[602] Bald nach Tisch hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Da stand ich wieder am offenen Fenster, wie ich so oft im vorigen Jahre getan, und freute mich des anmutigen Blickes hinunter in das sonnenglänzende Tal, das, eng zu meinen Füßen, allmählich sich dehnte und in der Ferne sich völlig aufschloß, um Stadt und Fluren in sich aufzunehmen.
Nach einer kurzen Weile klopfte es. Herr von Umprecht trat ein, blieb an der Tür stehen und sagte mit einiger Befangenheit: »Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie störe.« Dann trat er näher und fuhr fort: »Aber sobald Sie mir eine Viertelstunde Gehör geschenkt haben, davon bin ich überzeugt, werden Sie meinen Besuch für genügend entschuldigt halten.«
Ich lud Herrn von Umprecht zum Sitzen ein, er achtete nicht darauf, sondern fuhr mit Lebhaftigkeit fort: »Ich bin nämlich in der seltsamsten Art Ihr Schuldner geworden und fühle mich verpflichtet, Ihnen zu danken.«
Da mir natürlich nichts anderes beifallen konnte, als daß sich diese Worte des Herrn von Umprecht auf seine Rolle bezögen und sie mir allzuhöflich schienen, so versuchte ich abzuwehren. Doch Umprecht unterbrach mich sofort: »Sie können nicht wissen, wie meine Worte gemeint sind. Darf ich Sie bitten, mich anzuhören?« Er setzte sich auf das Fensterbrett, kreuzte die Beine, und, mit offenbarer Absichtlichkeit so ruhig als möglich[602] scheinend, begann er: »Ich bin jetzt Gutsbesitzer, wie Sie vielleicht wissen, bin aber früher Offizier gewesen. Und zu jener Zeit, vor zehn Jahren – heute vor zehn Jahren – begegnete mir das unbegreifliche Abenteuer, unter dessen Schatten ich gewissermaßen bis heute gelebt habe und das heute durch Sie ohne Ihr Wissen und Zutun seinen Abschluß findet. Zwischen uns beiden besteht nämlich ein dämonischer Zusammenhang, den Sie wahrscheinlich so wenig werden aufklären können wie ich; aber Sie sollen wenigstens von seinem Vorhandensein erfahren. – Mein Regiment lag damals in einem öden polnischen Nest. An Zerstreuungen gab es außer dem Dienst, der nicht immer anstrengend genug war, nur Trunk und Spiel. Überdies hatte man die Möglichkeit vor Augen, jahrelang hier festsitzen zu müssen, und nicht alle von uns verstanden es, ein Leben in dieser trostlosen Aussicht mit Fassung zu tragen. Einer meiner besten Freunde hat sich im dritten Monat unseres dortigen Aufenthalts erschossen. Ein anderer Kamerad, früher der liebenswürdigste Offizier, fing plötzlich an, ein arger Trinker zu werden, wurde unmanierlich, aufbrausend, nahezu unzurechnungsfähig und hatte irgend einen Auftritt mit einem Advokaten, der ihn seine Charge kostete. Der Hauptmann meiner Kompagnie war verheiratet und, ich weiß nicht, ob mit oder ohne Grund, so eifersüchtig, daß er seine Frau eines Tages zum Fenster hinunterwarf. Sie blieb rätselhafterweise heil und gesund; der Mann starb im Irrenhause. Einer unserer Kadetten, bis dahin ein sehr lieber, aber ausnehmend dummer Junge, bildete sich plötzlich ein, Philosophie zu verstehen, studierte Kant und Hegel und lernte ganze Partien aus deren Werken auswendig, wie Kinder die Fibel. Was mich anbelangt, so tat ich nichts als mich langweilen, und zwar in einer so ungeheuerlichen Weise, daß ich an manchen Nachmittagen, wenn ich auf meinem Bette lag, fürchtete, verrückt zu werden. Unsere Kaserne lag außerhalb des Dorfes, das aus höchstens dreißig verstreuten Hütten bestand; die nächste Stadt, eine gute Reitstunde entfernt, war schmierig, widerwärtig, stinkend und voll von Juden. Notgedrungen hatten wir manchmal mit ihnen zu tun – der Hotelier war ein Jude, der Cafetier, der Schuster desgleichen. Daß wir uns möglichst beleidigend gegen sie benahmen, das können Sie sich denken. Wir waren besonders gereizt gegen dieses Volk, weil ein Prinz, der unserem Regiment als Major zugeteilt war, den Gruß der Juden – ob nun aus Scherz oder aus Vorliebe, weiß ich nicht – mit ausgesuchter Höflichkeit erwiderte und überdies mit[603] auffallender Absichtlichkeit unseren Regimentsarzt protegierte, der ganz offenbar von Juden abstammte. Das würde ich Ihnen natürlich nicht erzählen, wenn nicht gerade diese Laune des Prinzen mich mit demjenigen Menschen zusammengeführt hätte, der in so geheimnisvoller Weise die Verbindung zwischen Ihnen und mir herzustellen berufen war. Es war ein Taschenspieler, und zwar der Sohn eines Branntweinjuden aus dem benachbarten polnischen Städtchen. Er war als junger Bursche in ein Geschäft nach Lemberg, dann nach Wien gekommen und hatte einmal irgend jemandem einige Kartenkunststücke abgelernt. Er bildete sich auf eigene Faust weiter aus, eignete sich allerlei andere Taschenspielereien an und brachte es allmählich soweit, daß er in der Welt umherziehen und sich auf Varieteebühnen oder in Vereinen mit Erfolg produzieren konnte. Im Sommer kam er immer in seine Vaterstadt, um die Eltern zu besuchen. Dort trat er nie öffentlich auf, und so sah ich ihn zuerst auf der Straße, wo er mir durch seine Erscheinung augenblicklich auffiel. Er war ein kleiner, magerer, bartloser Mensch, der damals etwa dreißig Jahre alt sein mochte, mit einer vollkommen lächerlichen Eleganz gekleidet, die zur Jahreszeit gar nicht paßte: er spazierte in einem schwarzen Gehrock und mit gebügeltem Zylinder herum und trug Westen vom herrlichsten Brokat; bei starkem Sonnenschein hatte er einen dunklen Zwicker auf der Nase.
Einmal saßen wir unser fünfzehn oder sechzehn nach dem Abendessen im Kasino an unserem langen Tisch wie gewöhnlich. Es war eine schwüle Nacht, und die Fenster standen offen. Einige Kameraden hatten zu spielen begonnen, andere lehnten am Fenster und plauderten, wieder andere tranken und rauchten schweigend. Da trat der Korporal vom Tage ein und meldete die Ankunft des Taschenspielers. Wir waren zuerst einigermaßen erstaunt. Aber ohne weiteres abzuwarten, trat der Gemeldete in guter Haltung ein und sprach in leichtem Jargon einige einleitende Worte, mit denen er sich für die an ihn ergangene Einladung bedankte. Er wandte sich dabei an den Prinzen, der auf ihn zutrat und ihm – natürlich ausschließlich, um uns zu ärgern – die Hand schüttelte. Der Taschenspieler nahm das wie selbstverständlich hin und bemerkte dann, er werde zuerst einige Kartenkunststücke zeigen, um sich hierauf im Magnetismus und in der Chiromantie zu produzieren. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als einige unserer Herren, die in einer Ecke beim Kartenspiel saßen, merkten, daß ihnen die Figuren fehlten: auf einen Wink des[604] Zauberers kamen sie aber durch das geöffnete Fenster hereingeflogen. Auch die Kunststücke, die er folgen ließ, unterhielten uns sehr und übertrafen so ziemlich alles, was ich auf diesem Gebiete gesehen hatte. Noch sonderbarer erschienen mir die magnetischen Experimente, die er dann vollführte. Nicht ohne Grauen sahen wir alle zu, wie der philosophische Kadett, in Schlaf versetzt, den Befehlen des Zauberers gehorchend, zuerst durchs offene Fenster sprang, die glatte Mauer bis zum Dach hinaufkletterte, oben knapp am Rand um das ganze Viereck herumeilte und sich dann in den Hof hinabgleiten ließ. Als er wieder unten stand, noch immer im schlafenden Zustand, sagte der Oberst zu dem Zauberer: ›Sie, wenn er sich den Hals gebrochen hätte, ich versichere Sie, Sie wären nicht lebendig aus der Kaserne gekommen.‹ Nie werde ich den Blick voll Verachtung vergessen, mit dem der Jude diese Bemerkung wortlos erwiderte. Dann sagte er langsam: ›Soll ich Ihnen aus der Hand lesen, Herr Oberst, wann Sie tot oder lebendig diese Kaserne verlassen werden?‹ Ich weiß nicht, was der Oberst oder wir anderen ihm auf diese verwegene Bemerkung sonst entgegnet hätte – aber die allgemeine Stimmung war schon so wirr und erregt, daß sich keiner wunderte, als der Oberst dem Taschenspieler die Hand hinreichte und, dessen Jargon nachahmend, sagte: ›Nu, lesen Sie.‹ Dies alles ging im Hof vor sich, und der Kadett stand noch immer schlafend mit ausgestreckten Armen wie ein Gekreuzigter an der Wand. Der Zauberer hatte die Hand des Obersten ergriffen und studierte aufmerksam die Linien. ›Siehst du genug, Jud?‹ fragte ein Oberleutnant, der ziemlich betrunken war. Der Gefragte sah sich flüchtig um und sagte ernst: ›Mein Künstlername ist Marco Polo.‹ Der Prinz legte dem Juden die Hand auf die Schulter und sagte: ›Mein Freund Marco Polo hat scharfe Augen.‹ – ›Nun, was sehen Sie?‹ fragte der Oberst höflicher. ›Muß ich reden?‹ fragte Marco Polo. ›Wir können Sie nicht zwingen,‹ sagte der Prinz. ›Reden Sie!‹ rief der Oberst. ›Ich möcht' lieber nicht reden,‹ erwiderte Marco Polo. Der Oberst lachte laut. ›Nur heraus, es wird nicht so arg sein. Und wenn es arg ist, muß es auch noch nicht wahr sein.‹ – ›Es ist sehr arg,‹ sagte der Zauberer, ›und wahr ist es auch.‹ Alle schwiegen. ›Nun?‹ fragte der Oberst. ›Von Kälte werden Sie nichts mehr zu leiden haben,‹ erwiderte Marco Polo. ›Wie?‹ rief der Oberst aus, ›kommt unser Regiment also endlich nach Riva?‹ – ›Vom Regiment les' ich nichts, Herr Oberst. Ich seh' nur, daß Sie im Herbst sein werden ein toter Mann.‹ Der Oberst lachte,[605] aber alle anderen schwiegen; ich versichere Sie, uns allen war, als ob der Oberst in diesem Augenblick gezeichnet worden wäre. Plötzlich lachte irgend einer absichtlich sehr laut, andere taten ihm nach, und lärmend und lustig ging es zurück ins Kasino. ›Nun,‹ rief der Oberst, ›mit mir wär's in Ordnung. Ist keiner von den anderen Herren neugierig?‹ Einer rief wie zum Scherz: ›Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.‹ Ein anderer fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das Schicksal vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen eingenommen sein müßte, und ein junger Leutnant erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo auf Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit einem unserer älteren Herren rauchend in einer Ecke stehen und hörte ihn sagen: ›Wo fängt das Wunder an?‹ Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich eben zum Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne daß es jemand hörte. ›Prophezeien Sie mir.‹ Er griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann sagte er: ›Hier sieht man schlecht.‹ Ich merkte, daß die Öllampen zu flackern begonnen hatten und daß die Linien meiner Hand zu zittern schienen. ›Kommen Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber bei Mondschein.‹ Er hielt mich an der Hand, und ich folgte ihm durch die offene Tür ins Freie.
Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. ›Hören Sie, Marco Polo,‹ sagte ich, ›wenn Sie nichts anderes können als das, was Sie eben an unserem Herrn Oberst gezeigt haben, dann lassen wir's lieber.‹ Ohne weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und lächelte. ›Der Herr Leutnant haben Angst.‹ Ich wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört hätte; aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten und befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt zuführte. ›Ich wünsche etwas Bestimmteres zu wissen,‹ sagte ich, ›das ist es. Worte lassen sich immer in verschiedener Weise auslegen.‹ Marco Polo sah mich an. ›Was wünschen der Herr Leutnant? ... Vielleicht das Bild von der künftigen Frau Gemahlin?‹ – ›Könnten Sie das?‹ Marco Polo zuckte die Achseln. ›Es könnte sein ... es wär' möglich ...‹ – ›Aber das will ich nicht,‹ unterbrach ich ihn. ›Ich möchte wissen, was später einmal, zum Beispiel in zehn Jahren, mit mir los sein wird.‹ Marco Polo schüttelte den Kopf. ›Das kann ich nicht sagen ... aber was anderes kann ich vielleicht.‹ – ›Was?‹ – ›Irgend einen Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.‹ Ich verstand ihn nicht gleich. ›Wie meinen Sie das?‹ – ›So mein' ich das: ich kann einen[606] Moment aus Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, mitten in die Gegend, wo wir gerade stehen.‹ – ›Wie?‹ – ›Der Herr Leutnant müssen mir nur sagen, was für einen.‹ Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war höchst gespannt. ›Gut,‹ sagte ich, ›wenn Sie das können, so will ich sehen, was heut in zehn Jahren in derselben Sekunde mit mir geschehen wird ... Verstehen Sie mich, Marco Polo?‹ – ›Gewiß, Herr Leutnant,‹ sagte Marco Polo und sah mich starr an. Und schon war er fort ... aber auch die Kaserne war fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen sehen – fort die armen Hütten, die in der Ebene verstreut und mondbeglänzt gelegen waren – und ich sah mich selbst, wie man sich manchmal im Traume selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre hingestreckt, mitten auf einer Wiese – an meiner Seite kniend eine schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute mit Fackeln in der Nähe ... Sie staunen – nicht wahr, Sie staunen?«
Ich staunte in der Tat, denn das was er mir hier schilderte, war genau das Bild, mit welchem mein Stück heute Abend um zehn Uhr schließen und in dem er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« fuhr Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern davon, es Ihnen übel zu nehmen. Aber mit Ihrem Zweifel soll es gleich ein Ende haben.«
Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und zog ein verschlossenes Kuvert heraus. »Bitte, sehen Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las laut: »Notariell verschlossen am 4. Januar 1859, zu eröffnen am 9. September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung des mir persönlich wohlbekannten Notars Doktor Artiner in Wien.
»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und heute sind es eben zehn Jahre, daß mir das rätselhafte Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das sich nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn von Jahr zu Jahr, als triebe ein launisches Schicksal sein Spiel mit mir, schwankten die Erfüllungsmöglichkeiten für jene Prophezeiung in der seltsamsten Weise, schienen manchmal zu drohender Wahrscheinlichkeit zu werden, verschwanden in nichts, wurden zu unerbittlicher Gewißheit, verflatterten, kamen wieder ... Aber lassen Sie mich nun zu meinem Berichte zurückkehren. Die Erscheinung selbst hatte gewiß nicht länger gedauert als einen Augenblick; denn noch klang von der Kaserne[607] her das gleiche laute Auflachen des Oberleutnants an mein Ohr, das ich gehört hatte, ehe die Erscheinung aufgestiegen war. Und nun stand auch Marco Polo wieder vor mir, mit einem Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht sagen kann, ob es schmerzlich oder höhnisch sein sollte, nahm den Zylinder ab, sagte: ›Guten Abend, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie sind zufrieden gewesen,‹ wandte sich um und ging langsam auf der Landstraße vorwärts in der Richtung der Stadt. Er ist übrigens am nächsten Tage abgereist.«
»Mein erster Gedanke, als ich der Kaserne wieder zuging, war, daß es sich um eine Geistererscheinung gehandelt haben mußte, die Marco Polo, vielleicht von einem unbekannten Gehilfen unterstützt, mittelst irgend welcher Spiegelungen hervorzubringen imstande gewesen war. Als ich durch den Hof kam, sah ich zu meinem Entsetzen den Kadetten noch immer in der Stellung eines Gekreuzigten an der Mauer lehnen. Man hatte seiner offenbar vollkommen vergessen. Die anderen hörte ich drin in der höchsten Erregung reden und streiten. Ich packte den Kadetten beim Arm, er wachte sofort auf, war nicht im geringsten verwundert und konnte sich nur die Erregung nicht erklären, in welcher sich alle Herren des Regiments befanden. Ich selbst mischte mich gleich mit einer Art von Grimm in die aufgeregte, aber hohle Unterhaltung, die sich über die Seltsamkeiten, deren Zeugen wir gewesen, entwickelt hatte, und redete wohl nicht klüger als die anderen. Plötzlich schrie der Oberst: ›Nun, meine Herren, ich wette, daß ich noch das nächste Frühjahr erlebe! Fünfundvierzig zu eins!‹ Und er wandte sich zu einem unserer Herren, einem Oberleutnant, der eines gewissen Rufes als Spieler und Wetter genoß. ›Nichts zu machen?‹ Obzwar es klar war, daß der Angeredete der Versuchung schwer widerstand, so schien er es doch unziemlich zu finden, eine Wette auf den Tod seines Obersten mit diesem selbst abzuschließen, und so schwieg er lächelnd. Wahrscheinlich hat er es bedauert. Denn schon nach vierzehn Tagen, am zweiten Morgen der großen Kaisermanöver, stürzte unser Oberst vom Pferde und blieb auf der Stelle tot. Und bei dieser Gelegenheit merkten wir alle, daß wir es gar nicht anders erwartet hatten. Ich aber begann erst von jetzt an mit einer gewissen Unruhe an die nächtliche Prophezeiung zu denken, von der ich in einer sonderbaren Scheu niemandem Mitteilung gemacht hatte. Erst zu Weihnachten, anläßlich einer Urlaubsreise nach Wien, eröffnete ich mich einem Kameraden, einem[608] gewissen Friedrich von Gulant – Sie haben vielleicht von ihm gehört, er hat hübsche Verse gemacht und ist sehr jung gestorben ... Nun, der war es, der mit mir zusammen das Schema entwarf, das Sie in diesem Umschlag eingeschlossen finden werden. Er war nämlich der Ansicht, daß solche Vorfalle für die Wissenschaft nicht verloren gehen dürften, ob sich nun am Ende ihre Voraussetzungen als wahr oder falsch herausstellten. Mit ihm bin ich bei Doktor Artiner gewesen, vor dessen Augen das Schema in diesem Kuvert verschlossen wurde. In der Kanzlei des Notars war es bisher aufbewahrt, und gestern erst ist es, meinem Wunsche gemäß, mir zugestellt worden. Ich will es gestehen: der Ernst, mit dem Gulant die Sache behandelte, hatte mich anfangs ein wenig verstimmt; aber als ich ihn nicht mehr sah und besonders, als er kurz darauf starb, fing die ganze Geschichte an, mir sehr lächerlich vorzukommen. Vor allem war es mir klar, daß ich mein Schicksal vollkommen in der Hand hatte. Nichts in der Welt konnte mich dazu zwingen, am 9. September 1868, abends zehn Uhr, mit einem braunen Vollbart auf einer Bahre zu liegen; Wald- und Wiesenlandschaft konnte ich vermeiden, auch brauchte ich nicht eine Frau mit roten Haaren zu heiraten und Kinder zu bekommen. Das einzige, dem ich vielleicht nicht ausweichen konnte, war ein Unfall, etwa ein Duell, von dem mir die Narbe auf der Stirn zurückbleiben konnte. Ich war also fürs erste beruhigt. – Ein Jahr nach jener Weissagung heiratete ich Fräulein von Heimsal, meine jetzige Gattin; bald darauf quittierte ich den Dienst und widmete mich der Landwirtschaft. Ich besichtigte verschiedene kleinere Güter und – so komisch es klingen mag – ich achtete darauf, daß sich womöglich innerhalb dieser Besitzungen keine Partie zeigte, die dem Rasenplatz jenes Traumes (wie ich den Inhalt jener Erscheinung bei mir zu nennen liebte) gleichen könnte. Ich war schon daran, einen Kauf abzuschließen, als meine Frau eine Erbschaft machte, und uns dadurch eine Besitzung in Kärnten mit einer schönen Jagd zufiel. Beim ersten Durchwandern des neuen Gebietes gelangte ich zu einer Wiesenpartie, die, von Wald begrenzt und leicht gesenkt, mir in eigentümlicher Art der Örtlichkeit zu gleichen schien, vor der mich zu hüten ich vielleicht allen Anlaß hatte. Ich erschrak ein wenig. Meiner Frau hatte ich von der Prophezeiung nichts erzählt; sie ist so abergläubisch, daß ich ihr mit meinem Geständnis gewiß das ganze Leben bis zum heutigen Tage« – er lächelte wie befreit – »vergiftet hätte. So konnte ich ihr natürlich auch meine Bedenken[609] nicht mitteilen. Aber mich selbst beruhigte ich mit der Überlegung, daß ich ja keineswegs den September 1868 auf meinem Gute zubringen müßte. – Im Jahre 1860 wurde mir ein Knabe geboren. Schon in seinen ersten Lebensjahren glaubte ich, in seinen Zügen Ähnlichkeit mit den Zügen des Knaben aus dem Traume zu entdecken; bald schien sie sich zu verwischen, bald wieder sprach sie sich deutlicher aus – und heute darf ich mir ja selbst gestehen, daß der Knabe, der heute abends um zehn an meiner Bahre stehen wird, dem Knaben der Erscheinung aufs Haar gleicht. – Eine Tochter habe ich nicht. Da ereignete es sich vor drei Jahren, daß die verwitwete Schwester meiner Frau, die bisher in Amerika gelebt hatte, starb und ein Töchterchen hinterließ. Auf Bitten meiner Frau fuhr ich über das Meer, holte das Mädchen ab, um es bei uns im Hause aufzunehmen. Als ich es zum erstenmal erblickte, glaubte ich zu merken, daß es dem Mädchen aus dem Traume vollkommen gliche. Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, das Kind in dem fremden Lande bei fremden Leuten zu lassen. Natürlich wies ich diesen unedlen Einfall gleich wieder von mir, und wir nahmen das Kind in unserem Hause auf. Wieder beruhigte ich mich vollkommen, trotz der zunehmenden Ähnlichkeit der Kinder mit den Kindern jener prophetischen Erscheinung, denn ich bildete mir ein, daß die Erinnerung an die Kindergesichter des Traumes mich doch vielleicht trügen mochte. Mein Leben floß eine Zeitlang in vollkommener Ruhe hin. Ja, ich hatte beinahe aufgehört, an jenen sonderbaren Abend in dem polnischen Nest zu denken, als ich vor zwei Jahren durch eine neue Warnung des Schicksals in begreiflicher Weise erschüttert wurde. Ich hatte auf ein paar Monate verreisen müssen; als ich zurückkam, trat mir meine Frau mit roten Haaren entgegen, und ihre Ähnlichkeit mit der Frau des Traumes, deren Antlitz ich ja nicht gesehen hatte, schien mir vollständig. Ich fand es für gut, meinen Schrecken unter dem Ausdruck des Zornes zu verbergen; ja, ich wurde mit Absicht immer heftiger, denn plötzlich kam mir ein an Wahnsinn grenzender Einfall: wenn ich mich von meiner Frau und den Kindern trennte, so müßte ja all die Gefahr schwinden, und ich hätte das Schicksal zum Narren gehalten. Meine Frau weinte, sank wie gebrochen zu Boden, bat mich um Verzeihung und erklärte mir den Grund ihrer Veränderung. Vor einem Jahre, anläßlich einer Reise nach München, war ich in der Kunstausstellung von dem Bildnis einer rothaarigen Frau besonders entzückt gewesen, und meine Frau[610] hatte schon damals den Plan gefaßt, sich bei irgend einer Gelegenheit diesem Bildnis dadurch ähnlich zu machen, daß sie sich die Haare färben ließ. Ich beschwor sie natürlich, ihrem Haar möglichst bald die natürliche dunkle Farbe wieder zu verleihen, und als es geschehen war, schien alles wieder gut zu sein. Sah ich nicht deutlich, daß ich mein Schicksal nach wie vor in meiner Gewalt hatte? ... War nicht alles, was bisher geschehen, auf natürliche Weise zu erklären? ... Hatten nicht tausend andere Güter mit Wiesen und Wald und Frau und Kinder? ... Und das einzige, was vielleicht Abergläubische schrecken durfte, stand noch aus – bis zum heurigen Winter: die Narbe, die Sie nun doch auf meiner Stirne prangen sehen. Ich bin nicht mutlos – erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das sage; ich habe mich als Offizier zweimal geschlagen und unter recht gefährlichen Bedingungen – auch vor acht Jahre, kurz nach meiner Verheiratung, als ich schon den Dienst verlassen hatte. Aber als ich im vorigen Jahre aus irgend einem lächerlichen Grund – wegen eines nicht ganz höflichen Grußes – von einem Herrn zur Rede gestellt wurde, habe ich es vorgezogen« – Herr von Umprecht errötete leicht – »mich zu entschuldigen. Die Sache wurde natürlich in ganz korrekter Weise erledigt, aber ich weiß ja doch ganz bestimmt, daß ich mich auch damals geschlagen hätte, wäre nicht plötzlich eine wahnwitzige Angst über mich gekommen, daß mein Gegner mir eine Wunde an der Stirne beibringen und dem Schicksal damit einen neuen Trumpf in die Hand spielen könnte ... Aber Sie sehen, es half mir nichts: die Narbe ist da. Und der Augenblick, in dem ich hier verwundet wurde, war vielleicht derjenige innerhalb der ganzen zehn Jahre, der mich am tiefsten zum Bewußtsein meiner Wehrlosigkeit brachte. Es war heuer im Winter gegen Abend; ich fuhr mit zwei oder drei anderen Personen, die mir vollkommen unbekannt waren, in der Eisenbahn zwischen Klagenfurt und Villach. Plötzlich klirren die Fensterscheiben, und ich fühle einen Schmerz an der Stirn; zugleich höre ich, daß etwas Hartes zu Boden fällt; ich greife zuerst nach der schmerzenden Stelle – sie blutet; dann bücke ich mich rasch und hebe einen spitzen Stein vom Fußboden auf. Die Leute im Kupee sind aufgefahren. ›Ist was geschehen?‹ ruft einer. Man merkt, daß ich blute, und bemüht sich um mich. Ein Herr aber – ich seh' es ganz deutlich – ist in die Ecke wie zurückgesunken. In der nächsten Haltestelle bringt man Wasser, der Bahnarzt legt mir einen notdürftigen Verband an, aber ich fürchte natürlich nicht, daß ich an der Wunde sterben[611] könnte: ich weiß ja, daß es eine Narbe werden muß. Ein Gespräch im Waggon hat sich entsponnen, man fragt sich, ob ein Attentat beabsichtigt war, ob es sich um einen gemeinen Bubenstreich handle; der Herr in der Ecke schweigt und starrt vor sich hin. In Villach steige ich aus. Plötzlich ist der Mann an meiner Seite und sagt: ›Es galt mir.‹ Eh' ich antworten, ja nur mich besinnen kann, ist er verschwunden; ich habe nie erfahren können, wer es war. Ein Verfolgungswahnsinniger vielleicht ... vielleicht auch einer, der sich mit Recht verfolgt glaubte von einem beleidigten Gatten oder Bruder, und den ich möglicherweise gerettet habe, da eben mir die Narbe bestimmt war ... wer kann es wissen? ... Nach ein paar Wochen leuchtete sie auf meiner Stirn an derselben Stelle, wo ich sie in jenem Traume gesehen hatte. Und mir ward es immer klarer, daß ich mit irgend einer unbekannten höhnischen Macht in einem ungleichen Kampf begriffen war, und ich sah dem Tag, wo das Letzte in Erfüllung gehen sollte, mit wachsender Unruhe entgegen.
Im Frühling erhielten wir die Einladung meines Onkels. Ich war fest entschlossen, ihr nicht zu folgen, denn ohne daß mir ein deutliches Bild in Erinnerung gekommen wäre, schien es mir doch möglich, daß gerade auf seinem Gut hier die verruchte Stelle zu finden wäre. Meine Frau hätte aber eine Ablehnung nicht verstanden, und so entschloß ich mich doch, mit ihr und den Kindern schon Anfang Juli herzureisen, in der bestimmten Absicht, so bald als möglich das Schloß wieder zu verlassen und weiter in den Süden, nach Venedig oder an den Lido, zu gehen. An einem der ersten Tage unseres Aufenthaltes kam das Gespräch auf Ihr Stück, mein Onkel sprach von den kleinen Kinderrollen, die darin enthalten wären, und bat mich, meine Kleinen mitspielen zu lassen. Ich hatte nichts dagegen. Es war damals bestimmt, daß der Held von einem Berufsschauspieler dargestellt werden sollte. Nach einigen Tagen packte mich die Angst, daß ich gefährlich erkranken und nicht würde abreisen können. So erklärte ich denn eines Abends, daß ich am nächsten Tage das Schloß auf einige Zeit zu verlassen und Seebäder zu nehmen gedächte. Ich mußte versprechen, Anfang September wieder zurück zu sein. Am selben Abend kam ein Brief des Schauspielers, der aus irgend welchen gleichgültigen Gründen dem Freiherrn seine Rolle zurückstellte. Mein Onkel war sehr ärgerlich. Er bat mich, das Stück zu lesen – vielleicht könnte ich ihm unter unseren Bekannten einen nennen, der geeignet wäre, die Rolle darzustellen. So[612] nahm ich denn das Stück auf mein Zimmer mit und las es. Nun versuchen Sie sich vorzustellen, was in mir vorging, als ich zu dem Schlüsse kam und hier Wort für Wort die Situation aufgezeichnet fand, die mir für den 9. September dieses Jahres prophezeit worden war. Ich konnte den Morgen nicht erwarten, um meinem Onkel zu sagen, daß ich die Rolle spielen wollte. Ich fürchtete, daß er Einwendungen machen könnte; denn seit ich das Stück gelesen, kam ich mir vor wie in sicherer Hut, und wenn mir die Möglichkeit entging, in Ihrem Stück zu spielen, so war ich wieder jener unbekannten Macht preisgegeben. Mein Onkel war gleich einverstanden, und von nun an nahm alles seinen einfachen und guten Gang. Wir probieren seit einigen Wochen Tag für Tag, ich habe die Situation, die mir heute bevorsteht, schon fünfzehn- oder zwanzigmal durchgemacht: ich liege auf der Bahre, die junge Komtesse Saima mit ihren schönen roten Haaren, die Hände vor dem Antlitz, kniet vor mir, und die Kinder stehen an meiner Seite.«
Während Herr von Umprecht diese Worte sprach, fielen meine Augen wieder auf das Kuvert, das noch immer versiegelt auf dem Tische lag. Herr von Umprecht lächelte. »Wahrhaftig, den Beweis bin ich Ihnen noch schuldig,« sagte er und öffnete die Siegel. Ein zusammengefaltetes Papier lag zutage. Umprecht entfaltete es und breitete es auf dem Tische aus. Vor mir lag ein vollkommener, wie von mir selbst entworfener Stituationsplan zu der Schlußszene des Stückes, Hintergrund und Seiten waren schematisch aufgezeichnet und mit der Bezeichnung »Wald« versehen; ein Strich mit einer männlichen Figur war etwa in der Mitte des Planes eingetragen, darüber stand: »Bahre« .... Bei den anderen schematischen Figuren stand in kleinen Buchstaben mit roter Tinte zugeschrieben: »Frau mit rotem Haar«, »Knabe«, »Mädchen«, »Fackelträger«, »Mann mit erhobenen Händen«. Ich wandte mich zu Herrn von Umprecht: »Was bedeutet das: ›Mann mit erhobenen Händen‹?«
»Daran,« sagte Herr von Umprecht zögernd, »hätt ich nun beinahe vergessen. Mit dieser Figur verhält es sich folgendermaßen: In jener Erscheinung gab es nämlich auch, von den Fackeln grell beleuchtet, einen alten, ganz kahlen Mann, glatt rasiert, mit einer Brille, einen dunkelgrünen Schal um den Hals, mit erhobenen Händen und weit aufgerissenen Augen.«
Diesmal stutzte ich.
Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich, seltsam beunruhigt: »Was vermuten Sie eigentlich? Wer sollte das sein?«[613]
»Ich nehme an,« sagte Umprecht ruhig, »daß irgend einer von den Zuschauern, vielleicht aus der Dienerschaft des Onkels ... oder einer von den Bauern am Schluß des Stückes in besondere Bewegung geraten und auf unsere Bühne stürzen könnte ... vielleicht aber will es das Schicksal, daß ein aus dem Irrenhause Entsprungener durch einen jener Zufalle, die mich wirklich nicht mehr überraschen, gerade in dem Augenblick, wo ich auf der Bahre liege, über die Bühne gerannt käme.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie sagten Sie? ... Kahl – Brille – ein grüner Schal ...? – Nun erscheint mir die Sache noch seltsamer als früher. Die Gestalt des Mannes, den Sie damals gesehen, ist tatsächlich von mir in meinem Stück beabsichtigt gewesen, und ich habe darauf verzichtet. Es war der wahnsinnige Vater der Frau, von dem im ersten Akt die Rede ist, und der zum Schluß auf die Szene stürmen sollte.«
»Aber Schal und Brille?«
»Das hätte wohl der Schauspieler aus Eigenem getan – glauben Sie nicht?«
»Es ist möglich.«
Wir wurden unterbrochen. Frau von Umprecht ließ ihren Gatten zu sich bitten, da sie ihn gerne vor der Vorstellung sprechen möchte, und er empfahl sich. Ich blieb noch eine Weile und betrachtete aufmerksam den Situationsplan, den Herr von Umprecht auf dem Tisch hatte liegen lassen.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Weissagung
|
Buchempfehlung
In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro