Vorrede

[9] Indem ich diese Blätter dem Publikum übergebe, erlaube ich mir die Bitte, sie nicht für eine auf wirkliche Ereignisse basirte Erzählung anzusehen. Stadt, Straße, Umgebung und das nicht mehr vorhandene Haus, in welchem ich selbst meine frühste Kindheit verlebte, Sitten und Ansichten, die man damals in vielen Thüringischen Familien wiederfand, sind dem Erlebten entlehnt; ich wählte diesen Hintergrund, um meinen Schilderungen eine größere Wahrheit zu sichern; aber leider habe ich weder eine Familie von Waldau noch einen Bürgermeister Müller mit den Seinen in dieser Umgebung gefunden. Nur Sophie und Duguet sind, wie ich gern eingestehe, naturgetreue Portraits, auf denen ich sorglich geweilt, die ich zu meiner eigenen Freude in dankbarer Erinnerung ausgeführt; mögen sie im Bilde dieselbe wohlwollende Beurtheilung finden, die diesen trefflichen Menschen im Leben Keiner versagte, der sie kannte.

Wo aber ein blos zufälliges Zusammentreffen Ähnlichkeiten durch die sich vervielfältigenden Wiederholungen gleicher Zustände hervorruft, möge man mich nicht zur Portraitmalerin stempeln, ich verwahre mich dagegen: denn ich fühle, daß ich auch nicht[10] die mindeste Anlage dazu habe und nur eine so bestimmt und scharf sich abzeichnende Persönlichkeit wie die unserer alten Diener mich zu einer Charakteristik wirklich gekannter und mir werther Menschen verlockt hat.

Das Allgemeine gewährt so vielfachen, so reichen Stoff, daß mir das Umbilden zur Einzelnheit zu angenehm und zu leicht scheint, um es gern mit einer Copie täglicher Begegnungen zu vertauschen.

Quelle:
Adele Schopenhauer: Anna. Theil 1–2, Band 1, Leipzig 1845, S. 1,11.
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