III

[57] Und die Jahre zogen dahin. Karl Weldein strich die Zimmerdecken und Wände an, betrank sich zuweilen und spielte nicht mehr. Er, der reiche Mann, um lumpige Groschen! Und manchmal, wenn ihm der Branntwein zu Kopfe gestiegen war, da durchzuckte es ihn, als hätte er's gefunden. Und mit einem Male alles wieder dunkel. Manchmal kam es wie ein gewaltiges Staunen über ihn, daß er damals nicht verzweifelt war. Aber als nur die ersten Tage überwunden waren, ging es schon besser. Anfangs machte er allabendlich den Weg jener Nacht ... immer ruhiger aber, und manchmal nur mit dem Gedanken: ein recht schöner Spaziergang. Andere Abende jedoch und ganze Tage und Nächte kamen, wo ihm der Wahnsinn nahe schien. Dann ... der Schnaps! Auf ein paar Augenblicke Hoffnung, ein Schein des Glücks. Zuweilen, wenn er mit dem großen Pinsel in der Hand auf der Leiter stand und die Farben auf die Zimmerdecke hinwarf, wünschte er sich, herunterzufallen, damit endlich einmal dieses dumme Leben zu Ende sei! War denn das ein Leben! Die kränkliche Frau zu Hause, die mit ihrer Näharbeit gar wenig verdiente und dabei[57] immer blasser und magerer wurde. Der Bub mit den geflickten Kleidern, der wild aus der Schule gestürmt kam und immer Hunger hatte. Und dann das kärgliche Mittagmahl in der ärmlichen Stube, ohne daß was Rechtes dabei gesprochen wurde. Im Wirtshaus die Kameraden, die alle doch nur an sich selber dachten. Und draußen in der Welt das viele Glück und all das Schöne, an dem er vorüber mußte – er, der reiche Mann! ... Und all den Kummer mußte er in sich verschließen. Wenn er's in die Welt hineingerufen hätte: »Ich bin sehr reich ... unendlich reich ... ich weiß nur nicht, wo ich mein Geld habe!« – wie hätte man da gelacht! Gelacht? Ins Narrenhaus hätte man ihn gesteckt!

Eines Tages las er in der Zeitung den Tod des Freiherrn von Reutern angekündigt. Das war ein Trost für ihn. Ja, man stirbt schließlich doch. Es kam ihm vor, als wenn er an diese angenehme Lösung ganz vergessen hätte. Nun gab es nur einen mehr, der die Geschichte jenes Abends kannte, den Grafen Spaun. Weldein haßte ihn. Einmal bestürzte ihn der folgende Gedanke: wie, wenn Graf Spaun, plötzlich verarmt, sich an ihn erinnerte und zu ihm käme mit den Worten: Mein lieber Weldein, ich hab' dich reich gemacht, gib mir einen Teil von deinem Reichtum ... Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er zitterte vor dem Grafen Spaun. Und wie, wenn dieser es einmal in einer lustigen Stunde seinen Freunden erzählte! Und die kämen zu ihm – alle – lustig, höhnend! Heda, Herr Anstreicher, nicht so karg! Man läßt sein Weib und seine Kinder nicht hungern, wenn man Geld im Kasten hat! Und er, was könnte er sagen? Ich hab' es nicht im Kasten, – ich hab's – ich weiß nicht wo? Wer glaubt solchen Unsinn! Dann überlegte er wieder: das Beste wäre, er suchte den Grafen auf und teilte ihm sein Mißgeschick mit! ... Sein Mißgeschick! Mehr als das! Das tollste Unglück, das je einem Menschen widerfahren war.

Aber was kümmerte sich die Welt, die Zeit um ihn! Er stand auf seiner Leiter und strich an. Die Haare an seinen Schläfen wurden grau; er wurde dick, begann an schwerem Atem zu leiden und hustete. Die Trinker werden früh alt.

Als sein Sohn zwölf Jahre alt war, starb die Mutter. Sie war nicht lange im Bett dahingesiecht; sie legte sich erst hin, als sie bald sterben mußte. Sie war mild und gut die letzten Tage; sie küßte die Hand ihres Mannes, der neben ihrem Bette saß; sie streichelte die Haare ihres Buben.

»Geh, Karl«, sagte sie noch an ihrem letzten Lebenstag ...[58] »laß den Buben doch werden, was ihm Freud' macht ... er wird schon mehr Glück haben als du und ich.« ... Beide weinten still an ihrem Bette, der Junge kniete, und der Mann saß auf einem wackeligen Stuhl, der manchmal knackte. Und der Abend kam, ein Frühlingsabend, so mild, so maienduftig wie jener verhängnisvolle Abend vor sechs Jahren. Weldein dachte daran ... er sah sich wieder auf jener Brücke stehen und hörte die Wellen rauschen, den Regen herabtropfen. Er hatte schon zwei Nächte gewacht ... nun schlief er ein ... Ganz dunkel war es, als er aufwachte; der Junge hatte ihn leise und ängstlich gerüttelt. »Was gibt's?« fragte Weldein ... Kein Atemzug mehr vom Kopfpolster her ... »Ein Licht zünd an«, rief er mit verhaltener Stimme, aufspringend und sich zu seinem Weib herniederbeugend. Er rief: »Du ... du, du ... du ... hör doch?« Der Knabe kam mit dem Licht. Er traute sich nicht ganz heran. Der Vater nahm ihm das Licht aus der Hand und hielt es zum Kopfende des Bettes hin. Eine Minute vielleicht starrte er auf das blasse Gesicht, das auf dem weißen Polster lag. Hinter ihm der Bub weinte ... Weldein stellte das Licht auf das Nachtkästchen, wandte sich um zu ihm, und leise sagte er: »Hast recht, Franz, daß du weinst; die Mutter ist tot.«

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 57-59.
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