenig zu tun, man lebte zurückgezogen; der Herr des Hauses war auf einer größeren Reise abwesend, kaum jemals erschien ein Gast, – so verbrachte auch Therese beinahe den ganzen Tag lesend und viel schlummernd, von der Frau Direktor und von den Kindern wenig gestört, in dem großen schattigen Garten, dessen Mauer das ganze Haus und seine Inwohner gegen die Umwelt abschloß.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 774-778.
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