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[1] Babet und Agathe, zwei sehr hübsche Mädchen von sechszehn und siebenzehn Jahren, saßen an einem rauhen Herbstabende, in der trübseligsten Stimmung von der Welt, ganz allein bei einander. Draußen peitschte der Sturm mit lautem Geprassel Regen und Hagel gegen das Fenster des Kabinets, und im Nebenzimmer lag ihre todtkranke Verwandte Vicktorine, die einzige Tochter des reichen Handelsherrn Kleeborn, der seit dem frühen Tode ihrer Eltern sich als der Bruder ihrer Mutter der armen verwaiseten Kinder väterlich annahm.
Wenn sie auch der Kranken wegen sich nicht hätten Zwang anthun müssen, so war doch ohnehin, den beiden Mädchen nicht so zu Muthe, daß sie wie sonst hätten mit einander um die Wette plaudern mögen; denn seit Jahr und Tag, das heißt, seit[1] sie aus der Pensionsanstalt in das Haus ihres Oheims kamen, waren ihnen zum erstenmale zwei tödtlich lange Wochen ohne Ball, ohne Theater, ohne irgend eine Art von Gesellschaft, langsam vorüber geschlichen. Daher wußten sie auch gar nichts ordentliches zu reden; am liebsten wären sie aus lauter Langerweile gleich zu Bette gegangen, obgleich es eben erst Abend ward; aber das ging auch nicht an, denn es war an ihnen die Reihe, diese Nacht bei der kranken Kusine zu wachen. Es schämte sich nur eine vor der andern, sonst hätte jede sich gern in einen Winkel hingesetzt, und nach Herzenslust drauf los geweint, so beklommen war ihnen zu Muthe.
Nachdem sie eine feine Weile so trübseelig da gesessen hatten, begannen sie so leise als möglich auf den Fußspitzen nebeneinander in dem kleinen Zimmer umher zu schleichen, bis Babet sehr nachdenklich am Fenster stehen blieb, den zierlichen Finger an die hübsche Nase legte, und nach einer kleinen Pause mit fast heroischem Anstande ausrief: »richtig! der Schwarze!« so daß Agathe darüber, der[2] draussen herrschenden Dunkelheit vergessend, mit dem Köpfchen neugierig gegen das Fenster fuhr. Die Scheiben klirrten, Agathe klagte weinerlich: »Das war recht maliziös von dir!« und rieb sich die schmerzende Stirn. »Ich weis gar nicht was du darunter suchst,« setzte sie hinzu. »Und ich weis gar nicht was es dich angeht,« erwiederte Babet. »So? und hast du mir nicht gesagt?« eiferte Agathe. Babet meinte, das hätte sie eben nicht, und nun gieng der Zwist wieder los, gerade wie gestern Abend, da sich beide blos für die Langeweile recht tüchtig mit einander herumgestritten hatten.
Manch heisses Thränchen war schon von beiden Seiten geflossen, als Babet endlich heraus schluchzte: »es ist doch zu arg, daß man nun nicht einmal mehr überlegen darf, was man morgen in der Kirche für einen Huth aufsetzen will« »Was? Huth aufsetzen?« fragte, schnell sich erheiternd, Agathe, »liebste Babet! ich meinte wahrhaftig, du sähest draussen den Schwarzen, ach du weist ja, wen[3] wir so nennen; den hübschen Lieutenant meinte ich!«
Die unwiederstehlichste Lust zum Lachen hemmte jetzt aufs schnellste den Erguß der Thränen bei beiden Mädchen; vergebens tönte gleich einem nahenden Gewitter, das warnende Husten der alten französischen Mamsell aus dem Krankenzimmer zu ihnen herüber; sie waren nicht im Stande sich zu fassen. Das Lachen hörte nicht auf, selbst als die Mamsell ein sehr ernsthaftes: »fi donc, mes enfants!« zur halbgeöffneten Thüre hereinflüsterte; sie stopften sich zwar die kleinen Batisttücher in den niedlichen Mund, aber es half wenig. Endlich schmiegten sich alle beide in des Onkels großen Lehnstuhl hinein, und legten, noch immer kichernd, die Lockenköpfchen dicht aneinander.
Nach und nach war es jetzt im Zimmer beinah ganz dunkel geworden, denn man hatte vergessen ihnen Licht zu bringen; dazu orgelte der Wind im Kamin, und pfiff in schneidenden Tönen durch die langen Gänge des weitläuftigen Hauses, so daß den Mädchen, trotz dem Lachen, ein kleines Grauen[4] anwandelte. Sie mochten sich weder regen, noch einander los lassen, und fiengen daher lieber an von ihren Herzensangelegenheiten mit einander zu plaudern; denn dieses war so recht ein Stündchen dazu.
»Sage einmal,« flüsterte Agathe, »geht er denn in die Kirche, wenn du den schwarzen Huth aufsetzest?« »Ei bewahre!« antwortete Babet, »aber er wartet ja alle Sonntage mit den Andern an der Kirchthüre, um die Damen zu sehen, die hineingehen; mich grüßt er dann immer ganz absonderlich, den schwarzen Huth kennt er aber noch gar nicht an mir, weil der noch neu ist, und er kleidet mich doch am besten, wie du weißt.« »Ach Gott! nun habe ich den armen Theodor schon seit acht Tagen nicht gesehen!« setzte Babet mit einem recht kläglichen Seufzer hinzu, »wären nur die Ferien nicht so schnell vorüber! wie lange wird es währen, so muß er wieder nach Göttingen! Das alberne Studiren! Ach und nun ist Montag die neue große Oper und Dinstag Ball im Kassino! Was hilft es mir nun, daß ich zum ersten Walzer, zur zwoten[5] Quadrille und zum Kotillion mit ihm engagirt bin? Da haben sie nun alle mich so beneidet! und nun bin ich doch so unglücklich!«
»Ach ja! es ist eine rechte Noth,« seufzte Agathe, »und darum will ich mich auch niemals verlieben, all' mein Lebtage nicht.« »Ich dächte gar!« rief lachend Babet, »willst du eine alte Jungfer werden wie die Tante?« »Ach die adliche Tante, sprich nur nicht von der!« erwiederte Agathe ganz ärgerlich. »Ich wollte die säße wo der Pfeffer wächst, oder wo sie bis jezt gesessen hat. Der Onkel hätte auch nicht nöthig gehabt, sie Vicktorinen wegen zu verschreiben, die hätten wir wohl ohne ihre Hülfe gepflegt, und wäre auch wohl so gesund geworden. Ich kenne zwar die Tante noch gar nicht.« »Ich auch nicht,« fiel Babet ein, »aber sie ist mir doch auch eben so fatal als dir. Gieb nur Acht, wie die uns wird behofmeistern wollen, als wenn wir nicht schon mit der Mamsell Noth genug hätten. Und eigentlich ist sie nicht einmal unsere rechte Tante, denn unsere Mutter war doch die leibliche Schwester des Onkels Kleeborn,[6] sie aber ist nur die Schwester seiner seeligen Frau, und obendrein eine Nonne oder so etwas.«
»Stiftsdame ist sie,« fiel Agathe belehrend ein, »doch wir wollen schon sehen, wie wir mit ihr fertig werden,« fuhr sie fort, »laß uns jezt nur wieder auf den Schwarzen kommen. Siehst du, ich thue nur so, als ob ich Theil an ihm nähme, denn man muß in der Welt alles mitmachen, aber ich heurathe ihn nicht, wenn er auch um mich anhält, das kann ich dir auf Ehre versichern.« Hiermit lehnte sich Agathe sehr gravitätisch in den Lehnstuhl zurück, und that dabei so ernsthaft, daß Babet wieder laut auflachen mußte. »Kennst du ihn denn so gut?« fragte diese. »Bewahre!« war die Antwort, »ich meinte nur, wenn ich ihn kennte, und eigentlich kenne ich ihn doch. Du weißt, wie oft wir mit einander getanzt haben, und er ist auch schon zweimal hier nebenan bei Obristens zum Besuch gewesen, da habe ich jedes Wort gehört was er gesagt hat, und ich kann dich versichern, es war alles sehr vernünftig, du kannst es mir glauben.« »Warst du denn bei Obristens zum Besuch? Das[7] hast du mir ja noch gar nicht erzählt,« fragte Babet. »Ach nein,« antwortete Agathe, »ich hatte nur wegen des Geldbeutels, den ich dem Onkel zu Weihnachten häckeln will, mit Amelie nothwendig zu sprechen, und da stand ich ein wenig hinter der Thüre.« »Ja so!« erwiederte Babet bedächtig, »nun ich wollte, mein Theodor machte jezt nur auch bald ein Ende, und spräche mit dem Onkel. Eigentlich hat er auf Ostern ausstudirt, Pfingsten kann er sich examiniren lassen, dann wird er auf Johanni angestellt« – »und heurathet dich auf Michaeli, das geht ja alles Quartalweise bei dir,« fiel Babet lachend ein.
»Das Fräulein Tante kommt!« rief jezt ein vorübereilender Bediente ins Kabinet hinein, und beide Mädchen nahmen sich schnell zusammen, um der Gefürchteten entgegen zu gehen.
Sie fanden die Ankommende noch auf der, mit Marmor getäfelten Hausflur, von vorleuchtenden Bedienten umgeben, welche sie in die für sie bereiteten[8] Zimmer führen wollten. Es war eine hohe, schlanke, Ehrfurcht gebietende Gestalt, die in dem schwarzen, knapp anschließenden Reisekleide, mit dem schwarzen Spitzenschleier über dem dicht anliegenden, weissen Häubchen wirklich ein ziemlich nonnenartiges Ansehen hatte. Die edlen, etwas scharf gezeichneten Züge des blassen Gesichts trugen noch unverkennbare Spuren ehemaliger seltner Schönheit; die leicht beweglichen feinen Lippen des noch immer schönen Mundes bezeichneten, wie bei Andern das Auge, jede vorübergehende Empfindung mit einem ganz eigenthümlichen Ausdrucke. Die großen hellblauen Augen hingegen schienen auf den ersten Anblick beinahe farblos und unbedeutend, doch wenn sie, während die Tante sprach, sich belebten, so drang eine solche innere Lebensgluth aus ihnen hervor, daß man sie für ungewöhnlich schön anerkennen mußte. Es lag etwas Südlich-schwärmendes im Aufschlage dieser, noch immer von langen dunkeln Wimpern beschatteten Augen, das an jene herrlichen Darstellungen der[9] Mater dolorosa erinnerte, wie wir sie noch in alten Kirchen zuweilen sehen.
Uebrigens schien die Tante kaum funfzig Jahre zu zählen, obgleich sie fast zehn Jahre älter war. Die Hand der Zeit hatte die etwas stolze Haltung des hohen Wuchses nicht gebeugt, und das noch immer weiche blonde Haar zeigte nur fast unmerkbare Spuren von Reife des Alters. Die ganze Erscheinung dieser Dame stellte sich als eine jener begünstigten Ausnahmen dar, welche die Zeit zuweilen nur mit mildem schonenden Hauche zu berühren wagt, um ein seltenes Meisterwerk der Natur so spät als möglich verblühen zu lassen.
So hatten weder Agathe noch Babet sich die Tante gedacht. Sie begrüßten sie ängstlich verlegen, und zogen dann so ehrfurchtsvoll hinter ihr drein, um sie in ihre Zimmer zu begleiten, als wäre sie eine Königin. Obgleich Beide nur noch vor wenigen Minuten sehr vorlaut über sie abgesprochen hatten, so waren sie jetzt doch so befangen, daß sie nur verstohlen es wagten, den prüfenden Blick zu ihr und zu einem sehr jungen, sehr schönen und sehr[10] bleichen Mädchen zu erheben, das, sichtbar ermattet, auf ihren Arm sich stüzte.
»Der Onkel ist nicht zu Hause, wir wollen ihn aber gleich holen lassen,« stotterte Agathe. »Er ist im Kassino, wo er alle Abend sein Parthiechen macht und gewöhnlich erst nach Mitternacht zu Hause kommt,« setzte Babet, sich ermuthigend, hinzu. »Dort laßt ihn in Ruhe, ich bitte, ich werde morgen ihn sehen, sprach die Tante sehr freundlich, »für jezt wünsche ich nun Mamsell Virnot zu sprechen, um genau zu erfahren, wie es mit unsrer Vicktorine steht. Euch aber, liebe Nichten – denn das seid ihr doch, denke ich?« »Ach ja, Babet und Agathe,« riefen beide Mädchen im Chor. »Nun denn, liebe Babet und liebe Agathe, euch beiden empfehle ich hier meine Pflegetochter, sie heißt Angelika. Ich bitte euch nicht, sie zu lieben, denn das findet sich gewiß von selbst, nehmt euch nur fürs erste ihrer freundlich an, und helft dem armen, reisemüden Kinde zur Ruhe zu kommen.«
[11]
Mitternacht war längst vorüber; Vicktorine lag leise athmend im tiefen Schlummer, von dem der noch spät sie besuchende Arzt die heilsamsten Folgen gehofft hatte. Auch Agathe und Babet waren schon vor ein paar Stunden zu Bette geschickt worden, denn die Tante, welche sich von der heutigen sehr kurzen Tagereise gar nicht ermüdet fühlte, hatte darauf bestanden, an ihrer Stelle bei der Kranken zu wachen. Die Jugend, sprach sie zu ihrer alten Freundin Virnot, indem sie für die beiden schläfrigen Kinder vorbat, die Jugend bedarf zum Gedeihen des Schlafes, wie die erblühende Pflanze den erquickenden Thau. Anders ist es mit uns, deren Lebenstag sich schon dem Untergange zuneigt, da wird die Natur selbst genügsamer, und lehrt uns, mit den Stunden haushalten, die uns vielleicht nur noch sehr sparsam zugezählt sind.
So saß sie denn jezt in dem, an das Krankenzimmer stoßenden Kabinette, in dem nehmlichen Lehnstuhle, in welchem vor ein paar Stunden Babet und Agathe einander ihren Liebeskummer geklagt hatten, und ihr gegenüber, die beim Schein der[12] verdüsterten Lampe emsig strickende Französin. Die Thüre des Nebenzimmers stand offen, keine Bewegung der Kranken konnte ihren Wächterinnen entgehen, doch sie schlief fest und ruhig.
»Gute Virnot,« hob die Tante das leise flüsternde Gespräch an, »liebe alte treue Freundin, ich muß diese ersten Augenblicke ungestörten Beisammenseyns benutzen, um Ihnen für die unsägliche Liebe zu danken, mit der Sie meiner armen Vicktorine sich annehmen.«
»Ach das liebe Kind!« erwiederte freudig die Französin, »es ist ja, als wäre es das meine. Je l'ai vu naître; diese Arme haben sie von ihrer Kindheit an getragen; wie sollte ich sie nicht lieben? c'est un coeur excellent, ein wenig heftig, ein wenig hochfahrend zuweilen, doch das macht die Jugend; der Grund ist vortrefflich, c'est le vrai portrait de feu Madame sa mère. Wenn ich dagegen Babet und Agathe mit ihr vergleiche! ach Ihro Hochwürden! ces chers Enfants sind ein paar maliziöse kleine Kreaturen.«[13]
»Nicht doch, gute Virnot,« fiel die Tante lächelnd ein, »unartig mögen sie wohl zuweilen seyn, das gebe ich zu, aber nicht boshaft, denn die Jugend ist dies selten oder nie. Doch lassen Sie uns jezt lieber von unsrer Vicktorine sprechen. Es sind nun zwölf Jahre, daß ich weder sie noch ihren Vater gesehen habe, und ich stehe da mitten unter den Meinen, gleich einer Fremden. Dennoch hängt jezt mein ganzes Herz an dem theuern Ebenbilde meiner früh zur Ruhe gegangenen Schwester, das ich als sechsjähriges Kind verlassen habe, und jezt als achtzehnjährige Jungfrau wieder finde.«
»Und wie sie sich entwickelt hat, cette chère petite Victorine, rief die Guvernante. Belle comme le jour, Madame, je vous assure. In gesunden Tagen war keine von unsern jungen Demoiselles ihr zu vergleichen, sie war die Krone von allen, und jezt, hélas!«
»Sie wird es wieder, gute Virnot,« tröstete die Tante; doch diese seufzte, »ah Madame! ich fürchte, der Arzt wird für unsre Vicktorine nur wenig thun können, denn was sie heilen soll, ist in keiner Apotheke[14] zu finden. Hätte sie mir nur vertraut, aber da hat sie geschwiegen und geweint, und geweint und geschwiegen, und nun liegt sie da.«
»Liebe Virnot, wie Sie mich erschrecken!« rief die Tante, »ich beschwöre Sie, sagen Sie mir alles, was Sie von dem geliebten Kinde wissen oder vermuthen, es sei noch so wenig, noch so unbestimmt. Es ist durchaus nothwendig, daß ich einigermaßen vorbereitet sei, ehe ich es versuche, Vicktorinens Vertrauen mir zu gewinnen. Ich hoffe, sie wird zu mir ein Herz fassen, sie wird mich um ihrer Mutter willen lieben, obgleich sie mich nur aus den Briefen kennt, die wir bisher, selten genug, mit einander gewechselt haben. Leider war ich stets mit Vicktorinens Umgebungen zu wenig bekannt, um auf das Gemüth meiner Nichte entscheidend wirken zu können. Nur Sie kenne ich in diesem Hause, liebe Virnot, und die Treue, welche Sie so viele Jahre hindurch meiner Schwester und ihrem Kinde bewiesen, alle andern sind mir fremd, sogar Vicktorinens Vater; wir sind in geistiger Hinsicht einander nie näher gekommen. Liebe zu dem einzigen Kinde meiner[15] Schwester konnte allein mich bewegen, seinen dringenden Bitten nachzugeben und die geliebte Einsamkeit meines Stiftes mit dem Leben in dieser geräuschvollen Stadt auf einige Zeit zu vertauschen.«
»Et Dieu en soit loué mille fois,« rief die ehrliche Virnot; »denn dieses haus bedarf jezt mehr als je an seiner Spitze einer Dame, wie Ihro Hochwürden Gnaden sind, und unsre junge Demoiselle einer Leitung, wie Sie allein ihr gewähren können. Ich war ja von jeher nur ihre Bonne. Zwar obgleich ich nicht in Frankreich selbst, sondern nur in der französischen Kolonie zu Berlin geboren bin, französisch hat sie dennoch von mir gelernt. Madame, elle parle comme une petite parisienne, sie hat so ganz den ächten Accent in ihrer Gewalt, eh bien, das sind Gaben von Gott. Dabei hat sie ein gewisses maintien, gewisse Manieren, wie eine kleine Prinzessin. Das alles ist aber doch nicht genug, maintenant qu'elle est une grande Demoiselle, kann ich das liebe Kind doch nicht mehr überall hinbegleiten, überdem liegt die ganze Haushaltung auf mir,[16] und so ist es allerdings ein großes Glück, daß Ihro Hochwürden Gnaden sich der Noth annehmen wollen.«
»Lassen Sie mich vor allen Dingen Sie bitten, liebe Virnot, mich mit dem Titel zu verschonen, den ich außerhalb meines Stiftes, und besonders hier, übel angebracht finde; und nun machen Sie mich mit der Noth bekannt, welcher abzuhelfen, hier meine einzige Sorge sein soll;« sprach die Tante.
»Eh bien donc, Madame, vous le voulez,« erwiederte die Französin, nahm die Brille ab, legte ihr Strickzeug zusammen, und rückte im Sessel sich zurecht, dann fuhr sie folgendermaßen fort. »Au fond, glaube ich, liegt die Schuld wohl größtentheils am cher Papa. Herr Kleeborn ist zwar ein sehr braver Mann, der sein Kind liebt, wie ein rechtlicher Vater soll und muß. Er läßt es Vicktorinen an nichts fehlen, er hält ihr die theuersten maitres, in allem, was eine solche junge Demoiselle zu lernen hat, sein Haus ist das brillianteste in der Stadt. Ach Ihro Gnaden können gar nicht glauben, wie ich mich tummeln muß, bei den ewigen Feten, die wir geben; denn obgleich wir Bedienten die[17] Menge haben, liegt doch alles auf der alten Virnot, mais je le fais de bon coeur. Ja, was ich sagen wollte, um wieder auf unsern Text zu kommen, ja, und eine Garderobe hat unsre jeune Demoiselle, comme une petite Reine, je vous assure, Schmuck und alles, was dazu gehört.«
»Nun das alles will indessen nicht viel sagen, Herr Kleeborn besizt ein fürstliches Vermögen, Alle an der Börse ziehen den Huth vor ihm ab, und so kann er den Aufwand wohl ertragen. Mais, Madame, entre nous soit dit, das ist nicht immer so gewesen. Es kam einmal eine Zeit, nicht lange vor dem Ableben unsrer seligen Dame, es mögen zehn Jahre und drüber sein, das war eine sehr böse Zeit, in der die Stützen von Europa wankten, wie Herr Kleeborn zu sagen pflegt, wenn jetzt die Rede darauf kommt. Ein eigener Unglücksstern muß damals über der Handelswelt aufgegangen sein, denn, figurez vous, Madame, in Amsterdam, in London, überall in den bedeutendsten Handelsstädten fielen die größten Häuser. Ueberall herrschte Mistrauen, plus de confiance, plus de crédit, [18] nulle part. Jeder Tag brachte neue Hiobsposten, und Herr Kleeborn ward immer so bleich, wie hier mein Tuch, ehe er die Briefe, welche an ihn einliefen, im Zimmer von Madame erbrach; denn da trug er sie damals immer hin, weil er sich nicht mehr getraute, sie im Komtoir im Beisein seiner Leute zu eröffnen. Wahrscheinlich fürchtete er, sich zur Unzeit zu verrathen, wenn etwa böse Nachrichten kämen. Nun die blieben denn auch nicht aus, und Herr Kleeborn sah sich au bord d'un précipice, wie man zu sagen pflegt. Er war zwar nicht ruinirt, aber er gerieth doch, pour le moment, in sehr dringende Verlegenheit, und nur baares Geld konnte ihn retten, wenn er nicht, wie damals so viele andere, seine Zahlungen suspendiren wollte. Le pauvre homme! Der bloße Gedanke an einen solchen Schritt sezte ihn in Verzweiflung. Meine arme Dame hat in jenen Tagen recht viel mit ihm ausgestanden, denn nur ihr allein vertraute er alles. Ah! comme elle en a pleuré!«
»Meine arme Schwester! mir hat sie das alles verschwiegen!« seufzte die Tante. »Das glaube ich,«[19] erwiederte die Bonne, »denn sie klagte nie; aber sie hat seitdem wenig frohe Stunden mehr gehabt. Um den Herrn zu trösten, bat sie ihn mit Thränen, sich an ihre reiche Verwandte zu wenden, die sollten ihm helfen. Sie schrieb selbst an den Herrn Grosonkel, der die weitläuftigen Herrschaften in Schlesien besitzt. Auch an alle andere begüterte Mitglieder der Hochadeligen Familie wandten sich beide in dieser Noth, Herr Kleeborn sowohl als Madame; Namen und Reichthümer der hohen Herrschaften sind Ihro Gnaden gewis besser bekannt als mir, mais – hier stockte die gutmüthige Erzählerin, als scheue sie sich weiter zu sprechen, doch ihre Zuhörerin lies nicht ab mit Bitten, bis sie sich entschloß weiter fortzufahren.
»Enfin, Madame, vous le voulez ainsi,« fieng sie abermals an, »und so muß ich denn leider bekennen, daß eine abschlägige Antwort der andern folgte, und waren sie auch nicht alle mit dem feinsten ménagement abgefaßt. Den Zustand meiner beklagenswerthen Dame unter diesen Umständen, mag ich Ihro Gnaden nicht beschreiben, die Verzweiflung[20] ihres Gemals blieb indessen immer ihr größter Kummer, an sich dachte sie wenig. Leider aber verschonte sie auch Herr Kleeborn nicht mit Vorwürfen über das Benehmen ihrer Verwandten, et cependant, Dieu le sait, la pauvre chère femme n'en pouvait rien! Sie trug alles mit der größten Freundlichkeit, aber ich denke immer, jeder Tag in jener Zeit war ein Nagel zu ihrem Sarg.«
Die gute Alte brach bei diesen Worten in Thränen aus, auch ihre Zuhörerin weinte, endlich nahm die Bonne wieder das Wort. »Ah, Madame,« seufzte sie, »nous avons bien souffert. Endlich kam Hülfe, wo es der Herr am wenigsten erwartet hätte; ein reiches Amsterdammer Haus, welches schon mit seinem Vater in grossen Verbindungen gestanden hatte, an das er sich aber nicht hatte wenden mögen, weil es ebenfalls bei allen diesen Schlägen nicht verschont geblieben war, schickte Herrn Kleeborn aus eignem Antriebe grosse Summen ein, gab ihm offnen Kredit, zu einer Zeit da der Bruder dem Bruder nicht mehr vertrauen durfte. Herr Kleeborn war nun durch den Edelmuth[21] seiner Handelsfreunde gerettet, er blieb ein wohlbehaltner Mann, und gieng wie ein König, mit erhobnem Haupte an der Börse einher, doch meine arme Dame litt darum nicht weniger, denn er warf von diesem Augenblick an einen gewaltigen Haß, nicht nur auf ihre Familie, sondern auf die ganze Noblesse. Er sprach unablässig davon, wie thöricht die Bürgerlichen wären, die sich mit Adelichen verbänden, und versicherte, daß er seine Vicktorine – lieber Gott, la pauvre petite war damals kaum sieben Jahre alt! – daß er sie, sage ich, nie einem andern als einem Kaufmann geben würde. »Der wahre Kaufmann,« pflegte er zu sagen, »hat den achtungswerthesten, nützlichsten und darum ehrenvollsten Stand erwählt. Er allein verbindet beide Hemisphären, sein scharfer Blick entdeckt jeden Mangel in den entferntesten Ländern, und auf seinen Wink eilen reichbeladene Schiffe von einem Pole zum andern, um diesem Bedürfnis abzuhelfen. Sein Wort, sein Befehl gelten in der neuen Welt wie in der alten, und ein Federzug von ihm sezt hundert Meilen von ihm Millionen Goldes[22] und tausend fleissige Hände in Bewegung.« Ne vous étonnez pas, Madame, daß ich dies alles Ihnen so hersagen kann, ich habe die ganze Tirade so viel Hundertmal, fast immer in den nehmlichen Worten wiederholen gehört, daß ich sie endlich wohl auswendig behalten mußte. Am Ende dieser Rede sezte Herr Kleeborn gewöhnlich hinzu, »lassen Sie einmal einen Reichsgrafen, einen Freiherrn, oder welchen Ihrer edlen Verwandten Sie wollen, es versuchen, Madame, was im Auslande mehr gilt, Ihr uralter, Name, Ihr tausendjähriger Stammbaum, oder meine simple keine funfzig Jahre alte Firma, Martin Nikolaus Kleeborn, von meiner eignen Hand geschrieben. Kaiser und Könige nehmen zu uns ihre Zuflucht, wir müssen allen helfen, aber wenn wir Hülfe brauchen, und sie thörichter Weise bei andern als bei unsers gleichen suchen....« Damit ging denn das alte Lied wieder los, et Madame pleurait! Freilich kam es mir vor, als ob der Herr in der Hauptsache nicht ganz Unrecht haben mochte, aber wozu diese ewigen kränkenden Répétitions gegen meine unschuldige Dame? Aussi[23] en avait elle le coeur navré, obgleich sie nie litt, daß ich nur ein Wort darüber sprach. Sie ward endlich dabei des Lebens immer müder und müder, bis sie nach etwa sechs Monaten sich hinlegte und entschlief. Dieu aye pitié de son ame!«
»Eh bien,« nahm nach kurzer Pause mit, vor innerer Rührung noch bebender Stimme, die Bonne wieder das Wort, »eh bien, nun war es an dem Herrn zu weinen, und das hat er denn auch redlich gethan, denn er liebte meine seelige Dame demohnerachtet. Sein Gewissen mochte ihm anfangs wohl manch böses Stündlein machen, wenn er der lezten Zeit gedachte die sie mit ihm verlebt hatte. Doch im Gewühle der Geschäfte gieng das bald vorüber. Einige glückliche Handelsconjuncturen traten bald darauf ein; so nennen sie es nehmlich an der Börse, wenn sie mit ihren Spekulationen viel Geld verdienen. Herr Kleeborn ward mit jedem Jahre immer reicher und reicher, und zulezt der Millionär der er jezt ist. Wärend Herr Kleeborn sein Hauswesen immer prächtiger einrichtete, wuchs ebenfalls unsre Vicktorine, seine einzige Erbin, zur[24] schönsten Demoiselle in der Stadt heran. Da gab es bei uns Bälle, Concerts, Assemblées, Théatres de Société; alle angesehenen Fremde, von jedem Range und Stande, sans distinction, fanden dabei Zutritt, et notre chère petite Victorine war wie eine kleine Königin, au beau milieu de tout cela.«
»Armes Kind!« seufzte die Tante. »Ja wohl! stimmte die Bonne mit ein, so ganz allein, dans ce tourbillon, ohne eine chère Maman sie zu souteniren! Indessen muß ich ihr zum Ruhm nachsagen, daß tausend andre junge Demoiselles sich an ihrem Plätz ganz anders benommen haben würden; da ist Mademoiselle Babet par exemple, mais passons là-dessus. Unsre Vicktorine war immer artig und freundlich gegen jedermann, immer sans prétentions. Die Freier blieben denn auch nicht lange aus; manche mochten wohl les beaux yeux de la Cassette de son père mit in Anschlag bringen, enfin, das ist so der Welt Lauf. Genug Grafen und Barone haben sich um unsre petite Demoiselle beworben, man spricht sogar von einem nahen Verwandten der apanagirten Linie eines[25] regierenden fürstlichen Hauses, mais cela reste entre nous.«
»Daß Herr Kleeborn an dem Succès seiner schönen Tochter ungemeine Freude hatte, war wohl ganz natürlich, indessen wies er doch alle die vornehmen Parthien, die sich ihr darboten, zwar sehr höflich, aber doch auch zugleich sehr bestimmt zurück.«
»Er blieb dabei, ihre Hand nur einem Kaufmanne, wie er selbst einer ist, geben zu wollen, und jezt Ihro Gnaden, nous voilà arrivé au point, jezt sind wir an dem Punkte, will ich sagen – »wie denn?« fragte ein wenig ungeduldig die Tante, »an welchem Punkte?« – »Nun an dem Punkte,« war die Antwort, »von welchem, wie ich glaube die Krankheit Vicktorinens ausgeht. Und gebe Gott, daß ich irre, daß meine Ahnung nicht in Erfüllung gehe, mais j'ai un pressentiment bien triste au fond du coeur. Ich fürchte, sie fühlt eine unglückliche Passion für einen der großen vornehmen Herrn, die sich vergeblich um ihre Hand bewarben. Und wenn der cher papa so fortfährt wie er angefangen hat, so kann sie wie ihre pauvre[26] chère maman ...« »Fassen Sie Muth, gute Virnot, fiel die Tante ein, »fürchten Sie nicht gleich das Aergste; ein junges Herz bricht nicht so leicht, weil es immer und gern an der Hofnung hält, und die läßt uns so nicht untergehen. Sagen Sie mir nur vor allen Dingen, kennen Sie den Mann, von dem Sie glauben könnten« – »Hélas non! ich kenne niemand,« seufzte die Bonne. »Wenn Société da ist,« fuhr sie nach einem kleinen Bedenken mit ihrer gewohnten Redseeligkeit fort, »so komme ich nie in den Salon, da habe ich im Hause genug zu thun, c'est la mer à boire. Wahrhaftig, Ihro Gnaden, es thäte Noth, daß ich hundert Augen hätte und Flügel dazu. Ich glaube es wohl, liebe Virnot,« erwiederte die Tante, »doch sprechen wir von Vicktorinen.«
Ah Madame,« fieng die Bonne wieder an, »que voulez vous, que je vous en dise? Ich weis nichts weiter, als daß der Papa vor einiger Zeit sie in sein Kabinet rufen ließ. Das wunderte mich eben nicht, denn es ist so seine Gewohnheit, wenn er einen neuen Freyer abgewiesen hat, damit[27] Vicktorine doch wisse, wie sie in Zukunft ihr Benehmen gegen den Monsieur en question einrichten soll. Sie blieben wohl eine Stunde bei einander, das war noch nie geschehen. Endlich kam sie zurück in ihr Zimmer, mais grand Dieu! dans quel état! Bleich wie eine Sterbende, sag' ich Ihnen, hélas! sie sah in dem Augenblick ihrer pauvre maman so ähnlich! Sie schlang ihre beiden lieben schönen Arme um meinen alten Nacken, und weinte so kläglich, wie noch nie seit dem Tode ihrer Mutter. Ich weinte mit, ich wußte zwar nicht, worüber? aber wie konnte ich anders? la pauvre petite me perçoit le coeur. Ich versuchte endlich ihr zuzureden, so gut ich es konnte in meiner Unwissenheit von dem, was zwischen ihr und ihrem Vater vorgegangen war, mais, du lieber Gott, was konnte das helfen? Sie hörte nicht einmal auf mich. Dabei war sie so heftig, ihre Augen blitzten so wild, ihre Bewegungen waren so égarés, ich vergieng bald vor Angst, und wußte nicht, quoi faire. Bald weinte sie, bald stieß sie Klagen und Reden aus, die ich zwar nicht verstand, die ich[28] aber doch nicht anders auslegen kann, que comme j'ai eu l'honneur de le dire à Madame. Das währte einige Zeit, sie wankte gleich einem Schatten umher, schrieb viel, weinte noch mehr, bis ein heftiges Fieber ihr Kraft und Besinnung raubte. Seitdem liegt sie da, comme Madame l'a trouvée.«
»Heute war ein entscheidender Tag, und der Arzt zufrieden; le bon Dieu en soit béni mille fois. Ich denke, die Gegenwart der chère Tante wird das beste Cordial für die arme Kranke sein. Wenn sie nur reden wollte! Reden bleibt doch immer der beste Trost!«
Unerachtet der großen Theilnahme, mit welcher die Tante der guten alten sprachseeligen Französin zugehört hatte, konnte sie dennoch bei dieser ihrer lezten Bemerkung ein leichtes Lächeln kaum unterdrücken. Indessen brach der Tag an, die Tante gieng um auszuruhen, und Vicktorine erwachte bald darauf mit allen Anzeigen einer nahen Genesung.
[29]
Von nun an verlies die Tante Vicktorinen so wenig als möglich. Denn obgleich der Arzt diese für völlig ausser aller Gefahr erklärt hatte, so bedurfte die arme Kranke jezt dennoch einer weit aufmerksamern Pflege als damals, wo sie in dumpfer Bewußtlosigkeit am Scheidewege zwischen Tod und Leben dalag. Nach der Versicherung des Arztes konnte jede, selbst die freudigste Gemüthsbewegung ihr einen, wahrscheinlich tödtlichen Rückfall zuziehen; daher war es der Tante angelegentlichste Sorge, die ununterbrochendste Ruhe in ihrer Nähe zu erhalten und sogar jedes einigermassen interessante, oder auch nur anhaltende Gespräch mit ihr zu vermeiden.
Auch Angelika umschwebte fast unhörbar, gleich einem freundlichen Schutzgeist, das Lager der Kranken, und ohne dabei jemals durch sich übereilende polternde Hast lästig zu werden, suchte sie jeden Wunsch in ihren Augen zu lesen, um ihn gelassen und zuvorkommend zu erfüllen, ehe er noch ausgesprochen ward. Lieben und athmen waren gleichbedeutend für dieses, nur zu zart besaitete[30] Wesen, aus dessen tiefster Brust jeder Ton des Schmerzes einen wehmüthig verhallenden Nachklang hervor rief, und der Name Angelika hätte für sie erfunden werden müssen, wenn er nicht schon da gewesen wäre, so genau stimmte er zu ihrem Aeussern wie zu ihrem Innern.
Von ihrer frühsten Kindheit an hatte der armen Angelika die Freude fast nie anders als in fremden Augen gelächelt. An ihrer Wiege wachte nicht mütterliche Liebe, denn ihr Eintritt in das Leben gab der Mutter den Tod und vereinigte diese wieder mit dem geliebten, ihr einige Wochen früher vorangegangenen Gatten. Die erste Sorge für das ganz verwaiste Kind fiel also bezahlten Aufsehern zu. Denn Angelika ward, weit entfernt von allen ihren Verwandten, in einer kleinen Stadt, in der Nähe des Rheins geboren, wo ihre Eltern sich erst wenige Monate vorher niedergelassen hatten. Niemand beinahe hatte diese dort anders als dem Namen nach gekannt, selbst der Vormund des armen Kindes wußte wenig von ihnen, und nur der allgemeine Ruf, der diesem[31] braven Manne das Zeugniß strenger Rechtlichkeit gab, hatte Angelikas sterbende Mutter bewogen, ihr ganz verlassnes Neugebohrnes seinem Schutz zu empfehlen. Mit dem besten Willen von der Welt wußte er indessen für sein armes Mündel nichts besseres zu thun, als es für ein geringes Kostgeld der Pflege einer, ihm als redlich bekannten Frau zu übergeben, und indessen den nicht sehr bedeutenden Nachlaß der Eltern Angelikas so vortheilhaft als möglich für sie zu verwalten.
Angelika erreichte ihr achtes Jahr, ohne daß es ihr bei der Frau, der sie anvertraut war, besonders wohl oder übel ergangen wäre, und nun beschloß ihr Vormund, sie nach Frankreich in eine Erziehungsanstalt zu bringen. Denn er fühlte eine unendliche Vorliebe für dieses Land, in welchem er seine eigene Jugend verlebt hatte, und war fest überzeugt, daß ein mittelloses Fräulein wie Angelika sich nur dort die nöthigen Talente erwerben könne, um einst als Guvernante fürstlicher Kinder, oder als Gesellschafterin einer Dame von hohem Stande ihr Fortkommen in der Welt zu finden.[32]
Die weltberühmten Erziehungsanstalten in und um Paris waren freilich für die sehr beschränkten Vermögensumstände Angelikas viel zu kostbar, doch ein in Angouleme wohnender Jugendfreund ihres Vormundes empfahl diesem ein in jener Stadt bestehendes Institut dieser Art nicht nur als sehr wohlfeil, sondern auch als ganz vorzüglich. Der Vormund freute sich hier einen so vortreflichen Ausweg für sein Mündel gefunden zu haben, und entschloß sich um so eher, es dorthin zu schicken, da sich zufälliger Weise eine vorzüglich gute Gelegenheit ihm darbot, die Kleine in sicherer Begleitung hinzuschaffen.
So mußte denn die arme Waise fern vom Vaterlande, in einer der abschreckend schmuzigsten, traurigsten Städte des südlichen Frankreichs den schönen, nie wiederkehrenden Frühling ihres Lebens unter Menschen verleben, denen sie fremd blieb, selbst nachdem sie es gelernt hatte, deren Sprache zu verstehen. In dem Hause, dem sie anvertraut wurde, war alles klösterlicher Zwang, sogar das Vergnügen. Ueber eine ziemlich bedeutende Anzahl[33] aus allen Ecken der Welt, sogar aus Amerika dort zusammengekommner junger Mädchen, herrschten drei bis vier Unterguvernantinnen, gleich strengen Zuchtmeisterinnen, und diese selbst standen wiederum unter dem gewaltigen Scepter einer Vorgesezten, die sich fast wie eine Gottheit von ihren Untergebenen sclavisch verehren lies. Die Zöglinge waren mehrentheils alle durch Alter, Vaterland, Sprache, Talent und Gemüthsart wesentlich von einander verschieden, und wurden dennoch vollkommen gleich behandelt; alle waren strengen, ängstlichen Formen unterworfen, die einzig erdacht zu sein schienen, jede frohe Regung eines jugendlichen Gemüths zu ersticken.
Die arme Angelika glich hier vollkommen dem Epheu, der, in einen engen Scherben verpflanzt, mühseelig fortvegetirt, und vergebens die schlanken Zweige nach allen Seiten hinstreckt, um einen Gegenstand zu finden, den er liebend umfassen könnte. Ein einziges, ihr namenlos bleibendes Gefühl unendlicher Sehnsucht bemächtigte sich ihres ganzen Wesens, aber sie fand nicht einmal eine Seele, die[34] es der Mühe werth gehalten hätte, sich von ihr lieben zu lassen. Sie hatte Jugendgenossen, aber keine Jugendfreundin, und überhaupt niemanden in der weiten Welt, zu dem sie hätte sagen können: Dir gehöre ich an; oder der auch nur theilnehmend sich ihr zugeneigt hätte.
Die Zeit vergeht indessen dem Glücklichen wie dem Unglücklichen, und so flog sie denn auch an Angelika vorüber, und nahm deren freudenarme Kindheit mit sich fort. Wie auf einsamer Alpe die, im nakten Felsen dürftig wurzelnde Pflanze oft schöner ihr Haupt erhebt, als ihre im Garten sorgsam gepflegte, glücklichere Schwester, so wuchs auch die Verlassne unter Entbehrungen aller Art und Uebung sehr herber Pflichten, mit ihrem vereinsamten Herzen, nicht minder schön zur Jungfrau heran als eine Glückliche. Sie hatte das Wort Liebe nie anders als im religiösen Sinn gehört, nie einen Roman gesehen, viel weniger gelesen; sie war nie im Theater gewesen, sah keinen Mann ausser den Lehrern in ihrem Institut, und diese waren alle in ihrem mühseeligen Berufe grau geworden,[35] dankten Gott, wenn die Stunde schlug, die ihnen das Ende ihres peinlichen Tagewerks verkündete. Und dennoch schwebte vor dem innern Sinne der armen Angelika ein namenloses Ideal, das ihre stille Fantasie mit den herrlichsten Eigenschaften zu schmücken wußte. Es verschönte, im Wachen wie im Schlummer ihren Traum, es lieh der ihr ganz unbekannten Welt einen zauberischen Glanz und lehrte dem einsamen Mädchen mitten im Zwange seiner verarmten Jugend, alles Entzücken der ungemessensten Aufopferung, der zartesten Anhänglichkeit, ja die ganze unendliche Seeligkeit zweier, Liebe um Liebe hingebender Wesen vorahnend empfinden.
Als Angelika ihr sechzehntes Jahr erreicht hatte, entschloß sich ihr Vormund, sie selbst aus Angouleme abzuholen, um sie nach dem nördlichen Deutschland, in das Haus eines nahen Verwandten ihres verstorbenen Vaters zu geleiten, der es endlich für gut gefunden hatte, der Existenz seiner Nichte sich zu erinnern. In der Familie desselben sollte sie denn noch ein Jahr lang verweilen, um deutsche[36] Sprache und Sitte zu lernen, ehe sie eine Hofdamenstelle bei einer einsam lebenden verwittweten Fürstin anträte, zu welcher ihre Verwandten ihr indessen die Anwartschaft zu verschaffen bemüht gewesen waren. Angelika zitterte vor banger Freude als sie das Haus betrat, in welchem sie zum erstenmal in ihrem Leben Personen finden sollte, die ihren Namen trugen, und an deren Theilnahme sie Anspruch zu haben glaubte. Sie war so fest entschlossen, sie innigst zu lieben; doch auch hier kam gleich beim Empfange ihrem, von heisser Sehnsucht erfüllten Gemüthe, die kälteste Berechnung steifer Förmlichkeiten entgegen, so daß sie davor zusammenschrack, wie die Sensitive wenn der kalte Hauch des Nordwindes über sie hinfährt.
Angelika empfand gleich in der ersten Stunde, welche sie unter ihren Verwandten verlebte, daß sie durch Sprache und Anstand, sogar durch ihre Kleidung ihnen höchstens ein Gegenstand der Duldung, doch nie der Liebe werden könne. Sie stand mitten unter ihnen wie eine Fremde, denn sie schien durch diese Aeusserlichkeiten einem Volke anzugehören, gegen[37] dessen, alles zertretenden Uebermuth gerade in jenem Momente sich jedes deutsche Herz empörte, jeder waffenfähige Arm sich erhob.
Indessen war Angelika trotz dem äussern Scheine, den man ihr ohne ihr Zuthun aufgedrungen hatte, dennoch sehr weit davon entfernt, Frankreich zu lieben, von dem sie nichts weiter kannte, als die alte düstre Stadt, und in dieser das Haus, wo sie ihre erste Jugendzeit in trübseeliger Beschränktheit hingeschmachtet hatte. Denn alles übrige war ihr sogar bis auf den Namen davon fremd geblieben.
Sie hatte immer mit heisser Sehnsucht, diesem Grundtone ihres Daseins, an ihrem Vaterlande festgehalten, dessen Bild ihr noch aus ihren Kinderjahren vorschwebte, verherrlicht durch jenen Zauberglanz, mit welchem Entfernung und Entbehren jeden Gegenstand schmücken.
Sie war sogar heimlich bemüht gewesen, ihre Muttersprache nicht ganz zu vergessen, und hatte, gleich einem werthen Heiligthume, ein paar kleine Kinderbüchelchen sorgfältig aufbewahrt, die sie aus ihrer Geburtsstadt mit sich nach Frankreich gebracht.[38] So lange sie in dem Erziehungsinstitute war, las sie in mancher einsamen Viertelstunde sich selbst aus diesen Büchern laut vor, um nur die süssen vaterländischen Töne zu hören, und sezte dieses sogar dann noch fort, als der Inhalt ihrer ärmlichen Bibliothek ihrem höher entwickelten Geiste schon längst nicht mehr zusagen konnte.
So vorbereitet war es ihr nicht schwer, ihrer Muttersprache bald wieder ganz mächtig zu werden. Das ihr bis jezt unbekannte Familienleben im Hause ihrer Verwandten, die herzlichere Sitte ihres Volkes, der Genuß der Natur in einer schönen Gegend, den sie seit ihrer ersten Kindheit entbehren mußte, alles dieses vereint, machte ihr Vaterland ihr unendlich theuer, aber sie mußte es auch lieben wie sie es liebte, um mit ihrem sanften weichen Gemüthe das Gefühl des Nazionalhasses zu ertragen, welches damals, unzertrennlich von der Vaterlandsliebe, neben dieser herzog, und sich in allen ihren Umgebungen auf das deutlichste aussprach.
Angelikas Rückkehr ins Vaterland fiel in jene unvergesliche Zeit, in der ein neu erwachter Heldengeist[39] jede deutsche Brust beseelte. Ein frischer Jugendhauch wehte durch die neu belebte Welt, die so lange unter dem Druck eines Einzigen geseufzet hatte; jedes Herz klopfte in frommer Hoffnung und von allen Seiten eilte Deutschlands streitbare Jugend herbei, und fand bei der gastlichsten Aufnahme in jedem Hause die eben verlassne Heimath wieder.
Auf diese Weise kam auch Ferdinand von Klarenau in das Haus des Barons Sternwald, – so hies Angelikas Oheim, bei welchem diese jezt lebte, – und in dem einzigen Wesen, das ihr jemals beim ersten Anblicke liebend und vertrauend entgegengetreten war, glaubte das sehnsuchtsvolle Gemüth des so lange vereinsamten Mädchens jezt das Urbild ihres Jugendideals gefunden zu haben. Alles zeigte sich ihr von nun an in verschönerndem Lichte, und die Welt erblühte ihr in nie gesehener Pracht an Ferdinands Hand, denn er war Jüngling, Dichter, und Krieger für Vaterland und Recht. Der freudige Enthusiasmus, der ihn beseelte, theilte auch ihr sich mit; ihr Leben schien ihr jezt erst zu beginnen, und jeder ihrer Athemzüge war ein stilles[40] Dankgebet für die unendliche Seeligkeit, welche ihr, der Freude ungewohntes Herz kaum zu tragen vermochte.
Da auch die äussern Verhältnisse die Liebenden begünstigten, so schied Ferdinand aus der geliebten Nähe seiner Angelika als ihr, von ihren Verwandten anerkannter, verlobter Bräutigam. Bei seiner Zurückkunft aus dem Felde sollte ihre Hand den Lohn der Tapferkeit ihm reichen, und die hohe, schöne Siegeshoffnung, die aus seinen Augen ihr entgegen stralte, erhob auch sie über den Schmerz der Scheidestunde, und führte diese linde und leise an Beiden vorüber. Ferdinand gieng nun für die Geliebte zu streiten, Angelika blieb, um für ihn zu beten.
Als er gieng, kam kein Gedanke daran in das Herz der Armen, daß er gegangen sein könne, um nie wiederzukehren, und doch war es so. Er hatte den Lützowschen Jägern sich zugesellt, und fand mit diesen seinen tapfern Gesellen im schändlichsten Verrathe den Untergang. Wie er geendet hatte? wußte keiner genau zu berichten; aber er war verschwunden,[41] spurlos, rettungslos, wie so Viele, die mit ihm kämpften und fielen.
Gleich einer verstummten Nachtigall, wenn der Frühling dahin ist, so klagelos, so einsam blieb Angelika zurück. Ihr ganzes Dasein war von nun an nur ein leises Ach; sie gieng ganz still umher, sie war unendlich freundlich gegen Alle, sie athmete wie sonst, doch jeder Schlag ihres Herzens war ein nie endendes Sterben. Oft dünkte ihr, als müsse sie gegen einen bangen Traum ankämpfen, dann bat sie Gott mit Thränen: er möge sie erwachen lassen; denn sie konnte an die Wahrheit ihres Elends nicht glauben, bis das heftiger wiederkehrende Weh im Innersten ihrer Brust, sie von neuem fühlen ließ, daß es dennoch so sei, wie es war.
Ihre im Grunde gutmüthigen Verwandten thaten zwar nach ihrer Art alles, was sie vermochten um die Arme zu trösten, doch mit dem besten Willen von der Welt verwundeten sie oft, wo sie zu heilen gedachten. Sie führten sie endlich nach Pyrmont in der Hoffnung, daß das Gewühl des Badelebens sie zerstreuen würde, aber sie verflochten sich bald[42] selbst so gewaltig in das allgemeine Treiben der Gesellschaft, daß sie gar nicht bemerken konnten, wie Angelika immer bleicher und stiller ward, je lauter und bunter es in ihrer Nähe zugieng.
Doch gerade hier erbarmte sich endlich ein guter Engel der Leidenden, und führte ihr in Vicktorinens Tante, der Stiftsdame Anna von Falkenhayn, den einzigen Trost zu, der auf Erden für sie noch zu finden war, den Trost einer weisen, wahrhaft theilnehmenden Freundin. Das allgemeine Mitleid, welches die interessante Erscheinung des bleichen trauernden Mädchens jedem einflößte, der es sah, lösete sich in Annas edlem Gemüthe gar bald in wahrhaft mütterliche Zuneigung auf, und Angelika erwiederte diese Liebe mit all der Innigkeit, welche von jeher die Lust und die Quaal ihres Lebens gewesen war.
Obgleich Angelika in ihrer stillen Demuth sich nie die leiseste Andeutung von Unzufriedenheit mit ihrer äussern Lage erlaubte, so sah das Fräulein Anna von Falkenhayn doch nur zu bald ein, daß die Umgebungen, in welchen ihre junge Freundin leben[43] mußte, einem gebrochenen Herzen durchaus nicht wohlthun konnten. Schon die Art bewies dies, mit der Angelikas Verwandte sich über das harte Geschick ausliessen, welches diese zarte Pflanze so tief gebeugt hatte. Die Bereitwilligkeit, mit der sie nicht nur das Fräulein, sondern sonst auch noch jedermann, der darnach fragte, zum Vertrauten in dieser Angelegenheit machten, hatte in der That etwas beleidigendes, obgleich sie selbst dieses weder fühlten, noch wollten; denn sie waren wirklich wohlmeinend und wünschten der armen Angelika zu helfen, nur war sie ihnen von jeher zu ferne geblieben, um von ihnen verstanden zu werden. Endlich entschloß sich Anna von Falkenhayn, vom innigsten Mitleid durchdrungen, zu erbitten, was Angelikas Verwandte ihr mit tausend Freuden gewährten, um so mehr, da bei der Gemüthsstimmung des armen Mädchens und dessen mit jedem Tage tiefer sinkenden Lebenskraft, ohnehin an die Hofdamenstelle nicht mehr gedacht werden durfte. Und so zog sie denn mit ihrer älteren Freundin in deren Heimath, und ward von Letzterer als die Tochter[44] ihres Herzens mit unaussprechlicher Zartheit gepflegt und gewartet wie eine kranke Blume, die man gern wieder aufrichten möchte.
Anna gewann, nach Art aller edlen Frauen, die Leidende immer lieber, je mehr sie für sie that, und Angelikas Leben hieng dagegen einzig an der wohlthuenden Gegenwart ihrer Beschützerin. Die Möglichkeit, auch nur wenige Monate fern von dieser leben zu können, war ihr undenkbar, und so wurde denn das geliebte Kind bei dem Besuch im Kleebornischen Hause Annas Begleiterin, und theilte freudig mit ihr die liebende Sorge für Vicktorinen.
Nicht nur Vicktorine, deren Genesung mit jedem neuen Tage neue erfreuliche Fortschritte machte, sondern auch alle übrige Mitglieder der Hausgenossenschaft, empfanden das Wohlthuende der, Ruhe und Ordnung wieder herstellenden Gegenwart der Tante. Die gute alte Virnot wanderte wieder ganz wohlgemuth in gewohnter Geschäftigkeit Trepp' auf, Treppe nieder, ihr Schlüsselkörbchen in der[45] Hand, und führte in Küche und Speisekammer das Regiment über die zahlreiche, weibliche Dienerschaft.
Auch Babet und Agathe seegneten ihres Theils die Tante und Angelika, weil diese beiden sie der steten Gegenwart in der beengenden Luft des Krankenzimmers überhoben. Die guten Kinder durften jezt doch wenigstens am Fenster die Vorübergehenden mustern, und da gab es denn einstweilen manches zu besprechen, mitunter auch manchen interessanten Gruß zu erwiedern, denn der schwarze Lieutnant und der blonde Theodor schienen täglich in der Nähe des Kleebornschen Hauses viel zu thun zu haben. Dieser Umstand und die Ueberlegungen, welche man in Hoffnung auf nahe bessre Zeiten, hinsichtlich der Wintergarderobe anzustellen für nöthig fand, gaben unversiegbaren Stoff zur Unterhaltung, so daß fürs erste unter den Beiden von Streit oder übler Laune nicht mehr die Rede sein durfte.
Nur Herr Kleeborn selbst, der alles angewendet hatte, seiner Schwägerin Gegenwart sich zu gewinnen,[46] nur er allein fühlte sich jezt durch dieselbe einigermaßen gedrückt, ohne dieses jedoch jemals sich selbst gestehen zu wollen. Die fast übertriebne Zartheit, mit der sie die größte Anspruchslosigkeit, die strengste Diskrezion in allen häuslichen Verhältnissen beobachtete, ihre mitunter ein wenig altmodisch sich äussernde Vorliebe für Schicklichkeit und Anstand selbst im engsten Familienleben, machten ihn oft etwas beklommen und verlegen, wenn er der Tante gegenüber sich befand. Es entgieng ihm nicht, wie sie allein durch ihre Persönlichkeit nicht nur das ganze Haus, sondern sogar ihn selbst beherrschte, ohne doch jemals irgend etwas, einem Befehl Aehnliches auszusprechen. Alles richtete sich nach ihren Blicken, und jedem, vom Herrn an bis zu dem Geringsten der Dienenden, war es so zu Muthe, als dürfte dieses gar nicht anders sein.
»Es ist das verfluchte adlige Vornehmthun,« dachte Herr Kleeborn, oder gab sich vielmehr Mühe es zu denken und im Ganzen half ihm dies wenig, denn er gewann dennoch nicht den Muth, mit ihr von Dingen zu reden, über die sie noch nicht Lust[47] hatte ihn zu hören. Ihr Wunsch war, Vicktorinen erst genauer kennen zu lernen, ehe sie sich auf die Absichten einließ, welche ihr Vater mit dieser etwa haben mochte; Herr Kleeborn hingegen, der die Krankheit seiner Tochter für gar nicht so bedeutend hielt, hatte Vicktorinens Pflege eigentlich nur als Vorwand zur dringenden Einladung seiner Schwägerin gebraucht; seine eigentliche Absicht dabei war aber, durch die Tante auf Vicktorinen zu wirken, und sie in Güte seinem Willen geneigter zu stimmen. Indessen hielt er ihre Gegenwart nebenher für höchst nöthig, um durch dieselbe den Glanz und die Würde der vielen Feste zu erhöhen, welche Vicktorinens Genesung sowohl, als die zu hoffende Erfüllung seiner Pläne mit ihr, bald herbeiführen mußten. Denn nächst dem Gelderwerb liebte Herr Kleeborn nichts so sehr als Glanz und Pracht in seinen Umgebungen; gern wetteiferte er hierin mit den Vornehmsten, und unerachtet seiner laut erklärten Geringschätzung des angebornen Adels, that er sich dennoch in seinem Innern nicht wenig darauf zu gute, eine Dame von dem Range und Ansehen des[48] Fräuleins von Falkenhayn unter seine nächsten Verwandten zählen zu dürfen. Er betrachtete oft mit innerm Behagen ihre majestätische Gestalt, den, jede ihrer Bewegungen bezeichnenden vornehmen Anstand und freute sich im voraus auf den Augenblick, wo sie in dem schönen Ordenskleide ihres Stiftes mit dem grossen diamantnen Kreuze, das sie als Pröbstin desselben trug, in seinem Hause die Honneurs machen würde. Uebrigens tröstete er sich mit dem Glauben, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei, er hoffte, daß nach Vicktorinens völliger Genesung sich schon ein günstiger Augenblick finden würde, um die Tante für sich zu gewinnen, und überließ sich täglich in vollkommner Gemüthsruhe den gewohnten Erholungen nach vollbrachter Arbeit, die er jezt ausser seinem Hause aufsuchen mußte, da ihm das Innere desselben in seinem durch Vicktorinens Krankheit verödeten Zustande wenig Freuden darbieten konnte.
[49]
Der helle Sonnenschein eines heitern klaren Herbstmorgens, an welchem Vicktorine sich auffallend wohl befand, hatte die Tante mit ihrer Angelika hinaus ins Freie gelockt. Müller, der alte Buchhalter, stand eben in der Hausthüre, als beide von ihrem Spaziergange zurückkehrten, und die Tante beeilte ihre Schritte, um dem Greise, den sie seit ihrer Ankunft im Kleebornischen Hause noch nicht gesehen, ein paar freundliche Worte sagen zu können. Sie kannte ihn schon lange und ehrte ihn als einen treuen vieljährigen Diener des Hauses ihres Schwagers, bei dessen Vater er schon in Ehre und Ansehen gestanden hatte. Als die Damen näher traten, gieng ein junger Mann mit ehrerbietigem Grüßen an ihnen vorüber, der bis dahin mit Herrn Müller in anscheinend eifrigem Gespräch begriffen gewesen war. Sein Anblick schien der Tante auf eigne Weise aufzufallen, sie sah sichtbar befangen, ihm eine Weile nach, und war sogar etwas bleicher als gewöhnlich, als sie die zum Hause führenden Stufen hinauf stieg, so daß Herr Müller sie von einem plötzlichen Unwohlsein ergriffen[50] glaubte, und ihr entgegen eilte, um sie in das zum Empfange der Fremden bestimmte Eintrittszimmer neben dem Komtoir zu führen. Dort sezte sich die Tante zwar gleich, erklärte aber dabei, daß sie sich vollkommen wohl befinde, nur habe sie am Krankenbette ihrer Nichte sich der freien Luft entwöhnt, die heut, unerachtet des hellen Sonnenscheins, ungewöhnlich scharf sei. Beruhigt gieng Angelika zu Vicktorinen hinauf, während die Tante noch unten blieb, um mit Herrn Müller ein paar Minuten zu plaudern.
Wer war der junge Mann? fragte sie einigermassen eifrig, so wie Angelika die Thüre hinter sich angezogen hatte. Herr Müller besann sich eine Weile, denn er verstand sie nicht gleich. Der junge Holm, der eben bei mir war, meinen Ihro Gnaden den?« erwiederte er ihr endlich, »ja das ist ein recht lieber, gutherziger junger Mensch. Seit unser Fräulein Vicktorine krank ist, versäumt er nie, alle Tage zweimal zu mir in mein Kabinet zu kommen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, denn von mir erhält er doch immer umständlichern[51] Bericht als von den Bedienten. Nun gottlob heute konnte ich ihm recht viel Gutes sagen, er war auch darüber recht erfreut.«
»Also wohl ein sehr genauer Freund des Hauses?« fragte die Tante.
»Das nun wohl nicht,« war die Antwort, »denn der junge Herr Holm ist noch gar nicht selbst etablirt, und auch sonst eben nicht von Familie, Ihro Gnaden. Niemand wußte, was man aus seinem seeligen Vater machen sollte, denn der war zwar ein Gelehrter, aber weder Jurist noch Mediziner. Er wohnte mit diesem seinem einzigen Sohne lange Jahre hindurch in der Vorstadt, niemand hat ihn sonderlich gekannt, denn er führte ein sehr eingezogenes Leben. Ja du lieber Gott, es ist hier ein sehr theuer Pflaster, und wer nicht reich ist, thut am besten sich ganz still zu verhalten.«
»Ist der Vater lange tod?« fragte die Tante wieder, mit sichtbarem Antheil.
»Seit drei Jahren ungefähr,« erwiederte Herr Müller. »Der alte Holm soll aber übrigens ein recht grundgelehrter Mann gewesen sein,« sezte er[52] hinzu, »sehr bewandert in der Mathematik und in fremden Sprachen, auch soll er ein Lexicon oder so etwas im Druck herausgegeben haben. Nun, der Sohn artet dem Vater nach, man sagt, er habe auf der Universität seine Zeit sehr gewissenhaft angewendet. Das wird ihm denn nun auch freilich in seinem jetzigen Stande recht gut zu statten kommen, denn in unsern Tagen kann der Kaufmann nie zu viel wissen, und das Gelehrtsein, oder wenigstens Gelehrtthun ist unter unsern jungen Herrn obendrein Mode.«
»Der junge Mann war also nicht von jeher zum Kaufmann bestimmt?« fragte die Tante mit steigendem Interesse.
»Ei was wollte er!« erwiederte der Buchhalter, »nein Ihro Gnaden, der junge Holm ist Doctor Juris, er hat ordentlich studirt. Erst vor kaum anderthalb Jahren hat er umgesattelt, und was das sonderbarste ist, niemand hat früher die mindeste Neigung zum Kaufmannsstande an ihm bemerkt, das ist so ganz mit einemmal von selbst gekommen. Aber da sieht man recht, wie der Mensch alles kann,[53] was er ernstlich will. Vor zwei Jahren wußte der junge Holm noch keinen Kurs zu berechnen, nicht einmal einen Wechsel ordentlich auszustellen, von Waarenkenntnis war bei ihm vollends gar nicht die Rede, und jezt ist er der Herren Fischer et Compagnie rechte Hand. Geben Ihro Gnaden nur Acht, der macht gewis noch sein Glück in der Welt.« Die Tante, in immer tieferes Nachdenken versinkend, schien auf die lezten Worte des freundlichen Greises kaum zu hören, weshalb dieser denn auch mit gewohnter Ehrerbietung stille schwieg, bis sie, wie aus einem Traume erwachend, die Bemerkung hinwarf, daß der junge Holm doch wohl öfters an den Gesellschaften hier im Hause Antheil nehmen müsse, da ihn die Ereignisse in demselben so zu interessiren schienen.
»Ins Komtoir kommt er zwar oft in Geschäften, seit er den Kaufmannsstand erwählt hat,« erwiederte Herr Müller, »sonst aber nie ins Haus, daß ich wüßte, ausser ein paarmal bei Konzerten, denn er singt einen herrlichen Tenor. Daß er sich aber so fleissig nach der Gesundheit unsers Fräuleins[54] erkundigt, ist dennoch ganz natürlich, da er sie doch einigermassen kennt, die halbe Stadt thut ja dasselbe. Sehen, Ihro Gnaden, hier liegt der Zettel, mit den Namen derer, die nur diesen Morgen nachgefragt haben. Zwei volle Bogen, man kann die Hälfte kaum lesen, denn die Bedienten schreiben meistens so schlecht, daß es eine Schande ist. Aber hier sind doch einige zierliche Handschriften, denn die jungen Herren haben fast alle eigenhändig ihre Namen angeschrieben, weil sie gewöhnlich selbst kommen, sich nach des Fräuleins Befinden zu erkundigen. Sehen Ihro Gnaden, Sir Robert Beverley, John Simpson Esquire, Comte de Beauchamp, Graf Nordhausen, Baron Engeström, lauter Fremde die an uns addressirt sind.«
Angelikas blondes Lockenköpfchen, das diese, über dem langen Ausbleiben der Tante besorgt, zur Thüre herein steckte, machte jezt der Unterhaltung ein Ende.
Anna begab sich zu Vicktorinen, sie fand diese auf ihrem Sopha, von einer Schaar junger, sie besuchender Mädchen umlagert, unter denen auch[55] Babet und Agathe nicht fehlten. Alle sprachen zugleich, denn es war von gar interessanten Gegenständen die Rede, denen aber die Tante keinen Antheil abzugewinnen wußte. Sie sezte sich daher in ihren Lehnstuhl in der fernsten Ecke des Zimmers. Ihre Gedanken flogen zurück in eine längst dahin geschwundene Vergangenheit, deren Abglanz in diesem Augenblick in ungewohnter Klarheit sie umschwebte. So zaubert ein einziger heller Sonnenblick uns oft mitten im Winter den Frühling mit allen seinen längst in Staub versunknen Blüthen herbei. Anna gab dem schmerzlich-schönen Traume mit ganzer Seele sich hin; sie forschte nicht weiter, was gerade jezt ihn herbeigerufen haben könne? sie versank immer tiefer in sich selbst, und achtete wenig auf das, was in dem jugendlichen Kreise, in ihrer Nähe laut genug abgehandelt ward.
Die Mädchen zählten indessen die Bälle, welche sie in den nächsten Wochen zu hoffen hatten, und jezt waren die Tänzer an der Reihe. »Mit denen sieht es windig aus,« seufzte Babet, »wenn nicht etwa der Himmel ein Einsehen hat und frische[56] Zufuhr uns einsendet.« »Leider ja,« stimmte Amelie, die Tochter des benachbarten Obristen, in diese Klage ein, Theodor geht morgen fort, und auch Baron Sillborn reist nach Wien.« »Und Lieutenant Horsten hat nur noch vierzehn Tage Urlaub,« rief Lilli dazwischen. So währte das Herüber und Hinübersprechen noch eine feine Weile fort, der Gegenstand des Gesprächs beschäftigte alle, so daß keine dabei auf Vicktorinen Acht gab, bis die eben ins Zimmer tretende Angelika durch einen Schrei des Entsezens sie darauf aufmerksam machte, daß die Arme bleich und starr gleich einer Todten in ihre Kißen zurück gesunken dalag.
Der Aufruhr, der jezt entstand, ist nicht zu beschreiben. Die Mädchen liefen vor Angst wie sinnlos durch einander, der Schellenzug riß von dem gewaltigen Sturmläuten; laut schreiend, »bon Dieu! qu'est il donc arrivé à ma pauvre petite,« stürzte die Bonne herein, und dieser folgte, zum Glück bald, der schnell herbeigerufne Arzt. Vicktorinens bewußtloser Zustand, den die vielen, ohne Wahl und Zweck angewandten Mittel nur[57] verschlimmerten, ohne daß die vor Schrecken selbst halb todte Tante dem Unheil hatte steuern können, wich endlich seinen vernünftigern Anordnungen. Jezt aber hob der wackre Mann auch eine tüchtige Strafpredigt an, während welcher sich indessen die fremden Mädchen ganz in der Stille fortschlichen; er schrieb Vicktorinens Zufall einzig dem lärmenden Besuche zu, und empfahl nochmals die ungestörteste Ruhe und Stille in der Nähe der Kranken. Babet und Agathe wurden gänzlich aus dem Zimmer derselben verbannt, jeder fremde Besuch hoch verpönt, und nur Angelika, für deren stilles Betragen sich die Tante verbürgte, erhielt die Erlaubnis nach wie vor die Sorge für Vicktorinens Pflege mit ihrer geliebten Wohlthäterin zu theilen.
[58]
Es war schon später Abend, und die Tante saß ganz allein an Vicktorinens Bette, als diese aus ihrem unruhigen Schlummer auffahrend, die Vorhänge zurückschlug, und mit ängstlicher Hast im ganzen Zimmer umher sah.
»Tante!« flüsterte sie leise und beklommen, »Tante, sind wir allein? werden wir es bleiben?« Die Tante versicherte sie dessen, und bat sie, nur ruhig sich zu verhalten. »Ruhig! ruhig!« erwiederte Vicktorine mit ungewohnter Heftigkeit, »gebieten sie doch auch dem Sturm, der eben heulend das Haus umtobt, daß er ruhig sei, oder dem Meere, oder der Flamme, die verzehrend wüthet.« »Kind, geliebtes Kind,« unterbrach die Tante sie »du richtest dich und mich und uns alle zu Grunde, wenn du so fortfährst! komm, sei mein gutes Mädchen, lege dich wieder, sei geduldig und ich verspreche dir – –« »Was? –« rief Vicktorine »was können sie mir versprechen für mein Leben, Tante, für die Ruhe meines Lebens, für all' mein Glück auf Erden, und vielleicht auch dort! Nein Sie müssen mich hören, Sie müssen[59] jezt mich hören, in dieser Minute, wenn Sie mich nicht wollen wahnsinnig werden lassen. Sie werden mich hören, Sie werden mich retten, denn Sie sind ja die einzige Schwester meiner lieben, lieben Mutter!« Schwer und einzeln rollten große Thränen aus Vicktorinens weit offnen starren Augen über die glühenden Wangen, auf die krampfhaft zitternde Brust hinab, die Tante hielt schmeichelnd sie umfaßt und bat sie in den zärtlichsten Worten nur jetzt sich zu schonen. »Ich will dich ja hören, ich will ja alles thun, ich will dich retten, dir helfen, für dich nur leben« sprach sie, »ich bin ja nur deinetwegen hier, aber halte dich jezt nur ruhig, damit du Kräfte gewinnst, späterhin, Morgen vielleicht« – – »Späterhin ist zu spät,« rief Vicktorine mit immer steigender Heftigkeit »späterhin, wenn alles vorüber ist, was für Trost, was für Hülfe können Sie mir dann gewähren, wenn Gott selbst das Geschehene nicht mehr ungeschehen machen kann. Nein jezt, jezt in dieser Stunde.« Vergebens suchte die Tante durch Erinnerung an das Verbot des Arztes sie[60] zum Schweigen, zur Schonung ihrer Kräfte, zu bewegen. »Was weis der Arzt, der überkluge Thor! was wissen sie Alle,« rief Vicktorine, »Sie sehen es ja Tante, sie müssen es sehen, ich habe Kraft, aber Schweigen in dieser Stunde vernichtet mich; diese gränzenlose Angst kann ich nicht verschliessen, sie zersprengt mir die Brust; Sie müssen mich hören, wenn Sie vom Untergange mich retten wollen.«
Vicktorinens immer heißeres Bitten, die zunehmende Fieberglut, die aus ihren Augen blizte, bewogen endlich die Tante, sich mit ihr auf Bedingungen einzulassen, um sie nur einigermassen zu beruhigen. »So sprich denn, meine Vicktorine,« bat sie schmeichelnd, »sage mir, was ich in diesem Augenblick thun soll um dich zu beruhigen. Ich will es vollbringen, wenn es zu vollbringen ist, doch was ich nicht jezt gleich wissen muß, das spare für eine bessre Stunde auf, wenn du ruhiger, kräftiger bist, nur unter dieser Bedingung will ich es wagen, des Arztes Gebot zu überschreiten und dich reden zu lassen.«[61]
»Wohlan denn,« rief Vicktorine, »lassen Sie den alten Müller herauf kommen, hier herauf, ins Nebenzimmer dort, und die Thüre muß offen stehen, und flüstern Sie nicht etwa mit ihm, ich muß alles hören, jedes Wort, das Sie miteinander sprechen; ich will nicht getäuscht sein.« »Was denn Vicktorine, was willst du wissen?« fragte die Tante. »Ob er nach Odessa geht, o Gott! o Gott! er ist vielleicht schon fort!« rief laut jammernd Vicktorine.
Die Tante erschrack heftig, denn sie glaubte jezt in der That, zum wenigsten eine in fieberhaften Träumen Verlorne vor sich zu haben. »So besinne dich doch, so fasse dich doch, Liebe,« redete sie Vicktorinen begütigend zu; »was willst du mit Odessa? was soll der gute alte Müller dort?« –
»Wer spricht von dem!« rief zürnend Vicktorine, »Raimund, Tante, Raimund Holm geht nach Odessa, ist vielleicht schon dort! hörten Sie es denn nicht? Es klang doch so laut! so furchtbar! mir war, als ob die Decke des Zimmers[62] sich in dem Momente zusammen brechend über mich herabsenkte, und Sie hörten es nicht? Luzie sprach es aus, als die Mädchen ihre Tänzer aufzählten; »der beste von allen,« sprach sie, »Holm geht heut oder morgen nach Odessa ab.«
Die Tante blickte jezt mit unbeschreiblicher Wehmuth auf das arme Mädchen hin, das in wilder Angst sie anstarrte, dann das Gesicht verhüllend, »er ist fort! er ist fort! auf ewig fort!« in herzzerschneidenden Klagetönen wimmerte. »Holm ist nicht fort,« sprach jezt die Tante, nachdem sie mühsam ihre gewohnte heitre Fassung wieder errungen hatte, »ich habe ihn kurz vor deiner Ohnmacht heut Vormittags gesehen, als er bei Müllern sich nach deinem Befinden erkundigte. Der gute Alte hat mich nachher lange von ihm unterhalten, von seinen lobenswerthen Eigenschaften, von seinen Aussichten in die Zukunft. Odessa ward dabei gar nicht erwähnt und Müller hätte nicht davon geschwiegen, wenn die ganze Reise nicht ein Mährchen wäre. Wer wird auch in dieser Jahreszeit, bei einbrechendem Winter[63] nur daran denken so etwas zu unternehmen!« Vicktorine richtete sich im Bette auf, sie sah der Tante lange und forschend ins Gesicht, dann ergriff sie ihre Hände und drückte sie fest an ihr hörbar klopfendes Herz, an ihre heissen Augen, sie bewegte die zitternden Lippen, aber, von ihrem Gefühl überwältigt, vermochte sie es nicht, nur einen Laut hervor zu bringen.
»Du liebes Ebenbild meiner Schwester,« sprach die Tante sehr bewegt, »du sollst mich immer nicht nur mild und theilnehmend, sondern auch wahr finden. Armes, armes, Kind! Beruhige dich für jezt, ich will es auch. Wir wollen Kräfte sammeln, denn wir werden beide sie brauchen.«
»Ich weis es Tante,« erwiederte ihr die jezt zwar minder heftige, aber doch noch immer sehr aufgeregte Vicktorine, »ich weis es. Auch was Ihnen selbst vielleicht noch unbekannt blieb, ist mir es nicht mehr, denn ich weis, warum man Sie, gerade Sie zu mir gerufen hat. Ich kenne Sie nur wenig, liebe Tante, doch weit[64] ich mehr, als ich es sagen kann, mich hingezogen fühle, Sie gleich einer zweiten Mutter zu ehren und zu lieben, so wage ich es, Sie, bittend, zu warnen. Unternehmen Sie es nicht, zu versuchen, was man von Ihnen fordern wird, denn, ich sage es Ihnen im voraus, Sie und mein Vater können zwar das Herz mir brechen, aber nie mich verleiten, der treuen, alles opfernden Liebe unwürdig zu lohnen. Wollen Sie mir nicht glauben, meine Bitte nicht erfüllen, nun wohlan, dann versuchen Sie Ihre Ueberredungskünste, die ganze wunderbare Macht, die Ihnen gegeben ward über die Gemüther Anderer zu herrschen. Mich sollen Sie standhaft finden, nie sollen Sie mich verleiten, die Stimme zu ersticken, die in mir laut über Recht und Unrecht entscheidet.
Die Tante erwiederte der noch immer unnatürlich Aufgeregten nur wenig, und in den mildesten Ausdrücken, und so gelang es ihr endlich, sie nach und nach einigermassen zu besänftigen. Was ihr indessen Vicktorine an diesem[65] Abend und in den nächst folgenden Tagen nur stückweise, oft von Gefühlsergiessungen der Erzählerin, zuweilen von Gegenbemerkungen der Tante unterbrochen, mittheilen konnte, findet der Leser im folgenden Abschnitt in zusammenhängender Form.
Raimund Holm war der Sohn eines Mannes dem wohl anzusehen war, daß während eines nicht sehr langen Lebens die Welt ihm oft und vielfach wehe gethan haben mochte. Mehr noch als sein früh ergrautes Haar und seine augenscheinlich, durch langen und herben Gram verdüsterten Züge, bezeigte dies die tiefe Abgeschiedenheit, welche er mit einer Art Aengstlichkeit aufsuchte, und die Scheu, mit der er alles floh, was nur von ferne dahin abzwecken konnte, ihn aus seiner Verborgenheit ans Licht zu ziehen.
Der Vielerfahrne kannte das Leben zu gut, um nicht zu wissen, daß man in einer grossen[66] volkreichen Stadt weit unbemerkter und einsamer nach eigenem Plane sein Dasein hinbringen kann, als in einem kleinen Orte, oder selbst auf dem Lande. Denn in Städtchen und Dörfern zieht jeder neue Ankömmling die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich, und jeder gilt für einen bemerkenswerthen Sonderling, der nicht genau so leben mag, wie alle Uebrige um ihn her. Raimunds Vater wählte deshalb lieber eine grosse berühmte Handelsstadt zu seinem Wohnorte, wo er einige zwanzig Jahre hindurch bis an seinen Tod, ein von aller Gesellschaft, fast von aller Bekanntschaft abgesondertes Leben führte, gleich weit entfernt von Dürftigkeit und Ueberfluß. Seine feinern Sitten und Lebensgewohnheiten, eine gewisse Eleganz in seinem Aeussern, – die niemand, auch in der tiefsten Einsamkeit ablegen kann, der sie von Jugend auf sich aneignete, – verriethen indessen, daß er die Welt kannte die er floh, und daß er sogar in ihrem Umgange seine erste Bildung erhalten haben mußte.[67]
Durch frühe Gewöhnung theilte er auch seinem Sohn diese Eigenschaften mit, und gab ihm dadurch gewissermassen einen Freibrief für den künftigen Ein tritt in die Gesellschaft, den viele entbehren, die in der Einsamkeit aufwuchsen, und dessen Mangel dennoch, selbst bei sonst ausgezeichneten und hochbegabten Menschen, die in dieser Hinsicht meistens unerbittliche Welt selten zu übersehen pflegt.
Des Knaben Erziehung, den er als ganz unmündiges Kind mit sich gebracht hatte, war das einzige Geschäft des Vaters; Kunst und Litteratur die Freude und der Schmuck seines Lebens. Raimund wuchs heran, unter fröhlichen muthigen Spielgesellen der fröhlichste und muthigste von allen, denn sein Vater, der kein Glück der Jugend ihn entbehren lassen mochte, versäumte es nicht, neben dem häuslichen Unterrichte, den er ihm selbst ertheilte, ihn auch die öffentliche Schule besuchen zu lassen. Ueberhaupt war er weit entfernt von dem Gedanken, seinen Sohn nur für ein kontemplatives Leben, in steter Entfernung[68] von der Welt, erziehen zu wollen, obgleich er ein solches am früh einbrechenden Abend seines Lebens für sich selbst erwählt hatte. Er wünschte vielmehr ein nützliches und thätiges Mitglied der Gesellschaft aus ihm zu bilden. Denn wie man erst nach vollbrachter Arbeit den vollen Genuß der Ruhe lernen kann, so lernt man auch nur nach langem Treiben im Gewirre der Welt den hohen Werth der Einsamkeit erst recht empfinden. Dies wußte Raimunds Vater aus eigner Erfahrung.
Des Knaben beglückte Kindheit zog, gleich einem Frühlingstraum, an ihm vorüber und unvermerkt kam so die Zeit herbei, in welcher er zum erstenmale seinen Vater verlassen sollte, um die Universität zu beziehen.
Nichts stellt den Jüngling am Anfang seines ersten Ausflugs in die Welt so fest, so sicher, so kräftig in diese hin, als die frühere Erziehung an der Seite eines edlen, durch Geist und Gemüth ausgezeichneten Vaters, der, ohne berühmt zu sein, dennoch durch Lehre und Beispiel ihm[69] stets gegenwärtig bleibt, und zu dessen Bilde er sich flüchtet, wenn er im Gedränge der ihm neuen Verhältnisse des Lebens Rath und Hülfe bedarf. Ein durch den Vater berühmt gewordner Name ist hingegen beim ersten Eintritte in die Welt wohl eher ein Hindernis zu nennen, denn diese hängt stets am Klange des Worts. Und so wie der schuldlose Sohn eines als unwürdig bekannten Mannes, unerachtet seines eignen Werths und seiner Unschuld, dennoch stets mit tausend Vorurtheilen und Widerwärtigkeiten zu kämpfen hat, die einzig um seines Namens willen sich überall ihm entgegen stellen, so tritt auch dem, der sein Leben einem grossen berühmten Vater verdankt, ein Vorurtheil andrer Art in den Weg. Man verlangt von einem solchen, daß er besser und geistreicher sei, als alle andere seines Gleichen, und zwingt dadurch oft eine gewisse Unsicherheit in sein Wesen hinein, die ihm, mit einem andern Namen geboren, stets ferne geblieben wäre.
Raimund hatte das Glück, auch in dieser Hinsicht ganz frei und ungehindert da zu stehen.[70] Mit der von seinem Vater ihm mitgetheilten Ruhe alter Erfahrung zog er in blühender rüstiger Jugend aus, ein reiner Jüngling an Seele und Leib, und kehrte zur bestimmten Zeit eben so ins Vaterhaus wieder zurück. Im klaren Bewußtsein seines Zwecks hatte er die Universitätsjahre wohl angewendet, doch der Rath seines Vaters bewog ihn, sich einstweilen noch ernstlicher auf das thätige Leben vorzubereiten, theils durch stille Fortsetzung seines Strebens in wissenschaftlicher Hinsicht, theils indem er mit der geselligen Welt sich näher bekannt zu machen suchte, ehe er es wagte, in ihr als Geschäftsmann öffentlich aufzutreten. Er knüpfte auf den Rath seines Vaters manche erfreuliche Bekanntschaft in der Stadt an, besuchte Gesellschaften, Bälle, das Theater, kehrte aber jeden Abend mit gewohnter Liebe und Treue zu seinem Vater zurück. So strebte er, dessen kränkelndes Alter durch Erzählungen aus jenem bunten Treiben zu erheitern, das der Greis seit mehr als fünf und zwanzig Jahren nicht mehr sah, und das er[71] dennoch in den Beschreibungen des Jünglings als wenig verändert wieder erkannte. Anfangs schien es, als ob Raimunds Vater in diesem genußreichen Beisammenleben mit seinem Sohne gewissermassen begönne, neue Jugendkraft wieder zu gewinnen; doch leider war dieser freudenverkündende Schein nur das lezte Aufflackern der Lampe vor dem völligen Erlöschen. Die längst in den Stürmen des Lebens erschöpften Kräfte brachen in dieser heitern Stille bald gänzlich zusammen, und Raimund blieb verwaiset und verlassen am Grabe seines Vaters zurück, ehe noch das zu seiner völligen Ausbildung bestimmte Jahr vorüber war.
Dieser Verlust hatte in Raimunds äussrer Lage nichts verändert, denn bei gewohnter Mässigkeit sicherte ihm das hinterlassne väterliche Vermögen zwar keine glänzende, aber dennoch eine völlig unabhängige Existenz. Dagegen fühlte er in seinem Innern nun die schmerzlichste Oede. Er hatte für niemanden mehr zu sorgen, niemanden mehr zu erfreuen, keinen einzigen Vertrauten seiner Gedanken und Empfindungen. Und gerade in jener[72] weichen sehnsüchtigen Stimmung, in die uns ein Verlust, wie der seine, so leicht versezt, und der wir so gern nachgeben, trat Vicktorinens glänzend schöne Erscheinung zuerst ihm entgegen.
Der berühmteste Musicklehrer der Stadt hatte nach Zelters preiswürdigem Beispiel einen Singverein errichtet, der sich wöchentlich ein paarmal versammlete, und in dem fast alle, die sich dazu eigneten, eifrig Theil nahmen. Raimund, dessen schöne Tenor-Stimme dem Stifter der Gesellschaft längst bekannt war, durfte nicht dabei fehlen, und auch Vicktorine behauptete mit Necht den Rang der ersten Sängerin unter den Damen. Daß der erste Tenor und der erste Sopran durch ihr Talent einander näher gebracht wurden, war wohl ganz natürlich; es fehlte Beiden nicht an Anlässen, sich gegenseitig, auch über andere als blos musikalische Gegenstände auszusprechen, und dabei den inneren Reichthum ihres Geistes vor einander zu entfalten. Raimund hatte schon früher Vicktorinen zuweilen gesehen und ihre seltene Schönheit bewundert, doch der im Kleebornschen Hause[73] herrschende grosse Ton hielt bis dahin den stolzbescheidenen Jüngling davon ab, Zutritt in demselben zu suchen. Und auch jezt, bei näherer Bekanntschaft mit Vicktorinen, vermied er es noch immer, den Schein von Zudringlichkeit dadurch auf sich fallen zu lassen, obgleich Vicktorinens jugendlich schöne Gestalt, der dunkle Feuerstrahl ihrer Augen ihm öfter als sonst in wachen Träumen vorschwebte, und der seelenvolle Ton ihrer hellen, glockenreinen Stimme hallte immer noch lange in seiner tiefsten Brust wieder, wenn er schon längst den Singverein verlassen hatte.
Ein glänzender Ball, zu dem auch Raimund geladen war, bot diesem indessen einige Zeit nach Errichtung des Singvereins Gelegenheit, Vicktorinen zum erstenmal im vollen Glanze zu erblicken. Schon bei ihrem Eintritte in den Saal hörte er jenes leise Flüstern der Bewunderung, den höchsten Triumph der Schönheit, ihr entgegen rauschen, so wie die Wipfel des Waldes sich flüsternd regen wenn die Sonne aufgehen will. Dieser schmeichelhafte Ton begleitete sie durch die lange Reihe der größtentheils[74] schon versammelten Gesellschaft, so wie sie durch den Saal hingieng und verkündete in ihr schon im Voraus die Königin des Festes.
Raimunds Blick hieng unabwendbar an ihr und belauschte jede ihrer Bewegungen. Noch nie war ihm ein weibliches Wesen von so blendendem Reitze erschienen; ja er glaubte Vicktorinen selbst so zauberisch schön noch nie gesehen zu haben. Ihr sehr reicher Anzug trug, bei aller darin herrschender Pracht, dennoch das Gepräge edler kunstloser Einfachheit. Jugendliche Freude leuchtete aus ihren Augen, aus dem süssen Lächeln des lieblichen Mundes und verschönte sie unbeschreiblich. So stand sie in höchster Unbefangenheit da, mitten im dichten Kreise ihrer Bewunderer, lachte mit Diesem, scherzte mit Jenem, und betrug sich völlig wie Jemand welcher der Huldigungen zu gewohnt ist, um darauf noch grossen Werth legen zu können. Alle, die sich durch nähere Bekanntschaft nur einigermassen dazu berechtiget glaubten, drängten sich in ihre Nähe; die elegantesten jungen Herren nahten sich ihr ehrerbietig, als wäre[75] sie eine Fürstin, um einen Tanz von ihr zu erbitten, und jeder beneidete den Glücklichen, dem sie einen zusagte. Sogar die andern Mädchen suchten eine Ehre darin, mit Vicktorinen vertraut zu erscheinen, denn es fiel keiner ein, mit ihr wetteifern zu wollen, und alle liebten sie wegen ihrer anspruchslosen, immer gleichen Freundlichkeit.
Raimund sah aus einiger Entfernung dem Gedränge um Vicktorinen zu, und das Herz that ihm dabei weh, er wußte nicht warum? Er versuchte es, dieses bange Gefühl sich als Mitleid mit dem holden Wesen auszudeuten, das, so umgauckelt, am Ende doch wohl zu Grunde gehen müsse; doch fühlte er bei alle dem auch die Unmöglichkeit, ihr den ihr gebührenden Tribut der Bewunderung zu versagen.
Der Tanz begann, und gleich einer Göttin, von ihren Nymfen gefolgt, schwebte Vicktorine am Arm eines fremden Prinzen, der sich unter den anwesenden Gästen befand, dem glänzenden Reigen voran. Alle tanzten, nur ein einziges Mädchen[76] blieb unaufgefordert an ihrem Platze; ein junges blödes Kind, das niemand kannte, und dessen beinahe zu einfacher, etwas altmodischer Putz schon von Manchen bespöttelt worden war, weil er gegen die Eleganz der übrigen Tänzerinnen gar zu auffallend abstach. In der peinlichsten Stellung, mit hochglühenden Wangen, saß die Verlassene da, mit der noch niemand eine Silbe gesprochen hatte; aus den unschuldigen Augen strahlte das glühendste Verlangen, an der allgemeinen Jugendlust ebenfalls Antheil nehmen zu können, und zugleich zuckte ängstliche Verlegenheit um den kindlichen Mund, als ob die Arme sich bemühe Thränen zurück zu drängen, die das Gefühl des Zurückgesetztwerdens ihr eben auszupressen im Begriff war.
Raimund nahm an diesen und einigen folgenden Tänzen nicht Theil. In eine Ecke des Zimmers hingelehnt, verfolgte er jede Bewegung Vicktorinens mit seinen Blicken, und sah zu seinem Erstaunen, wie diese gleich in der ersten Pause dem unbekannten Mädchen sich nahte, ein Gespräch mit der augenscheinlich Verlegnen anknüpfte, sich eine[77] kleine Weile zu ihr hinsezte, dann, wieder aufstehend, ihren Arm ergriff, und einigemal mit ihr im Saal' auf und abgieng. Im Gewühle der Gesellschaft verlor er indessen beide bald aus dem Gesicht, und schon begann der böse Argwohn sich in seinem Gemüthe zu regen: als ob Vicktorine, im Übermuthe des Bewustseins ihrer alles besiegenden Schönheit, mit dem unscheinbaren Mädchen vielleicht ein unwürdiges Spiel treibe und es als Folie mit sich herumführe, um dadurch den Glanz ihrer eignen Erscheinung zu erhöhen. Da rief plötzlich eine sanfte Stimme seinen Namen und weckte ihn aus seinen Träumereien. Er fuhr auf, blickte um sich und dicht neben ihm stand Vicktorine und sah ihn freundlich bittend an.
»Ich möchte Sie wohl um einen Ritterdienst ansprechen, denn Sie sehen mir ganz darnach aus, als ob Sie mir ihn nicht abschlagen würden,« sagte sie mit unbeschreiblicher Anmuth, aber doch ein wenig erröthend. »Ich möchte Sie bitten,« fuhr sie fort, »den nächsten Tanz mit jener jungen Dame zu tanzen, die eben mit mir durch den[78] Saal gieng. Sie ist der Gesellschaft unbekannt, und unsere jungen Herren sind sämmtlich unartig genug, sie dies empfinden zu lassen.«
Raimunds frohes Erstaunen bei dieser unerwarteten Anrede erlaubte ihm nicht viel Worte zu machen. Er eilte, vor allen Vicktorinens Wunsch zu erfüllen, und nahte sich ihr dann wieder, um von ihr zu erfahren, wer das junge Mädchen sei, dessen sie so eifrig sich annahm.
»Ich kenne sie eben so wenig als Sie sie kennen,« gab Vicktorine ihm ruhig und einfach zur Antwort. »Indessen sie ist hier fremd, und da ich sie so ganz verlassen da sitzen sah, kam mir der Gedanke: wie mir zu Muthe sein würde, wenn mir einmal etwas ähnliches wiederführe. Da war es denn doch natürlich, daß ich nicht eher ruhen konnte, bis ich sie tanzen sah.«
»Aber wie war es möglich, daß Sie, gerade Sie mein Fräulein, sich eine solche Möglichkeit nur denken konnten?« fragte Raimund.
»Und warum sollte ich dies nicht können?« erwiederte ihm Vicktorine. »Jene alte menschliche[79] Sitte, dem Fremdling freundlich entgegen zu treten, weil Fremdsein doch wenigstens für den Moment eine Art Unglück ist, kam längst aus der Mode, und da könnte es doch geschehen, daß ich an einem Orte, wo ich ganz unbekannt wäre, eben so verlassen da sitzen müßte als dieses arme Kind. Zu meiner grossen Freude werde ich indessen eben gewahr, daß man sie zum nächsten Tanze wieder auffordert, und nun tanze ich selbst mit verdoppelter Lust, da der Anblick der kleinen Verlassenen mich nicht mehr quält.« »Die Sie gar nicht kennen?« fragte Holm. »Die ich gar nicht kenne. Muß man denn alle Leute kennen?« erwiederte Vicktorine lachend, und hüpfte mit ihrem Tänzer davon, der in diesem Augenblick herantrat, um sie zum eben beginnenden Tanze abzuholen.
Nachdem letzterer vollendet war, setzte sich Vicktorine hin um auszuruhen, und Raimund nahte ihr von neuem. »Ich möchte wohl einmal, und wäre es auch nur für eine einzige Stunde, Sie sein, mein Fräulein,« sprach er lächelnd, »es ist[80] wohl ein verwegner Wunsch, aber ich kann ihn nicht unterdrücken. Ich möchte wissen, wie jemanden zu Muthe ist, der in der Gewisheit auftritt, mit jedem Lächeln, jedem Blick, Freude und Bewunderung um sich her zu verbreiten.«
»Sind Sie nicht kindisch!« rief Vicktorine, recht herzlich lachend. »Das wäre ja ein Bewustsein, wie es höchstens eine Prinzessin haben könnte, der man von Jugend auf solch albernes Zeug in den Kopf gesezt hat. Unser einem fällt so etwas gar nicht ein.«
»Fräulein, Sie sind zu bescheiden, und wenn ich dürfte, so sezte ich gerne hinzu: Sie sind auch in diesem Augenblicke nicht recht aufrichtig gegen sich selbst. Denn wie könnte Ihnen der Eindruck entgehen, den Sie durch ihr blosses Erscheinen überall hervorbringen!« sprach Raimund.
»Ich bin nicht halb so bescheiden als Sie es vielleicht denken,« erwiederte Vicktorine mit einer sehr gefälligen Zutraulichkeit in ihrem Wesen. »Ich wäre aber doch eine gar zu alberne Thörin,« fuhr sie fort, »wenn ich nicht merkte, wie viel,[81] oder eigentlich wie wenig von dem, was Sie die allgemeine Bewunderung nennen, ich mir selbst zuzuschreiben habe. Ich weis recht gut daß ich ziemlich häßlich und sogar etwas unangenehm sein könnte, ohne daß das Betragen der Gesellschaft gegen mich sonderlich dadurch abgeändert würde, wenn alles übrige meiner Existenz, was nicht Ich ist, nur so bliebe wie es ist. Dies sage ich mir recht oft, um hübsch in der Demuth zu bleiben,« sezte sie mit einem angenehmen Lächeln hinzu, und eilte mit ihrem sich nahenden Tänzer wieder fort.
Raimund blickte mit einem nie zuvor gekannten Gefühl ihr nach. Ihre Schönheit, ihr Geist, ihr musikalisches Talent hatten ihn schon oft zu lebhafter Bewunderung hingerissen; doch die Güte, die ächte Bescheidenheit, die liebenswürdige Offenheit und Einfachheit ihres Wesens, die er gerade an diesem Abend an ihr entdeckte, wo sie einen Triumph feierte, der tausend andre schwindlich gemacht hätte, zeigten sie ihm im fast überirdischen Lichte. Den ganzen übrigen Abend hindurch blieb er in ihrer Nähe, er bat sie um einen Tanz, den sie ihm[82] gleich und gern gewährte, und schwebte an ihrer Seite, wie von Himmelsflügeln getragen, in nie gekannter Seeligkeit durch den Saal. Bei Tische, wo nur die Damen saßen und die Herren sie bedienten, blieb er ihr gegenüber hinter dem Stuhle des jungen Mädchens stehen, das sie in Schutz genommen hatte. Durch Vicktorinens Beispiel dazu bewogen, suchte er das noch immer von der übrigen Gesellschaft ziemlich vernachlässigte Wesen durch die feinste Aufmerksamkeit über dessen Verlassenheit zu trösten. Vicktorine lohnte ihm dies von Zeit zu Zeit mit einem freundlichen Lächeln, oder durch ein paar queer über den Tisch hin ihm zugesprochne Worte, während sie mit unabänderlichem, an Stolz gränzenden Gleichmuthe die Huldigungen der jungen Herren hinnahm, die den fremden Prinzen in ihrer Mitte, sich schaarenweise hinter ihrem Stuhle drängten, mit einander wetteifernd um die Ehre, ihr zuweilen einen Teller oder ein Glaß Wasser reichen zu dürfen.
Im seeligsten Taumel kehrte Raimund vom Balle nach Hause; ihm war die ganze Nacht hindurch,[83] als schwebe er noch immer in einer bezauberten Welt. Er sah Vicktorinen wieder und wieder, sie behandelte ihn von nun an gleich einem alten Bekannten, dem man ohne ängstlichen Rückhalt sich zeigt wie man ist. Jedes Wiedersehen ließ ihn tief in das Innere eines reinen Gemüths voll Liebe und Milde blicken, jedes enthüllte ihm neue Beweise eines von Natur hellen lebhaften Geistes, reich begabt mit den günstigsten Anlagen, stets bereit, alles Gute, Hohe und Treffliche in sich aufzunehmen. Die Heftigkeit, zu welcher das Ungewohntsein jedes Widerspruchs sie zuweilen hinriß, die an Eigensinn gränzende Festigkeit, mit der sie hielt was sie einmal ergriffen, und achtlos durchzusetzen suchte, was sie für recht und gut anerkannte, konnte er freilich an ihr nicht entdecken, weil sich ihm dazu keine Gelegenheit bot.
Raimund sah nun in Vicktorinen das Wesen in entzückend blühender Jugendfülle, lebend und athmend vor sich stehen, das bis jezt nur, gleich einem unerreichbaren Traumbilde, seiner jugendlichen Fantasie vorgeschwebt hatte. Er fühlte sich[84] ihr zu eigen fürs ganze Leben, um so mehr, da er, ohne zu geckenhafter Einbildung herabzusinken, es sich nach wenigen Tagen nicht mehr verbergen konnte, daß auch Vicktorine ihn ebenfalls vor allen Andern auszeichnete. Ihr süsses Erröthen, das freudige Aufstrahlen ihrer Augen, wenn er sich nahte, das ihr ganz ungewohnte weiche Beben der Stimme, wenn sie ihn anredete, tausend kleine Züge in ihrem Benehmen, viel zu zart für jede Beschreibung, verkündeten ihm sein Glück lange ehe es ausgesprochen ward. Doch auch diese Stunde, die höchste Blüthe des Lebens, blieb nicht aus; aber wie sie herbeigeführt ward, was er sprach, was Vicktorine antwortete, wußte diese der Tante selbst nicht ausführlich zu vertrauen. Die Glücklichen hatten fast wortlos einander verstanden, fast wortlos hatten sie den Bund der Treue fürs ganze Leben geschlossen.
Das höchste ihm denkbare Ziel des Glückes so nahe vor Augen, beschloß Raimund jezt, ohne Aufschub die Kenntnisse, die er sich erworben, im bürgerlichen Leben thätig geltend zu machen, und[85] dann bei Vicktorinens Vater um ihre Hand zu werben. Freilich war Kleeborns Abneigung, sie einem andern, als einem Kaufmanne zu geben, zu stadtkundig geworden, als daß Raimund nichts davon hätte erfahren sollen; doch Vicktorine war überzeugt, oder wollte es sein, daß ihr Vater unter diesem Vorwande nur die Anträge ihrer adlichen Verehrer zu entfernen gesucht habe, weil er nur gegen diese stets einen unbesiegbaren Widerwillen laut aussprach, ohne dabei der andern bürgerlichen Stände zu erwähnen. Raimund glaubte Vicktorinen gerne, denn was glaubt hoffende Liebe nicht? In der freien Reichsstadt, in welcher sie lebten, konnte Raimund auf dem Wege, den er einzuschlagen gedachte, zu den höchsten Ehrenstellen gelangen, und er durfte um so eher hoffen alles zu erreichen, was er in dieser Hinsicht wünschen konnte, da er keine bedeutende Mitbewerber um sich sah, die ihm den Preis streitig gemacht hätten. Freilich stand das Ziel, das er zu erreichen streben wollte, ihm noch fern, doch beide, er und Vicktorine, waren[86] nicht nur jung genug um die Zeit ihrer völligen Vereinigung ruhig abwarten zu können, sondern auch zu seelig in der Gegenwart, um über diese nicht gern die Zukunft zu vergessen. Und überdem, welcher Glückliche gieng nicht jedem Wechsel seines Zustandes mit einem heimlichen Bangen entgegen, selbst wenn diese Veränderung zu noch Höherem zu führen verheißt!
Bei alle dem verhehlte Raimund es sich nicht, daß sein kleines Vermögen gegen den fürstlichen Reichthum, der Vicktorinen einst zufallen sollte, durchaus nicht in Anschlag gebracht werden könne; doch sein heller reiner Sinn war weit über jene edelmüthig sein wollende Armseeligkeit erhaben, die nicht minder ängstlich berechnend als der Eigennutz, das Geld der Geliebten wägt und zählt, und es höher stellt als ihre Liebe, um nur, wäre es auch auf Kosten ihres Glückes, mit romanhaft grosmüthiger Entsagung prunken zu können.
Vicktorine war sein, sie selbst hatte sich ihm gegeben; auch arm hätte er sie nicht weniger geliebt, und so konnte die Goldmasse, die einst als Eigenthum[87] ihr zufallen sollte, den Werth dieses Geschenks in seinen Augen weder erhöhen noch sein Necht daran vermindern. Auch fühlte er in sich Kraft, Muth und Talent mehr als hinlänglich, um die Geliebte seines Herzens in jedem Falle nicht nur vor Mangel zu schützen, sondern ihr auch alles zu verschaffen, was man zu einem bequemen, ehrenvollen Leben bedarf. Wie die Welt ihn beurtheilen könne? kam ihm dabei gar nicht in den Sinn, und wenn er auch daran gedacht hätte, sein Vater hatte ihm gelehrt, auf das Gespräch der Leute nicht mehr Werth zu legen, als es verdient, ihm durchaus nie ein entscheidendes Urtheil über seine Handlungen einzuräumen, wenn es das Glück eines ganzen Lebens galt.
Während Raimund zum Eintritt in das thätige Leben eines Geschäftsmannes die ernstlichsten Vorkehrungen traf, faßte Vicktorine ihrer Seits den Entschluß, ihm diesen Schritt dadurch zu erleichtern, daß sie ihrer Beider Hoffnung so sicher zu stellen suchte als möglich. Niemand wußte bis jezt um ihre Liebe, denn sie hatte keine einzige jener Vertrauten,[88] die im gewöhnlichen Laufe der Dinge in der Mädchenwelt eben so unentbehrlich sind, als auf dem französischen Theater. Vicktorine hatte nie jenes Bedürfniß gekannt, von sich und ihren Gefühlen unablässig zu reden oder gar lange Briefe darüber zu schreiben, welches so Viele verlockt, wahre oder eingebildete Liebesgeschichten an- und auszuspinnen, um nur in den Augen ihrer Vertrauten als die Heldin eines kleinen Romans zu glänzen. Hingegen war aber auch ihrem offnen Gemüth alles Heimlichthun durchaus verhaßt, und sie beschloß daher, die erste schickliche Gelegenheit zu ergreifen, um ihrem Vater das stille Geheimniß ihres Herzens zu entdecken, und ihn im Voraus durch Bitten und Gründe für ihre Liebe zu gewinnen.
Der ihr für dieses Geständniß günstig scheinende Moment blieb nicht lange aus. Sie war mit ihrem Vater allein, und fand ihn in einer sehr freundlichen Stimmung, doch ihr Vertrauen ward leider ganz gegen ihre Erwartung erwiedert.
»So! du hast Romane gelesen, mein Kind, und sie sind dir, wie ich sehe, schlecht bekommen«[89] antwortete ihr Herr Kleeborn, sobald er nur erst begriff was sie meinte, und dies mit einer Art ironischer Gelassenheit, die Vicktorinen, gleich einem Dolchstiche, wehe that. »Doch das thut nichts, es wird sich schon wieder geben, denn du bist noch jung und kannst noch vieles lernen,« fuhr er im nemlichen Tone fort. »Du wirst schon mit der Zeit einsehen,« sezte er hinzu, »daß die Welt anders aussieht, als es in deinen Büchern steht. Indessen du magst dies bald begreifen, oder spät, oder auch gar nicht, so präge dir wenigstens fest in den Sinn, daß dein Vater nie auf den thörichten Einfall kommen kann, seine der ganzen Welt rühmlichst bekannte Firma mit seinem Tode erlöschen zu lassen, und sein einziges Kind nebst allem, was er mit Mühe und Sorge erworben hat, einem Federhelden zu übergeben, der ein so beträchtliches Vermögen weder zu verwalten noch zusammen zu halten weis.«
Vicktorine wollte hier das Wort nehmen, doch ihr Vater lies sie nicht dazu kommen. »Schlage dir diese und ähnliche Grillen gänzlich aus dem[90] Sinne, Vicktorine,« rief er mit zornfunkelndem Blick, vor dem die Erschrockene verstummen mußte. »Ich warne dich, auf nichts eigensinnig zu bestehen,« fuhr er fort, »denn es hilft dir nichts, ich fordre Gehorsam. Es steht fest wie die Sonne, daß kein Baron, kein Graf, selbst kein Prinz mein Schwiegersohn wird, aber auch kein Schulfuchs, sondern ein tüchtiger Mann meines Standes, des ersten glücklichsten und ehrenvollsten in der Welt, weil er der nützlichste ist. Uebrigens hast du vergessen, mir den Namen deines Seladons zu nennen. Schweige, ich verlange auch nicht, ihn zu erfahren, weil es mir gleichgültig ist, wie ein arroganter Thor heissen mag. Du weißt jezt meinen Willen; geh' und richte dich darnach.«
Die eisige Kälte, mit welcher Herr Kleeborn dieses Urtheil aussprach, und die vollkommenste Gleichgültigkeit gegen dessen sichtbaren Eindruck auf das Gemüth seiner Tochter, mit welcher er dieser sich zu entfernen winkte, überzeugten Vicktorinen nur zu sehr von dem Vergeblichen jedes[91] Versuches, den strengen Richter zu erweichen. Ueberdem war es ihr in diesem Augenblick' unmöglich, noch länger in seiner Gegenwart zu verweilen, so ergriffen fühlte sie sich von der ganz unerwarteten Aufnahme, die ihr herzliches Vertrauen gefunden hatte.
Mit unbeschreiblich-schmerzhaftem Erschrecken ward sie jezt den von ihr nie zuvor geahneten Ernst des Schicksals der Menschen gewahr, das nie vergißt, auch seinen Günstlingen Dornen unter die Rosen zu streuen, die scheinbar den Weg bedecken. Bis jezt war jeder Wunsch, selbst jede schnell vorübergehende Mädchenlaune der Verwöhnten in Erfüllung gegangen, nichts war ihr jemals verwehrt oder abgeschlagen worden, und nun preßten Schmerz, Zorn und bange Furcht vor der Zukunft ihr heißbrennende Thränen aus den Augen, die bis diese Stunde nur freudiges Lächeln oder Thränen des Mitleids gekannt hatten.
Jezt erst fühlte sie ganz, was Raimund ihr war; sie hatte ihn sogar nie zuvor so innig geliebt, als in diesem Moment, wo sie zum erstenmale die Möglichkeit[92] sich dachte, von ihm getrennt werden zu können. Ihre Thränen trockneten, indem sie sich gelobte, der unbeugsamen Gewalt ihr starkes Herz voll Liebe und ihren festen feurigen Muth entgegen zu stellen. Endlich ergriff sie ohne weiteres Bedenken die Feder, um dem Geliebten das zwischen ihr und ihrem Vater Vorgegangene umständlich und offen darzustellen. Ihre Worte trugen das Gepräge einer leidenschaftlichen Gluth, welche ihr bis jezt stets fremd geblieben war, und die ein zuvor von ihr nie gekanntes Gefühl erlittnen Unrechts in ihr entzündet hatte. Sie dachte nicht daran, ihre Worte zu wählen, sie ward immer begeisterter, je länger sie schrieb, und zulezt schien ihr nichts ausdrucksvoll und glühend genug, um nur dem Freunde ihres Herzens Vertrauen in ihre Liebe und Treue einzuflössen, ihn im voraus über alles das zu trösten, was ihrem Glücke sich entgegen stellen könnte und ihm den starken Muth mitzutheilen, von dem sie sich selbst in diesem Momente durchdrungen fühlte.[93]
»Ich bin dein, Raimund,« schrieb sie nach vollendeter Erzählung des Vorgangs zwischen ihr und ihrem Vater; »ich bin dein und bleibe es und wärst du weit über dem Meer, und leuchteten dir in einem andern Welttheil andre Sterne als mir, und gienge dir in dem Augenblick fern von mir die Sonne auf, in welchem ich sie sinken sehe. Die Mitternacht würde dann auch mein Morgen sein, den Tag würde ich verträumen, und nur in der Nacht leben, wenn ich wüßte daß du des Lichtes dich freutest und deiner Vicktorine liebend gedächtest. Habe nur Vertrauen zu mir, denn nichts kann von dir mich wenden, nicht Bitten, nicht Drohen, nicht die Macht der Zeit, viel weniger die sterbliche Gewalt.«
»O könnte ich diese goldnen Ketten abstreifen, die ich jezt so herzlich verachte. Könnte ich mit dir in verborgener Mittelmässigkeit leben, für dich arbeiten und entbehren! Du denkst vielleicht, deine vom Glück verwöhnte Vicktorine spreche nur so leichthin von Entbehrungen, die sie nicht kennt, ohne einen Begriff damit zu verbinden; aber glaube mir,[94] mein Freund, ich weis was ich damit sage. Ich weis wohl, daß anfangs mir verzognem Kinde Dürftigkeit scheinen würde, was Andre als seltnen Ueberfluß hoch halten; ich weis, daß meine Erziehung mir leider schwere Fesseln angelegt hat, und daß ich gewissermassen von neuem leben lernen müßte, wenn ich aus dem Gleise hinausträte, an welches ich von meiner Geburt an gewohnt bin. Ich leugne das Opfer nicht ab, das ich damit brächte, aber bedenke auch, welches unnennbare Wonnegefühl es sein müßte, durch irgend ein Opfer und wäre es das höchste, die Seeligkeit zu erringen, an der Hand des Geliebten durchs Leben zu gehen! Durch dich, mit dir immer höher zu streben zum Urquell alles Guten und Wahren und Schönen!«
»Ich bin nicht für den Schmerz gebohren, das weis ich seit heute, da ich zuerst ihn empfand; er erdrückt mich, er vernichtet mich, und nur im Sonnenscheine des Glücks kann alles das Gute, welches in mir, wie in jedem lebenden Geschöpfe[95] liegt, zur vollen Blüthe sich entfalten. Und wo ist Glück für mich als bei Dir?«
»Doch fahre hin, schöner Traum vor dem was sein könnte, ich muß Dir entsagen, denn ich darf meinen Vater nicht ohne seine Einwilligung verlassen, wenn ich Raimunds und des Glückes werth bleiben will, dem ich so nah zu sein hoffte, und das jezt in so ungemessner Ferne vor mir steht. Ich werde meinem Vater gehorchen wie ich that seit ich lebe, mit heissen, bittern Thränen schreibe ich dies nieder, doch ohne Kampf mit mir selbst. Ich werde seinen Wünschen entgegen eilen, und jeder seiner Winke sei mir Befehl, in allem, wo er mir gebieten darf. Ach alles, alles will ich thun, alles, alles leiden, hingeben, entbehren, nur Dich zu lieben, wolle er mir nicht verwehren, er darf es nicht, er kann es nicht, so wenig als er mir verbiethen kann zu athmen. Die Hand, die meines Herzens Schlag schuf und erhält, legte auch den Keim dieser Liebe gleich bei seinem Entstehen in dies nehmliche Herz; mein Dasein ist mit dem Deinen innigst verflochten, es läßt sich nicht losreissen,[96] dies nur versuchen, hieß sündigen, es wäre geistiger Selbstmord, darum bin und bleibe ich dein, nahe oder ferne, gleich viel.«
»Während ich Dir schreibe, Geliebter! kam Trost in meine Seele. Wie konnte es anders sein, Du warst ja bei mir und ich fühlte Deine liebende Nähe! Raimund, noch blüht uns die Gegenwart, wir werden uns sehen, uns sprechen wie zuvor, und sind durch gemeinschaftliche Sorge nur noch inniger vereint. Mein Vater hat mir nicht geboten, den Umgang mit Dir aufzuheben, er kennt nicht einmal den Namen des Mannes, dem seine Tochter auf ewig angehört, anfangs lies er mir nicht Zeit ihn zu nennen, später hielt er es nicht der Mühe werth, darnach zu fragen. So leichthin behandelt er das Herz, das Glück seines Kindes! Doch auch hierin liegt Trost; ich darf den Vater nun noch nicht grausam schelten, denn er weis ja nicht, was er mir thut; vielleicht wäre er sonst milder, er hat mich ja immer geliebt?«
Es war der erste Brief, den Vicktorine jemals an Raimund geschrieben hatte, und sie sendete ihn[97] verborgen in einem Pakete Musikalien an ihn ab, ohne dadurch Argwohn zu erregen; denn der Singverein veranlaßte oft solche Sendungen.
Daß Raimund das Schreiben erhalten habe, war nicht zu bezweifeln, doch viele Tage vergiengen, ohne daß er ihr antwortete. Vergebens hoffte Vicktorine im Singverein ihn zu treffen, vergebens suchte ihr Auge ihn auf der Promenade, im Konzert, im Theater, er fehlte überall, wo sie sonst gewohnt war, wenigstens aus der Ferne seinen Gruß zu erwiedern. Sie vergieng beinahe vor innrer Unruhe; tausend, immer abentheuerlicher werdende Besorgnisse drängten sich ihr auf und füllten ihre Fantasie mit Schreckbildern. Und doch war jeder Versuch, aus dieser beängstigten Lage zu kommen, ihr unmöglich, denn es fehlte ihr der Muth, nur Raimunds Namen zu nennen, vielweniger mochte sie es wagen, bei Bekannten nach ihm sich zu erkundigen. Endlich nach mehreren, in unaussprechlicher Bangigkeit verlebten Tagen erhielt auch sie ein Paket Musikalien, sie erbrach es mit zitternder Hand, es enthielt das, wonach sie so[98] lange sich gesehnt, einen Brief des Geliebten. Raimund schrieb:
»Du, meine Vicktorine! Du, deren schöne Seele so wahr, so glühend es empfindet, welche Seeligkeit es sei, der Liebe alles zu opfern, freue Dich mit Deinem Freunde, daß er der Glückliche ist, dem die strenge Pflicht erlaubt, was sie Dir verbietet.«
»Ja, ich habe im festen, heiligen Vertrauen auf Dich alles von mir geworfen; meine Aussichten für die Zukunft, meine Pläne, die ganze bisherige Tendenz meines Lebens; sogar meiner Unabhängigkeit habe ich, für einige Zeit wenigstens, entsagt, um nur die Hoffnung mir zu gewinnen, Dich mir einst erwerben zu können; denn – seit zwei Tagen arbeite ich im Komtoir des Kommerzienraths Fischer, dessen Sohn, wie Du weist, einer meiner Universitätsfreunde ist.«
»Du erbleichst, Dein schönes Auge füllen Thränen und bange Furcht bemeistert sich Deiner, indem Du dieses liesest. Fasse Muth, meine Vicktorine, zage nicht, zweifle auch nicht; ich habe den Schritt, den ich that, wohl überlegt. Um dieses zu können,[99] vermied ich es sogar in diesen Tagen, Dich zu sehen, denn ich wollte den wichtigen Kampf mit mir ganz allein in ungestörter Stille auskämpfen; ich schrieb Dir nicht, bis ich, mit mir selbst völlig einig, Dir sagen konnte: das habe ich gethan, statt Dir zu melden: das gedenke ich zu thun. Ich bin nicht minder offen als Du; ich werde es gegen Dich immer so sein, und darum will ich nicht einmal das Dir verhehlen, daß auch ich nicht ohne Schmerz von allem Gewohnten mich losreissen und die von meinem Vater für mich gewählte Bahn verlassen konnte, um mich in das Gewirre und Getreibe einer Welt zu werfen, die nie die meine war. Doch glaube mir: ich bin unfähig, je zu bereuen, was ich nur nach vielfacher Ueberlegung unternahm, und werde gewiß von nun an alle Pflichten des an sich ehrenwerthen Standes erfüllen, den ich selbst mir erwählte, ja den ich mir erwählen mußte, um gegen mich selbst gerecht zu sein.«
»Theure Vicktorine, ich habe mich in dieser Zeit sehr strenge geprüft, ich bin mit mir selbst offen zu Werke gegangen, was so schwer ist; denn wen[100] täuscht man lieber und leichter, als sich selbst? Auch Dich will ich nicht täuschen, und so gestehe ich Dir offen, daß ich jezt weis: ich könnte ohne Dich das Leben zwar tragen, aber ich fühle auch, daß ich mich alsdann dazu anschicken müßte, wie zu einer nächtlichen Winterreise ohne Wärme und Licht, denn Du, Vicktorine, bist die Sonne meines Daseins, das ich ohne Dich kraftlos, in Dunkelheit hinschleppen müßte. Darum schilt mich nicht, daß ich that was ich mußte; beneide mich auch nicht, daß ich durfte was Du nicht darfst, und vor allem, tadle Deinen Vater nicht, dessen wohlgemeinter, und im rechten Lichte gesehen, auch wohl motivirter Wille mir es möglich machte, Dir durch mehr als Worte zu zeigen was Du mir bist.«
»Kann es Dich beruhigen, und ich hoffe es wird es, so vernimm, daß ich schon jezt einsehe, wie ich zu meinem jezigen Berufe, bei meinen, freilich zu anderm Zwecke erworbnen Kenntnissen nicht viel mehr brauchen werde als Gewöhnung und dabei Aneignung des ihm eigenthümlichen, mechanischen Theils desselben, den gewöhnlich Knaben in früher[101] Jugend schon erlernen. Alles dies dünkt mir indessen zum Theil nicht schwer zu begreifen, zum Theil werde ich dessen überhoben. Was dem Knaben als Zentnerlast erscheint, ist ja überdem dem reifen Manne ein Spiel. Und wäre es auch anders, was kann mir lästig dünken, wenn ich den Blick dem Ziele zuwende, zu dem ich strebe.«
Leidvoll und Freudvoll versank Vicktorine in sich selbst, als sie dieses las. Das Opfer, welches Raimund ihr gebracht, erfüllte ihr Gemüth nicht mit Liebe, nicht mit Bewunderung, aber mit einem aus beiden zusammengesezten namenlosen Gefühl: als sie ihr Wesen so ganz mit dem seinen verschlungen, daß nur Tod sie von ihm reissen könne. Die Liebenden sahen sich wieder; ihr erstes Wiedersehen war ein schmerzlich-entzückender Augenblick; auch ward ihnen von nun an nur selten das Glück, mehr, als Blicke oder ein paar flüchtig hingeworfene Worte mit einander wechseln zu können; denn Beide fühlten jezt mehr wie je die Nothwendigkeit, ihr Geheimniß den Augen der neugierigen Welt zu verbergen. Sie vermieden deshalb auf das gewissenhafteste[102] jede Unvorsichtigkeit in ihrem Betragen, durch die das Heiligthum ihrer Herzen unberufnen Beobachtern hätte verrathen werden können.
So vergieng ihnen ein Jahr und drüber in der Seeligkeit des reinsten Bewustseins vertrauensvoller inniger Liebe. Das jungen Holm rasch ausgeführter Entschluß war bei seinem Alter, bei seinen Kenntnissen in einem andern Fache, bei seinen Aussichten in eine ihm offen stehende ehrenvolle Zukunft zu beispiellos, als daß er nicht selbst in dieser großen Stadt dadurch hätte Aufsehen erregen sollen. Anfangs war darüber, als über eine große Thorheit viel gesprochen und gespöttelt worden, späterhin aber begann Raimund, sich ganz auf eine entgegengesezte Weise bemerkbar zu machen. Man fühlte sich gezwungen, die Leichtigkeit zu bewundern, mit welcher der Neuling Schwierigkeiten überwand, die denen unüberwindlich geschienen hatten, welche, von Jugend auf zum Kaufmannsstande erzogen, es für unmöglich hielten, sich ohne diesen Vortheil in Geschäften solcher Art zurecht finden zu können. Raimunds sehr ausgebreitete Kenntnis fremder[103] Sprachen, die Geschicklichkeit, mit der er den bedeutendsten Theil der Korrespondenz seines Hauses zu führen wußte, und mehr noch als alles dies, der Scharfblick und die Berechnung der Umstände, durch welche er dasselbe zu einigen sehr vortheilhaft ausfallenden Spekulazionen veranlaßt hatte, erwarben ihm allgemeine Achtung an der Börse. Man wußte, daß er ohne alle Belohnung an Gelde im Fischerschen Komtoir arbeite, aber die angesehnsten Häuser hätten gern um jeden Preis einen solchen Gehülfen sich erworben, der, ohne die Lehrjahre überstanden zu haben, gleich als Meister auftrat. Jeder profezeyete in ihm einen künftigen Stern erster Größe in der handelnden Welt, wenn das Glück ihn nur so begünstigen wolle, als seine Kenntnisse und sein Fleiß es verdienten. Sogar Herr Kleeborn erwähnte seiner einigemal über Tische, und mit grossem Lobe. Vicktorine getraute sich dabei kaum, die Augen von ihrem Teller zu erheben, und ihr laut pochendes Herz wollte vor banger Freude zerspringen, denn ein ganz eignes schlaues Lächeln ihres[104] Vaters, indem er den Namen Holm auffallend betonte, verrieth ihr nicht nur seine Bekanntschaft mit ihrem Geheimniß, sondern sie glaubte auch mit Sicherheit, Pläne zu ihrem künftigen Glück darin lesen zu dürfen.
Ganz unbefangen und ahnungslos folgte sie daher dem Ruf ihres Vaters, als dieser sie, wie er zuweilen that, zu sich in sein Kabinet beschied. Höchstens erwartete sie wieder einmal von einem abgewiesenen Heurathsantrage hören zu müssen, und sie erschrack daher schon ein wenig, als Herr Kleeborn mit ganz sonderbarer, etwas feierlicher Freundlichkeit ihr entgegen trat, ihre Hand ergriff, und sie nöthigte, sich zu ihm auf das Sofa zu setzen.
»Vicktorine,« begann er nach einer kleinen Pause, seine wahrscheinlich vorher einstudirte Rede, »Vicktorine, Du bist mein einziges Kind, und Du weist, wie es von jeher mein höchster Wunsch war, Dein wahres Glück nach bester Einsicht und Kraft zu begründen. Viele Jahre hindurch habe ich Tag und Nacht für Dich gesorgt und gearbeitet,[105] darum ist es jezt an Dir, mich für alle meine Sorge und Mühe zu belohnen. Nun, ich muß es Dir zum Ruhm nachsagen, Du warst ein folgsames Kind, und hast Dir nie die mindeste Einwendung gegen meinen Willen erlaubt, wenn ich Anträge abwies, die ich für Dich als unpassend erkannte, indem ich mit meinem wohlerworbnen Golde weder alte Adelsbriefe auffrischen, noch verschuldete Güter einlösen lassen mag. Nun! des Vaters Seegen erbaut den Kindern Häuser, und auch meiner hat Dir eins gebaut, denn ich habe Dich rufen lassen, um Dir anzukündigen, daß Du endlich die Braut eines würdigen Mannes meines Standes bist, eines Kaufmanns recht nach meinem Herzen, der« – – –
»Herr Holm ist im Komtoir,« rief jezt Jemand zur Thür herein. »Herr Holm!« wiederholte Kleeborn nachdenklich für sich hin, Vicktorine bebte an allen Gliedern. »Es ist gut so, und vielleicht um so besser,« sezte jezt Kleeborn nach kurzem Ueberlegen halblaut hinzu; dann wandte er sich zu Vicktorinen: »Geschäfte gehen allem vor, mein[106] Kind wie Du weist, doch Du bleibst hier, es ist gleich abgethan, und wir sprechen hernach weiter.« »Lassen Sie den jungen Holm nur herein treten,« sagte er zu dem, der ihn gemeldet hatte. Dieser gieng sogleich, den Befehl zu vollstrecken und nach wenig Sekunden stand Raimund vor Vicktorinen. Sein erster Blick fiel auf sie, er sah sie fast besinnungslos da sitzen und erröthete sichtbar, doch suchte er sich schnell wieder zu fassen, und richtete wirklich seinen Auftrag an Herrn Kleeborn mit möglichster Klarheit aus; anfangs freilich mit etwas unsicherer, nach und nach aber mit immer fester werdender Stimme. Es war von einer sehr bedeutenden Unternehmung die Rede, zu welcher Holm den Plan entworfen hatte, und zu deren Ausführung Herr Kleeborn mit dem Herrn Fischer zusammentreten wollte. Er gieng darüber mit Raimunden in sehr weitläuftige Unterhandlungen ein, lobte mehrmals die helle, bestimmte Ansicht des jungen Mannes, und betrug sich im Ganzen so freundlich und höflich gegen ihn, daß Vicktorine sich nicht nur allmählig von ihrer Ueberraschung erholte,[107] sondern sogar begann, in ihrem Gemüthe den kühnsten Hoffnungen Raum zu geben.
Der Gegenstand des Gesprächs der Beiden war nun erschöpft und Holm machte Miene sich entfernen zu wollen, doch Kleeborn hielt ihn fest. »Ehe Sie gehen, lieber Herr Holm,« sprach er, »will ich Ihnen doch einen Beweis meiner Achtung für Ihre Person geben; Sie sollen der erste sein, der meiner Tochter als der Braut des Sir Charles Wissmann seinen Glückwunsch bringt. Ihr Bräutigam ist holländischer Konsul in London und der Sohn des berühmten Amsterdammer Hauses dieses Namens, das Ihnen gewis rühmlichst bekannt sein wird. Seit mehr als zehn Jahren bin ich diesem Hause so hoch verpflichtet, daß ich nur auf diese Weise meine Schuld einigermaßen abtragen kann.«
Raimund stand jezt unbeweglich und bleich gleich einer Marmorbüste da. Es war ihm als ob bei dieser unerwarteten Anrede die Sinne ihm vergiengen; auch Vicktorine starrte mit gefalteten bebenden Händen und mit weit offnen Augen athemlos vor sich hin. Sie sprang vom Sofa auf.[108] »Vater!« rief sie, »Vater, was soll dieser grausame Scherz?« Die Stimme versagte ihr, sie verstummte, sichtbarlich zitternd vor innerer ängstlicher Bewegung.
»Scherz, mein Kind?« erwiederte Kleeborn mit erzwungnem Gleichmuth, »ei! ei! Vicktorine, seit wenn kennst Du mich denn von dieser spashaften Seite? Daß ich mit ernsten Dingen nicht gewohnt bin zu scherzen, könntest Du doch wissen. Frage nur hier Herrn Holm, das Haus Deines Schwiegervaters in Amsterdam ist ihm gewis bekannt.«
»Sie scherzen nicht? Vater,« rief jezt Vicktorine, sich und alles in ihrer Verzweiflung vergessend. »Sie scherzen nicht? Und dieser fürchterliche Hohn – o Vater! ich habe Ihnen ja nichts verschwiegen, Sie konnten mein Herz« – – Kleeborn unterbrach sie. »Mädchenherzen sind Modeartikel, auf die kein vernünftiger und gewis kein solider Mann sich einläßt,« erwiederte er ihr, noch immer sehr gleichmüthig. »Uebrigens,« sezte er hinzu, »will ich hoffen, daß Dein Herz kein rebellisches, sondern ein gehorsames Herz ist, wie[109] es sich für meine Tochter ziemt. Von Deinen Geständnissen aber, die Du mir gemacht haben willst, weis ich kein Wort, und auch Du thust am besten, sie ebenfalls zu vergessen«.
»Vater, o mein Vater,« rief Vicktorine ängstlich flehend, »Sie wußten um meine Liebe. Hören Sie auf, mich auf diese Weise zu ängstigen, ich habe Ihnen ja nichts verborgen, und wenn Sie auch Gründe vielleicht hatten, den Namen des Mannes, den ich liebe, nicht von mir nennen hören zu wollen, so konnten Sie ihn aus Raimunds seltnem Entschluß doch errathen; ja Sie haben ihn errathen; besinnen Sie sich doch, lieber Vater, Sie haben ihn errathen« – – »Das ich nicht wüßte,« fiel Kleeborn, noch immer sehr kalt und gelassen ein, »ich gab mich nie sonderlich mit Räthseln ab, doch weis ich lange, daß junge Mädchen sich mit eingebildeten Liebesgeschichten die Zeit vertreiben, wenn es mit den Puppen nicht mehr recht fort will, denn jedes Alter will sein Spielwerk. Doch, Du Vicktorine, solltest die Kinderschuhe endlich ausgetreten haben,[110] und ich bitte, daß es von heute an geschehe, wenns nicht schon geschehen ist.«
Mit hochfliegender Brust, bleich und stumm vor Entsetzen, stand Vicktorine im gewaltsamen Kampfe ihres Innern da, während ihr Vater sich jezt vornehm höflich an Raimund wandte. »Von Ihnen, Herr Holm,« sprach er zu diesem, »und von Ihrem Verstande hege ich eine zu gute Meinung, als daß ich nicht glauben dürfte, daß Sie von jeher eingesehen haben werden wie weder Ihre jetzige Lage, noch Ihre derzeitigen Vermögensumstände Sie für jezt berechtigen können, auf die Hand eines Mädchens, wie die einzige Tochter von Martin Nicolaus Kleeborn eines ist, Ansprüche zu machen.« Hier wollte Raimund antworten, doch der Alte lies ihn nicht zum Worte. »Ich will Sie mit dieser meiner Aeusserung keinesweges zurücksetzen, lieber Herr Holm,« sprach er noch immer in ziemlich höflichem Tone; »im Gegentheil, ich kenne Sie als einen sehr soliden und geschickten jungen Mann, der einst gewis noch in der Welt sein Glück machen wird. Viele haben mit[111] weit Wenigerm angefangen als Sie und sind jezt Millionäre. Ihr Glück blüht noch, und wenn ich in Zukunft Ihnen irgendwo dienen kann, soll es gern geschehen, denn ich helfe gern jungen Leuten fort. Aber für jezt – nun Sie wissen es ja auch, künftig ist nicht heut, und man pflückt nicht Blüthen sondern Früchte.«
Raimund hatte allmählig während dieses Vorganges seine Fassung wieder errungen.« Je länger Kleeborn sprach, je höher richtete er sich aus seiner vorigen, durch Schrecken und Verlegenheit gebeugten Stellung wieder empor, so daß er zulezt mit fast königlichem Anstande vor seinem Widersacher stand, und ihm so fest ins Auge sah, daß Kleeborn jezt seinerseits dadurch in einige Verlegenheit gerieth und unwillkührlich das Gesicht von ihm abwandte.
»Ich weis, wer und was ich bin, und es bedarf keiner Erinnerung von Ihnen, Herr Kleeborn, um mich in den mir gebührenden Schranken zu halten,« erwiederte Raimund jezt, zwar mit gemässigtem, aber dennoch sehr festem, ernsten[112] Tone. »Ja, ich gestehe es,« fuhr er fort, »und ich bin stolz darauf, es Ihnen und der ganzen Welt zu bekennen, daß ich Vicktorinen mehr liebe als mich, als mein Glück, als mein Leben. Doch verstehen Sie mich recht, nur sie liebe ich, nur nach ihrem Besitze strebe ich, nicht nach dem Vermögen ihres Vaters, dessen ich Gottlob nicht zu meinem Glücke bedarf.«
»Ich habe Sie ausreden lassen, und erbitte mir die nämliche Gefälligkeit jezt von Ihnen,« setzte Raimund hinzu, da er bemerkte, daß der Alte ihm etwas erwiedern wollte. »Es kann Ihnen nicht unbekannt sein,« fuhr er fort, »daß, wäre ich dem Stande getreu geblieben, zu dem ich erzogen ward, ich die sichre Aussicht hatte, Ihrer Tochter mit meiner Hand ein vielleicht glänzendes, oder doch gewis ein unabhängiges und ehrenvolles Loos bieten zu können. Doch ich verlies diese Bahn, um auf eine Weise zu dem höchsten Ziele meiner Wünsche zu gelangen, die auch Ihnen gefallen, und sogar mit der Zeit Ihnen nützlich werden könnte. Ich wünschte, dem Vater[113] Vicktorinens durch ein nicht unbedeutendes Opfer meine Liebe zu seiner Tochter zu beweisen, und zugleich durch meinen angestrengtesten Fleiß ihm späterhin ein sorgloses, mühloses Alter....
»So? Ey das ist ja recht schön und lobenswerth,« fiel Kleeborn jezt noch immer ein wenig verlegen ein, – denn das edle feste Benehmen des jungen Mannes imponirte ihm doch einigermassen, und überdem mochten auch Rücksichten auf das eben gesprochene, wichtige Geschäft ihn bewegen, denselben mit einiger Schonung zu behandeln. »Ja sehen Sie« fuhr er daher ziemlich freundlich fort, »das ist wie gesagt recht lobenswerth und schön. Nun Sie werden es mir gewis noch selbst einst verdanken, daß ich so gleichsam die unschuldige Ursache war, Sie auf den rechten Weg zu bringen, denn Sie sind zum Kaufmann geboren. Und wie gesagt, wenn ich gleich Ihre Offerte wegen meiner Tochter diesmal nicht annehmen kann, so bin ich doch stets geneigt, Ihnen in Zukunft mit meinem guten Rath' oder auch sonst zu dienen, denn wir bleiben doch gute[114] Freunde, da ich von Ihrer Rechtschaffenheit hoffe, daß Sie nicht hinter meinem Rücken etwas unternehmen werden, um mein einziges Kind zum Ungehorsam zu verleiten.«
Holm, ohne ihm zu antworten, wandte sich Vicktorinen zu, die, einer Sterbenden ähnlich, in der leidenschaftlichsten Bewegung vergebens nach Athem rang. »Theures, unaussprechlich geliebtes Wesen,« sprach er, und drückte ihre Hand an sein hochschlagendes Herz, Vicktorine, Du Licht meiner Augen, Du Leben meines Lebens, zürne mir nicht, daß ich jezt Deine Freiheit Dir wieder gebe; ich wollte Dich verdienen, doch erschleichen will ich Dich nicht; entscheide über Dich selbst und, wenn Du es vermagst, so folge dem Willen Deines Vaters; laß den Gedanken an mein künftiges Geschick auf Deinen Entschluß keinen Einfluß haben. Dein Glück ist das meine, Dein Bild kann mir niemand rauben, und eine Zukunft giebt es nicht mehr für dieses Herz, das hinfort nur in der Vergangenheit lebt. Ich bleibe Dein, denn ich kann nicht anders, doch Du – – –[115]
»Raimund! Raimund!« schrie Vicktorine mit konvulsivischer Heftigkeit laut auf; sie stürzte zum erstenmal sich in seine Arme, an seine Brust, sie umschlang seinen Nacken mit furchtbarer Angstgeberde, und sank dann vor ihrem Vater nieder, dessen Knie sie fest umklammerte. »Vater!« rief sie, »können Sie mich, Ihr einziges Kind so sehen und nicht sich erbarmen! können Sie diesen edelsten der Menschen hören und nicht an Ihre Brust ihn schließen, und nicht Gott danken, daß er ihr Sohn sein will!«
»Romanenheldin! Komediantin! solche Theaterpossen gehen an mir verloren,« rief der Vater bleich vor Zorn, mit bebenden Lippen, indem er sich los zu machen strebte. »Also auf du und du? bei Gott das geht weit! Steh' auf! Steh' auf Vicktorine, Du bist und bleibst Charles Wissmanns Braut, denn ich gab mein Wort, und werde es Deiner Narrheit zu gefallen nicht zum erstenmal in meinem Leben brechen. Und Sie junger Herr – –«
»Vollenden Sie nicht, was Sie sagen wollen![116] Hören Sie erst meine Erklärung auch,« sprach Raimund mit so festem männlichen Ton, daß Kleeborn sich bewogen fühlte, ihm nachzugeben. »Daß ich nach diesem nicht mehr daran denken kann, Sie durch Bitten erweichen zu wollen, werden Sie mir zutrauen, daß ich mein Glück nicht erschleichen will, wiederhole ich Ihnen nochmals.«
»Sie werden also hinfort nicht suchen, meine Tochter heimlich zu sehen? Sie wollen ihr nicht schreiben? in Summa, Sie geben alle Ihre Ansprüche auf?«
»Ich habe keine Ansprüche als an ihr Herz, und nur Vicktorine darf hier entscheiden,« erwiederte Raimund.
»Ich bin Du, Du bist ich,« rief Vicktorine überlaut und umschlang ihn nochmals. »Lassen Sie mich, mein Vater,« sprach sie mit so wild blitzenden Augen, als dieser eine Bewegung machte, sie von Raimund los zu reissen, daß er erschrocken von ihrer Heftigkeit, zurück fuhr. »Höre mich, Gott, was ich in Gegenwart meines Vaters[117] gelobe,« rief sie, und hob wie zu einem Eidschwur ihre rechte Hand empor. »Ich schwöre Treue, unverbrüchliche Treue diesem Mann. So wie nichts ihn je aus meinem Herzen reissen kann, so soll nichts je mich bewegen, meine Hand einem Andern zu geben. Und nun lebe wohl,« sprach sie, in die höchste Weichheit übergehend, »lebe wohl, mein Glück, meine Jugend, meine Seeligkeit auf Erden! Raimund ich bin Dein und bleibe es, darum versprich für mich was Du willst, ich werde es halten, denn Du bist meine Seele, meine Tugend, Du bist alles! Meineid wirst Du auf mich nicht laden wollen,« hauchte sie noch in gebrochenen Tönen hin, und sank wie aufgelöst, in seinen Armen zusammen.
»Vicktorine, o meine Vicktorine!« war alles, was Raimund aus gepreßter Brust hervor seufzen konnte, und Thränen glänzten in seinen Augen, indem er sie aus seinen Armen auf das Sofa niedersinken lies, ihre Hand behielt er fest in der seinen, indem er ihrem Vater sich zuwandte, der[118] jezt, schäumend beinah, in unthätigem Zorn, dabei stand.
»Sie hörten die Erklärung Ihrer Tochter,« sprach Raimund mit edlem Anstand' und gemässigtem Ton; »Ich habe hier nach Vicktorinens Willen für uns beide zu handeln, und so nehmen Sie denn unser beider heiliges Versprechen, daß wir nicht suchen wollen, uns heimlich weder zu sehen noch zu schreiben, so lange Sie es uns verbieten, denn ich hoffe, daß Ihre Behandlung Vicktorinens mir nicht zur Pflicht machen wird, der Geliebten zu Hülfe zu eilen. Wollen Sie noch mehr?« »Ihr sollt euch trennen,« schrie Kleeborn, fast unverständlich vor Wuth.
»Wir trennen uns, bis ein günstigeres Geschick uns vereint, hier oder dort!« sprach Raimund mit glänzenden Augen. Fest, aber wehmüthig setzte er noch hinzu. »Sein Sie ruhig, alter Mann, wir sind beide nicht fähig Sie zu betrügen.« Dann küßte er noch einmal Vicktorinens leblose Hand. »Lebe wohl, lebe wohl, auf lange Zeit!« rief er aus, und verließ das Zimmer.
[119]
»Und so ist es noch in diesem Augenblick, Tante,« sprach Vicktorine am Ende ihrer Erzählung. »Wir haben Wort gehalten, wir sehen uns nicht, wir schreiben uns nicht, aber die Luft, die mich umweht, bringt mir seinen Gruß, und die Sterne am Himmel sind unsre Vertrauten, denn sie leuchten mir und ihm, ich lese in ihnen, daß er meiner gedenkt, der Abglanz seiner Blicke stralt mir aus ihnen entgegen, das kann mein Vater doch nicht hindern? Nein so weit reicht nicht seine Gewalt; aber auch eben so wenig soll sie dahin reichen, mich zwingen zu können, jenem Verhassten meine Hand zu geben, und so auf mein bis jezt schuldloses Gemüth die Sünde des Meineids zu laden. O Tante, sagen Sie ihm nur dieses, wenden Sie Ihre Ueberredungskraft nur dazu an, ihn hiervon zu überzeugen, damit er aufhöre, mich zu zwingen, ihm widerspenstig und pflichtvergessen zu erscheinen, während ich doch nur thue, was ich muß. O nehmen Sie gütig uns Verlassene in Ihren Schutz!« setzte Vicktorine kindlich flehend hinzu.[120]
»Glaubst Du wirklich, es bedürfe Deiner Bitten, damit ich alles, was in meinen Kräften steht, zu Deinem Besten versuche?« erwiederte freundlich die Tante. »Das Nöthigste wäre freilich erst, auszumitteln, was eigentlich Dein Bestes erfordert, und vor allen Dir beizustehen, damit Du Gewalt genug über Dich gewinnst, um jene Heftigkeit zu mässigen, die spät oder früh Dich ins Verderben stürzen muß.«
»Tante, liebe Tante,« fiel Vicktorine ihr ein, »ich bin von Natur nicht heftig, ich war in Raimunds Nähe stets sanft und mild und lenksam wie ein Kind. Aber hier gilt es mehr als mein Leben! Gewis wenn wir nicht früherem Untergange bestimmt sind, so kommt einst die Zeit, die mich und Raimund hier noch vereint, denn wir beide sind nur zusammen, nur eins durch das andere, alles was wir sein können! Nehmen Sie mir ihn, und Sie rauben mir nicht nur mein ganzes Erdenglück, Sie rauben mir das Gefühl des Rechts, der Tugend, Sie machen mich zu einem Nichts, und in mir, o mein Gott!« rief sie mit[121] unendlicher schmerzhafter Geberde, »o mein Gott, in meinem armen unbedeutenden Ich zerstört ihr das grosse schöne Herz meines Freundes! Wer könnte diesen Mord euch vergeben!« setzte sie mit strömenden Augen hinzu und verbarg laut weinend ihr Gesicht.
In diesem Moment trat Angelika hinein, doch da sie die Beiden so bewegt sah, entfernte sie sich sogleich wieder, um durch ihre Gegenwart nicht störend zu werden. Die Tante sah schweigend ihr nach. »Und wie willst Du denn diese milde liebliche Erscheinung Dir erklären, Vicktorine,« fragte sie endlich;« darfst Du Deinen Schmerz dem Ihren gleich stellen? und lebt sie nicht? lächelt sie nicht zuweilen!? und siehst Du nicht sogar in allen ihrem Thun zarte Keime eines neuen, nur anders gestellten Lebens erblühen? Ach liebes Kind, Glück und Unglück gehen an uns vorüber, nur das Recht, die Pflicht bestehen, und was diese uns gebieten, läßt sich erfüllen. Die Kraft dazu kommt uns, wir wissen nicht wie, obgleich wir es ahnen, und die Bessern unter uns hebt[122] der Schmerz über sich selbst: und veredelt sie, statt sie nieder zu drücken.«
»Tante« rief Vicktorine, »um Gotteswillen, nennen Sie Angelikas armes Dasein Leben? sind denn die Keime neuen Lebens, wie Sie sie nennen, etwas anders, als nimmer aufblühende Knospen, die zu einer Todtenkrone sich flechten wollen? Können Sie so irren? Haben Sie nie gelebt? nie geliebt?«
»Doch wohl vielleicht!« erwiederte die Tante mit einem leisen Seufzer, und brach für diesen Abend das Gespräch ab.
Zu aller ihrer Freunde höchsten Erstaunen, erholte sich Vicktorine unglaublich schnell von dem letzten Stoß, den ihre Gesundheit erlitten hatte.
Man schrieb dieses halbe Wunder zwar dem Arzte zu, doch eigentlich war es die Tante, die den Grund dazu legte, theils indem sie der Kranken durch Herrn Müller die beruhigende Gewisheit[123] zu verschaffen wußte, daß von Raimunds Reise nach Odessa nie ernstlich die Rede gewesen sei, theils indem sie den schweren Druck gewaltsam erzwungnen Schweigens von ihr nahm, und ihr erlaubte, alle Gefühle ihres, von Angst und Liebe überströmenden Herzens vor ihr auszuschütten. Im Genuß ihrer freudigen Jugend hatte Vicktorine bis jezt keiner Vertrauten bedurft, und folglich auch keine gefunden, aber sie war auch dabei vom Schicksal zu verwöhnt worden, um den Schmerz ebenfalls allein tragen zu können. So hatte einzig das gewaltsame Zurückdrängen des sie allmächtig beherrschenden Gefühls des Kummers, der Sorge um den Geliebten, sie an den Rand des Grabes gebracht. Jezt aber fand sie in der Tante, was weder die gute, doch beschränkte Virnot, noch eine ihrer Jugendgespielen ihr hatten sein können: eine weise, theilnehmende Freundin, die zwar weit davon entfernt blieb, ihr Benehmen durchaus zu billigen, und dieses sogar mit eindringendem Ernst zuweilen äusserte, die aber doch gern und gelassen sie anhörte. Und[124] für dieses leidenschaftliche Gemüth war das schon eine grosse Erleichterung.
Uebrigens übte die Tante durch ihre bloße Gegenwart eine Art magnetischer Kraft an Vicktorinen, die in der That wunderbar und seltsam genug war. Sie widersprach ihr wenig, sie fragte noch weniger, sie hörte sie meistens nur an. Aber der ernste, durchdringende Blick ihres klaren Auges entflammte Vicktorinen zu immer festeren Beschlüssen; dem stummen Widerspruch, den sie oft in den Zügen ihrer Vertrauten zu lesen glaubte, stellte sie ihre geheimsten Gedanken, ihr verborgenstes Empfinden laut entgegen und so lernte sie erst durch dieses, mit unsichtbarer Gewalt erpreßte Vertrauen sich und ihr Herz klar erkennen, indem sie dadurch über vieles erst zum deutlichen Bewußtsein gelangte, was bis dahin nur wortlos ihrem innern Sinne vorgeschwebt hatte.
So kehrte denn nach und nach das gewohnte Leben in den häuslichen Kreis des Kleebornschen Hauses wieder zurück, und der Herr desselben begann schon, dem Zeitpunct freudig entgegen zu[125] sehen, in welchem Ueberfluß, Pracht und rauschende Gesellschaften seine weiten Säle wieder füllen würden. Er kam jezt jeden Abend auf eine Stunde in das Wohnzimmer, wo die Tante mit anmuthiger Sitte und gewohnter Heiterkeit am Theetische waltete, um welchen sich schon zuweilen einige vertraute Freunde versammeln durften; er sah mit Vergnügen, wie auf Vicktorinens bleichen Wangen die Farbe der Genesung allmählig wieder erblühte, und ihr so lange verdunkeltes Auge wieder im helleren Glanze zu strahlen begann. »Nun, nun, murmelte er dann für sich hin, es geht wie ich dachte, mit der Zeit wird sich alles geben,« und eilte seelenvergnügt dem Spieltische zu, an welchem seine Freunde ihn erwarteten.
Eines Abends, an welchem Vicktorine sich auffallend wohl befand, sprach er kurz ehe er fortgieng sehr viel von einem glänzenden Feste, mit welchem er nächstens die völlige Genesung seiner Tochter zu feiern gedachte, und Babet und Agathe arbeiteten dabei wie nach dem Tackt an einem[126] neuen Ballputze, den sie nach Angabe der Tante für sich verfertigten. Der Himmel hieng ihnen dabei voll, lauter Walzer spielenden Geigen, und sie sahen schon im Geiste die kleinen Füschen unter der dicken blumenreichen Garnirung des kurzen Kleidchens zierliche Triller schlagen.
Angelika ging indessen in liebenswürdiger Geschäftigkeit ab und zu, und suchte jedem, besonders der Tante, nach ihrer Weise etwas Angenehmes zu erzeigen. Der stille Schmerz verklärte dies holdseelige Wesen immer mehr und mehr, und machte es immer freundlicher. Jeder, sogar Herr Kleeborn, fühlte sich von dem eigenthümlichen Wohlwollen, das Angelika Allen bezeigte, zu ihr gezogen, und empfand gleichsam die Verpflichtung, ihr verlornes Glück durch verdoppelte Liebe ihr zu ersetzen, so weit dies möglich war. Das dankbare Gemüth des stillen, freundlichen Mädchens öffnete sich natürlicherweise gern dem tröstenden Einfluße dieser überall ihm entgegen kommenden Neigung, und es faßte wieder Freude am Leben, doch nicht am eignen. In dieses sah[127] Angelika vollkommen, wie in ein fremdes hinein, es war ihr, als gienge sie sich selbst nichts mehr an; nur im Schmerz oder in der Freude Anderer fühlte sie noch ihr irdisches Dasein und daher war es ihr sehnlichster Wunsch, nur Vicktorinen wieder froh und glücklich zu sehen, deren lebensreiche Natur weder Schmerz noch Entsagung zu tragen wußte.
Bald nach Herrn Kleeborns Entfernung ergriff die Tante ein Buch, wie sie jeden Abend zu thun pflegte, um mit ihrer wohlthuenden sonoren Stimme den jungen Mädchen etwas vorzulesen. Sie war Meisterin in dieser Kunst, und die Wahl, die sie unter den vorzüglichsten Dichtern unserer Zeit zu treffen wußte, bezweckte vor allem, das Gemüth ihrer beiden Lieblinge zu beschwichtigen, indem sie den eignen Schmerz im verklärten Lichte der Poesie ihnen zeigte. So öffnete sie zugleich die jungen Herzen jenem beseeligenden Einfluße der Kunst, der ihre Lieblinge weit über irdisches Geschick erhebt, und allein uns lehrt, in stiller Thätigkeit und dennoch duldend, es zu besiegen,[128] und in der eignen Brust einen Himmel uns zu erbauen, den keine Erdenmacht verhüllen darf.
Agathe und Babet, die nur den Augenblick mit Ungeduld erwartet hatten, in welchem die Tante ermüdet das Buch wieder hinlegen würde, benutzten jezt diesen, um in ihr Zimmer zu eilen, und sich dort für das erzwungne beschwerliche Schweigen während der Lektüre zu entschädigen, Angelika hingegen holte auf der Tante bittenden Wink ihre Harfe herbei, und hauchte mit süsser leiser Stimme folgendes Lied in den Klang der goldenen Saiten. Sie hatte in einer schönen wehmüthigen Stunde, bald nachdem Ferdinand zur Armee gegangen war, es selbst gedichtet, und Worte und Melodie waren zugleich entstanden.
Bricht an der Tag mit seinen hellen Lichtern,
So flücht' ich meiner Liebe heil'gen Schein
Vor all' der bunten, lauten Menge schüchtern
In meines Herzens tief verschloßnen Schrein;
Dort ruht er ungesehen, glüht verborgen,
Bis daß der Abend kommt; dies ist sein Morgen.
[129]
Denn, wenn nun dieser zieht die grauen Schatten,
Das Licht sich nach und nach in Dunkel bricht
Bis es im letzten Strahle muß vermatten,
Wenn Nacht sich um die weiten Himmel flicht,
Dann zünde ich im allertiefsten Herzen
Ganz still mir an der stillen Liebe Kerzen.
Sie leuchten freudig mir in meiner Zelle,
Aus herrlicher Vergangenheit herauf;
Sie zeigen auch im Dunkel Hoffnungshelle
Mir meiner Zukunft unenthüllten Lauf;
Sie glänzen – gehn die müden Augen schlafen –
Als Pharus in des Traumes Wunderhafen.
Und diese lichten Träume sollen blühen
So lang des Lebens Traum mich noch umfängt;
Sie sollen treu auch dahin mit mir ziehen
Wo man zum langen Schlaf' mich eingesenkt.
Nein! Diese Flammen können nicht vergehen;
An ihnen zündet sich das Auferstehen.
Thränen glänzten in den Augen der Zuhörerinnen, als die Sängerin verstummte, doch ihre Augen blieben klar, ihre Züge heiter, indem sie aufstand und schweigend die Harfe wieder hinaus trug.
Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, warf sich Vicktorine mit überströmendem Gefühl' in Annas[130] Arme. »Tante,« rief sie, »glauben Sie es nur, ich fühle die stille Lehre, die Sie durch die Gegenwart dieses schon halbverklärten Engels mir geben wollen, aber kann denn die junge Tanne sich schmiegen und beugen wie der Epheu? liebe, gütige Frau, ich leide in Ihrer Seele wenn ich Ihre Zukunft mir denke, denn ich sehe es, Sie wollen zu der Höhe mich führen, auf welcher Angelika, erhoben in ihrer Demuth, schon steht, und Sie werden zu meinem frühen Grabe mich hinleiten!«
In Thränen schwimmend, verbarg sie jezt ihr Gesicht am Busen der Tante, die, schmeichelnd und liebkosend, sie aufzurichten strebte. »Meine Vicktorine,« sprach sie, »mein geliebtes Kind, glaubst Du denn, ich wisse nicht, wie Schmerz oder Freude auf Jeden, seiner eignen Natur nach, verschieden wirken muß? oder denkst Du, ich wäre ungerecht genug, Allen Alles zuzumuthen? da doch das Maaß und die Art unsrer Kraft so verschieden sind? Nur können wir dieses Maaß nicht eher erkennen, bis wir erprobt haben, wie weit[131] es reicht. Und deshalb thut es mir immer weh, und macht mich sogar zuweilen unmuthig, was es nicht sollte, wenn ich sagen höre: das kann ich nicht, das ist mir unmöglich. Ach, wir können tausendmal mehr, als unsre feigherzige Trägheit uns eingestehen mag, wenn es uns nur mit dem Wollen ein rechter Ernst ist! Ich spreche aus Erfahrung, liebes Kind! oder denkst Du wirklich, weil ich jezt alt bin, ich habe nie jugendlich gefühlt, nie jugendlich gelitten, wie Du oder Angelika.?«
»Ach Tante, ich glaube es wohl,« erwiederte seufzend Vicktorine, »aber Ihre Jugendzeit war anders und besser als die unsere, und auch das Mädchenleben, in allen seinen Anforderungen und Begebnissen, war gewiß himmelweit von dem unsern verschieden. Daher kann ich mir recht wohl denken, daß auch Sie fühlten wie wir, aber ich kann nimmermehr glauben, daß der Schmerz so gewaltsam zerstörend Ihnen nah getreten sei. Seit Sie jung waren, hat sich alles anders gestaltet, und auch wir sind ganz anders ins Leben[132] hingestellt als Sie es waren. Bei Ihnen war Ruhe und Ordnung; wir aber schiffen auf bewegtem Meer, jauchzend werden wir von der hohen Brandung zum Hafen getragen, oder finden, von ihr zerschmettert, am nächsten Felsenriff' unser und unsrer Hoffnungen Grab. Jedes Lebensschiff ist jezt das Spiel der Windesbraut der Zeit, jede Bewegung ist Kampf.«
»Die Form mag sich freilich, seit ich jung war, sehr verändert haben,« erwiederte die Tante, »aber das innere Wesen der Dinge verändert sich nie, und der Glaube ist kindisch, wenn gleich ziemlich allgemein, daß die Welt, weil wir sie betreten, sich durchaus umgestalten mußte.« Vicktorine schwieg erröthend, und jene fuhr, sehr ernst werdend zu reden fort, indem sie auch Angelikas Hand ergriff, welche inzwischen wieder in das Zimmer gekommen war. »Kinder,« sprach Tante Anna, »ich bin nicht daran gewöhnt, viel von mir selbst zu reden, aber ich liebe Euch mütterlich und habe es in diesen Tagen recht ernstlich bei mir selbst überlegt: ob ich nicht wohl[133] daran thäte wenn ich Euch auch meine Jugend erzählte. Ich glaube, daß Dein Muth, meine Angelika, vielleicht gestärkt und erhöht wird, wenn Du an meinem Beispiele siehst, daß es ein noch herberes Leid geben kann als das Deine, und daß es dennoch möglich sei es zu tragen und dabei zu leben. Und Du, meine Vicktorine, kannst vielleicht lernen, daß die Liebe in Deinem jungen Herzen noch nicht das höchste Werk des alten Meisters ist, nicht die einzige Axe, um die für Dich die Welt sich drehen muß, und daß das, was Du dein Unglück nennst, nicht eine Art von Adelsbrief ist, der vor Andern Dich auszeichnet; denn wir alle wurden geboren zu lieben, zu leiden, und am Ende in stiller, frommer Ergebung unser wahres Glück zu finden. Den ersten Abend, an welchem wir Drei ruhig und allein bei einander sind, denke ich dieser ernsten Unterhaltung zu weihen, obgleich ich vielleicht nicht ganz gleichgültig und ohne Schmerz daran gehen werde, so manchen längst besiegten bösen Tag noch einmal in der Erinnerung zu durchleben.«
[134]
»Höre Babet,« fragte Agathe ihre Schwester, Abends beim Auskleiden, »wie gefällt dir Angelika?« »Ach, geh' mir mit der, die ist mir viel zu mattherzig,« erwiederte Babet verdrüslich. »Ja es ist wohl wahr, viel Leben hat das arme Ding freilich nicht,« erwiederte Agathe mit einem kleinen Achselzucken, aber gut muß man ihr doch sein. Sieh nur, was für ein großes Stück sie mir, während dem Vorlesen, an meiner Garnirung weiter half.«
»Die Tante hat doch wirklich viel Geschmack,« setzte Agathe nach einer kleinen Pause hinzu, während welcher sie das neue Kleid wohlgefällig betrachtete; »und sie ist dir auch noch sonst gar nicht so übel als wir anfangs meinten. Denk nur, sie weis alles von mir und dem Lieutnant, und dabei ist das das wunderlichste, daß ich ihr das meiste selbst erzählt habe; ich begreife noch bis diese Stunde nicht, wie ich dazu gekommen bin.«
»So? und was sagte sie denn dazu?« fragte Babet ganz trübseelig, denn sie überlas eben zum dreissigsten male des blonden Theodors Abschiedskarte,[135] die sie vorhin im Wohnzimmer heimlich vom Spiegel mit weggenommen hatte.
»Ach, es war recht wunderlich,« erwiederte Agathe, sie lachte und sagte: »nun mit diesem Herzchen hat es wohl fürs erste keine Noth, das nimmt es wohl noch mit einem ganzen Dutzend hübscher Blond- und Schwarz-Köpfe auf. War das nicht recht frivol gesprochen von einer so alten Person? Hernach aber ward sie auch wieder mit einemmale ganz ernsthaft, und gab mir gute Lehren, und sagte mir allerlei darüber, wie ich mich gegen den Schwarzen zu benehmen habe.«
»So hat sie Dich doch am Ende recht ausgescholten;« murmelte Babet vor sich hin.
»Gescholten? Ach nein, nicht sehr, nur ein ganz klein bischen,« antwortete Agathe, »und Du wirst es kaum glauben, aber es ist doch wahr, sie hat mir ganz von selbst versprochen, daß er zu der ersten Gesellschaft gebeten werden soll die wir geben, und das geht auch recht gut an, denn Visite hat er beim Onkel gemacht, ich habe selbst die Karte gesehen. Und dann soll er auch mich[136] zu Tische führen und neben mir sitzen dürfen, aber dafür mußte ich ihr auch versprechen, ihr nichts von dem zu verheimlichen was unter uns vorgeht.«
»Und das hast Du auch gethan?« fragte Babet. »Das wohl nicht,« war die Antwort, »ich habe ihr natürlicherweise gesagt, daß ich ihr unmöglich ein jedes Wort wiederklatschen könne, was wir beide miteinander reden, und damit war sie denn auch zufrieden. Sie lachte wieder recht von Herzen, und meinte denn, daß sie das auch gar nicht zu wissen verlange. Ich soll ihr nur nichts vorsätzlich verschweigen, und vor allen Dingen ihr gerade das sagen, wobei mir einfiele, daß ich es nicht gern sagen will. Das habe ich ihr denn endlich auch versprochen, denn ich denke, das kann mir doch einmal nützlich sein, da sie es doch so gut mit mir meint. Es ist mir auch selbst sogar lieb, daß ich doch jezt jemand Vernünftiges habe, mit dem ich alles überlegen kann, und der mir guten Rath giebt.«
»O du dummes Kind, dann ist ja bei der[137] ganzen Geschichte keine Freude mehr!« seufzte die trauernde Babet, sezte sich verdrüslich mit ihrer Karte in eine Ecke, Theodor und die Seeligkeit des letzten Kottillions fielen ihr wieder ein, und sie weinte bitterlich wohl eine Viertelstunde lang, bis sie zulezt darüber vor Betrübnis einschlief.
Wenige Tage später wurde eine neue berühmte Oper gegeben, und Babet und Agathe erhielten die Erlaubnis, der ersten Vorstellung derselben unter dem Schutze der Mamsell Virnot beizuwohnen. Seit Vicktorinens Krankheit hatten sie dieser Freude entbehrt, also lange genug, um ihr jezt mit Entzücken entgegen zu gehen, und so war denn der einsam ruhige Abend für die versprochne Lebensgeschichte der Tante gewonnen.
Im Zimmer herrschte mehrere Minuten lang eine fast andächtige Stille, welche weder Angelika, noch Vicktorine unterbrechen mochte; die Tante[138] sah so wehmüthig feierlich aus, indem sie sich, ohne ein Wort zu sprechen, in ihren Armstuhl niederlies. Deshalb verstummten auch beide Mädchen, und mochten aus Zartgefühl es gar nicht wagen, sie durch Worte oder Blicke an ein Versprechen zu erinnern, dessen Erfüllung ihr, wie sie selbst gestanden hatte, schmerzlich sein mußte. Doch es bedurfte bei ihr keiner Mahnung, denn nach einer kleinen Pause nahm sie, wenn gleich sichtbar beglommen, von selbst das Wort.
»Das ruhige Beieinandersein des heutigen Abends wollen wir benutzen, wie ich es Euch verheissen habe,« sprach sie; »aber mir ist doch sonderbar dabei zu Muthe, wahrscheinlich, weil ich nie gewohnt war, von mir selbst viel zu reden.«
»Ich wußte von jeher zu viel von der Welt, als daß ich hätte wünschen können daß sie viel von mir wissen möge und so seid Ihr denn die ersten, denen ich je von mir und der Geschichte meines Lebens Rechenschaft ablege. Meine Erzählung wird indessen doch lang sein, denn mein Leben war's. Es war doch auch mitunter recht[139] öde, recht schmerzenvoll, recht arm!« sezte die Tante, von ihrer Erinnerung unwillkührlich fortgerissen, hinzu, und sah dabei so trübe und schweigend vor sich hin, wie man einem bei sinkender Dämmerung sich entfernenden Gegenstande nachblickt.
Angelika rückte ihr leise näher, Vicktorine, heftig wie gewöhnlich, schloß sie in ihre Arme und rief, indem sie mit besorgter Theilnahme ihr ins Gesicht sah: »Tante, liebe Tante, wenn es Sie schmerzt« – doch diese wehrte sie freundlich von sich ab.
»Nicht doch,« sprach sie, »und wäre es auch! Ihr beide seid ja meine geliebten Töchter, und Mutterliebe achtet keiner Schmerzen. Es liegt doch auch wieder gewissermassen etwas Erfreuliches in dem Gefühle, mit welchem wir am Ende einer langen gefahrvollen Bahn den zurückgelegten Weg noch einmal überschauen, und die, welche ihn erst antreten wollen, durch unsre mühsam erworbne Erfahrung zu leiten suchen,« sezte die Tante nach einer kleinen Pause mit gefälligem,[140] wenn gleich anfangs etwas erzwungnem Lächeln hinzu. »Was ich Euch erzählen will, ist übrigens kein erheiterndes Mährchen, wie es für Euern jugendlichen Sinn sich passen möchte, aber mährchenhaft wird es Euch doch wohl zuweilen vorkommen, wenn Ihr die verfallne Gestalt der alten Tante anseht und sie dabei von jenem Zauber sprechen hört, dessen Nachhall ihr noch immer nicht verklungen ist. Von jenem Zauber,« fuhr die Tante mit feuriger Beredsamkeit fort, »von jenem Zauber, der bis in mein spätes Alter im Innern mich jung, im Aeussern mich kräftig erhielt; der alle Hyroglifen des Lebens am Ende mir herrlich auflöste, der, wenn gleich erst spät, im Schmerz, wie in der Freude, das hohe Geschenk eines Lebens mich recht würdigen lehrte, in welchem Gott uns die Liebe zur Begleiterin gab, die am Ende unsers Tagewerks freundlich mild, wie der Abendstern bei sinkender Nacht, uns zur Ruhestätte leuchtet, um uns beim Erwachen wieder zu empfangen.«[141]
Vicktorine und Angelika blickten gerührt auf die Tante. Indem diese so sprach, schien sie vor ihren Augen höher, schöner, jugendlicher zu werden, denn der erhebende Ausdruck vollkommner, seeliger Ruhe nach langer mühvoller Pilgerfahrt, verbreitete seinen verklärenden Zauberschein über ihre ganze Gestalt, so daß die Mädchen sie kaum wieder erkannten. Wie sie damals, mag vielleicht ein seeliger Geist die eben verlassne Erde und die geliebten Menschen auf ihr, noch einmal überschauen, eh' er den höhern Flug vollends aufwärts, der ewigen Heimath zuwendet.
»Es ist wunderbar, wie groß und breit und gewaltig die Kluft zwischen ehmals und jezt sich in diesem Momente vor mir ausbreitet, indem ich zurückblicke in meine Vergangenheit,« fuhr die Tante nach einer kleinen Pause sehr ernsthaft und nachsinnend fort. »Es wird in der That fast nöthig, daß ich einen Anlauf nehme, wie jeder gern thut, der im Begriffe steht einen grossen Sprung zu wagen; denn wahrlich! es ist ein Riesensatz von dieser Stunde an, bis zu der,[142] in welcher ich mein funfzehntes Jahr antrat. Daß ich auch einmal will funfzehn Jahre alt gewesen sein, kommt Euch wahrscheinlich schon ein wenig sonderbar und unglaublich vor,« sezte sie lächelnd hinzu, »aber gewiß, ich war es doch wirklich, obgleich mir dies selbst jezt wie ein Traum dünken will. Euch wird es einst nicht besser gehn, liebe Kinder, freilich wird dann der Hügel, unter dem ich ruhen werde, schon seit langen Jahren eingesunken sein, aber die Zeit kommt doch, und es wird euch auch dann ebenfalls scheinen, als habe sie dennoch Euch übereilt. Deshalb wollen wir aber für jezt der Eilenden nicht weiter vorgreifen, denn sie holt uns ohnedem schnell genug ein.«
»Seid ruhig, Kinder,« sprach die Tante, als beide Mädchen mit einem unendlich wehmüthigen Gefühl' ihre Hände ergriffen, und sie küßten; »seid ruhig, und laßt Euch nicht so von Andeutungen und Bildern erschrecken, welchen man in meinem Alter nur gar zu gern nachhängt, und denen man auch in dem Eurigen nie, wenigstens[143] nicht geflissentlich, aus dem Wege gehen sollte. Und nun bitte ich Euch, stört mich im Verfolg meiner Erzählung so wenig als möglich durch Einreden jeder Art, und laßt mich fürs erste den bewußten Anlauf zum Anfange derselben nehmen, indem ich Euch ein Bild unsers häuslichen und geselligen Lebens leicht hinskizzire, so wie es damals bestand, als ich vor einigen und vierzig Jahren aus der Kinderstube in die Mädchenwelt eingeführt wurde.
In jener, Euch so ferne liegenden Zeit war das Leben von Euresgleichen beides, reicher, und ärmer als das Eure. Aermer, unendlich ärmer an Willkühr und Freiheit; an Ueberfluß und Mannigfaltigkeit der Vergnügungen reicher; viel reicher an wahrem reinen Genuß; denn eben jener Ueberfluß, dessen Ihr Euch rühmt, ermüdet am Ende, und die Seltenheit war ja von jeher die beste Würze unsrer Freuden.
Dieses Lob meiner Zeit kommt Euch etwas sofistisch vor? nun so werdet Ihr doch wenigstens gewiß einen zweiten Vorzug für voll gelten lassen,[144] den Eure Grosmütter vor Euch voraus hatten, und von dem, wie die Welt jezt steht, fast keine Spur übrig geblieben ist; ich meine hiermit jene allgemeine, zarte Aufmerksamkeit, jene an Ehrfurcht gränzende Hochachtung, jene, an die Zeiten alter Chevallerie erinnernde und aus diesen abstammende, ehrerbietige Galanterie, welche damals von allen gebildeten Männern unserem Geschlechte gezollt ward. Wenn wir einmal in der Gesellschaft erschienen, was freilich weit seltner geschah als jezt, so traten wir gleich kleinen Fürstinnen einher, von einem Gefolge umgeben, das jedem unsrer Wünsche mit zuvorkommendem Eifer entgegen flog. Mit Euch, Ihr guten Kinder, dünken sich die jetzigen Männer wenigstens auf gleichem Fuß, und glauben damit schon ein Uebriges für Euch gethan zu haben. Daran aber seid Ihr selbst schuld, denn Ihr habt Euch auf glattem Boden neben sie hingestellt. Ich möchte uns, in unserem damaligen Verhältniß zur männlichen Welt am liebsten mit seltnen Blumen vergleichen, die mit Sorgfalt in einem verschlossnen[145] Gewächshaus' aufbewahrt werden, zu denen man deshalb gern Zutritt zu erhalten sucht, und sie in der Nähe zu bewundern wünscht. Ihr aber wachst und blüht in der Freiheit, vielleicht nur um so üppiger und schöner, aber Ihr steht in einem, aller Welt offnen, lustigen Garten, in welchem man ohne Rückhalt Euch nahen darf. Was man aber täglich mühelos sehen kann, verliert am Ende den höchsten Reitz, den der Neuheit; man gewöhnt sich bald genug, achtlos daran vorüber zu wandeln, und leider geht darüber manche köstliche Pflanze unbemerkt zu Grunde, oder wird wohl gar im Gedränge zerknickt und zertreten.
Indessen will ich nicht ableugnen, daß wir Euch um eure jetzige größere Freiheit wahrscheinlich würden beneidet haben, wenn wir uns eine solche nur recht lebhaft hätten denken können. Das war aber bei unsern beschränkteren Begriffen vom Leben und unsrer, durch unser Verhältniß herbeigeführten furchtsamen Bescheidenheit nicht wohl möglich. Auch muß ich gestehen, daß wir[146] einen großen Theil unsrer damaligen vornehmen Grandezza mit unsäglichem schmerzlichem Zwange, mit hohen Absätzen an den Schuhen, mit breiten steifen Fischbeinröcken, mit Harnisch ähnlichen Schnürbrüsten theuer genug erkaufen mußten. Im vollkommensten Gegensatze mit dem jezt üblichen, war unser Anzug hauptsächlich darauf berechnet, unsre Gestalt bis zum unkenntlichen zu maskiren. Jede von uns war ein wandelndes Räthsel, von der Spitze des kleinen, mit Flittern gestickten Atlas-Kothurns, welchen blitzende Steinschnallen noch verherrlichten, bis zu dem Wipfel des hochaufgethürmten Haarschmucks, der obendrein den ganzen Tag über unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, weil jeder Luftzug, jede zu rasche Bewegung des Kopfes dem zarten Puderreif' Untergang drohte. Der zärtlichste Liebhaber konnte nicht einmal in jener Zeit über die Farbe der Haare seiner Schönen zu einiger Gewisheit gelangen, denn der gelbe Puder machte die Braune der Blonden ganz ähnlich. Die Kleine hob sich vermittelst höherer Absätze an den Schuhen zur mittleren[147] Grösse hinauf, und die Wespenartig zusammengeschnürte Taille, die in unbegreifliche Breite ausgehenden Fischbein Röcke gaben Allen die nämliche Form, aus welcher kein sterbliches Auge die wahre menschliche Gestalt heraus finden konnte.
Ihr lacht über die wunderliche Figur, die wir spielten? Ich glaube, ich müßte selbst lachen, wenn ich mich noch einmal in meinem damaligen Putz' erblicken sollte, und doch galten die Schönen unter uns deshalb nicht für minder schön, und die Häslichen gewannen noch bei dieser allgemeinen Vermummung, denn sie giengen in der Maske mit durch, die sich obendrein auf das vollkommenste dazu eignete, kleine Mängel zu verbergen.
Ein sehr karackteristisches Unterscheidungszeichen jener Zeit bestand auch darin, daß wir Alle damals Zeit hatten, zu Allem was uns oblag oder was wir unternehmen wollten zu vollbringen. Die jezt so allgemeine Klage über Mangel derselben hörte ich in meiner Jugend fast nie, und der ganz einfache Grund hiervon war der, daß wir[148] viel mehr zu Hause blieben als die jezige Generazion. Morgenbesuche und Morgenpromenaden waren etwas so Ungewöhnliches, daß ich wohl darauf wetten möchte, meine Mutter sei nicht dreimal in ihrem Leben Vormittags ausgegangen, ausser in die Kirche. Indessen möchte ich diese grössre Häuslichkeit meinem Zeitalter nicht ganz zur Tugend anrechnen, eine gewisse unbeholfne Steifheit der Sitten und Gewohnheiten hatte auch Theil daran. Man scheute nichts so sehr, als Bekannten, sogar Freunden sich und sein Haus anders als im vollen Putze zu zeigen. Ein unerwarteter Besuch, der uns im Hauskleide oder bei häuslichen Beschäftigungen überraschte, erregte gewöhnlich eben so viel Verwunderung als Unmuth, und nur eine sehr wichtige Veranlassung konnte einem solchen Ueberfalle zur Entschuldigung dienen.
Daß wir, ohne gegen alle Regeln des Anstandes zu sündigen, weder im Theater, noch auf der Promenade, noch überhaupt an einem öffentlichen Orte ohne einen männlichen Begleiter erscheinen[149] durften, diente auch gar sehr dazu, uns das Ausgehen zu erschweren. Denn obgleich zu dieser Gewohnheit die zum Dienste der Damen allzeit bereitwillige Galanterie der Männer wahrscheinlich den ersten Anlaß gegeben haben mochte, so waren doch die unter ihnen, von welchen wir uns anständigerweise eskortiren lassen konnten, nicht immer müssig, zuweilen auch nicht gefällig genug, um stets zur Hand zu sein, wenn wir ihrer bedurften. Uebrigens spreche ich hier nur von den Frauen; junge Mädchen sezten keinen Fuß auf die Strasse, als unter dem Schutz' ihrer Mütter.
Alles, alles, was uns umgab, Lebloses und Belebtes, strebte damals zu einem gewissen formellen Wesen hin, welches gegen die jetzige zwanglose Lebensweise sehr wundersam absticht. Bei den fein geschnitzten und à quatre couleurs vergoldeten sehr zerbrechlichen Stühlen unsrer Putzzimmer, war an kein Anlehnen zu denken; die zu den Stühlen passenden schmalen Kanapees hatten nur die Aehnlichkeit mit unsern jezigen[150] damals noch ganz unbekannten Sofas, daß sie, wie diese, als Ehrenplatz manchen Rangstreit unter den Damen veranlaßten, übrigens boten sie durchaus keine Bequemlichkeit für die jezt so beliebte liegende Stellung, die damals in gesunden Tagen etwas Unerhörtes war.
Auch weis ich nicht, wie man diese mit dem ganzen damaligen Anzuge, dem Reifrocke der gepuderten Frisur hätte vereinigen können; wir hielten uns gerade, wie ich noch immer aus alter Gewohnheit thue, und ohne es weiter unbequem zu finden.
Mit dieser körperlich geraden Haltung hieng aber auch, sogar im engsten Familienkreise, ein sehr genaues Beobachten der einmal angenommenen Höflichkeitsregeln gegen seines Gleichen, und der abgemessensten Ehrfurcht gegen Höhere zusammen, die ich jezt, ich mag es nicht leugnen, zuweilen recht schmerzlich vermisse, weil die jetzige Welt dergleichen als steifes überflüssiges Zeremoniell heut zu Tage verachtet. Die zierliche, vom Tanzmeister zu diesem Zweck erlernte Verneigung[151] an der Thüre, mit der ich täglich meine Eltern zuerst begrüßte, ehe ich näher trat und jedem von ihnen besonders mit feierlicher Ehrerbietung den guten Morgen bot, würde jezt freilich lächerlich erscheinen; doch der Mensch ist ein Kind der Gewohnheit, und wem man am Morgen so ehrfurchtsvoll sich nähert, gegen den wird man schwerlich im Laufe des Tages bis zum heftigsten Widerspruch' oder zu andern Unziemlichkeiten sich vergessen, wie doch jezt von Kindern gegen ihre Eltern nur zu oft geschieht. Die Eltern nach jetziger Art Du zu nennen, hätte damals gewiß für eine Art von Blasphemie gegolten, nur bei ganz kleinen Kindern höchstens ward dieses geduldet, und doch wurden Vater und Mutter gewis nicht weniger geliebt, als jezt. Ich hieng an den meinigen mit so liebevollem reinem Vertrauen, daß ich unmöglich glauben kann, der jezt zwischen Eltern und Kindern herrschende Ton vollkommener Gleichheit hätte dieses Gefühl erhöhen können; wohl aber kann ich es nicht ableugnen, daß er in einigen Fällen[152] und mit gewissen Modulazionen mich jezt oft verletzt.
Mein Vater lebte eine lange Reihe von Jahren hindurch in dieser freien Reichsstadt als königlich ***scher Resident in Ehre und Ansehen. Als der jüngere Sohn einer sehr alten Familie, in welcher das Majoratsrecht galt, war er nicht reich, um so weniger, da auch meine Mutter ihm kein bedeutendes Vermögen zugebracht hatte. Die Einkünfte meiner Eltern, verbunden mit der Besoldung meines Vaters, reichten daher nur eben hin, um bei Sparsamkeit und Ordnung mit Anstand davon leben zu können; freilich aber gehörte vor funfzig bis sechzig Jahren weit weniger dazu als heut zu Tage. Damals herrschte, selbst in den reichsten Häusern dieser Stadt eine gewisse frugale Mässigkeit, die man jezt vielleicht Geitz und Mesquinerie schelten würde; tausend Erfindungen des Luxus, welche wir ohne Bedenken dem Unentbehrlichen zu zählen, waren in jener Zeit völlig unbekannt; man wohnte weit enger zusammengedrängt, man brauchte viel weniger[153] Bedienung und hatte durchaus keine kostspieligen Fantasien zu befriedigen.
Bei alle dem aber hielt man dennoch viel auf eine gewisse solide, wenn gleich etwas schwerfällige Pracht, in der Kleidung sowohl, als in allen übrigen Umgebungen. Wenigstens zweimal im Jahre mußte der im alltäglichen Leben sehr mäßig besetzte Tisch unter der Last des schweren Silbergeschirres, der kostbarsten Weine, der ausgesuchtesten Speisen, sich seufzend beugen, und so viele Gäste, als der Saal nur zu fassen vermochte, saßen im feierlichsten Putze, starrend von Gold und Edelsteinen, um ihn her, alle von dem sorgsamen Herrn des Hauses nach Rang und Würden auf das gewissenhafteste geordnet. Dieser sowohl, als seine Frau sahen bei einem solchen Feste wie Leute aus, die einer an sich ehrenvollen, aber doch nicht ganz leichten Pflicht sich so gut als möglich zu entledigen suchen, und auch die Gesichter der Gäste zeigten im Ganzen mehr den Ausdruck einer höflichen Resignazion, als den des Vergnügens; denn an einer dreistündigen[154] Sitzung an der Tafel vermochten doch nur sehr wenige sich wirklich zu erfreuen. Eigentlich war aber auch von geselligen Vergnügungen bei einer solchen formellen Abspeisung nie sonderlich die Rede; niemand machte Ansprüche daran und im Ganzen gieng es sehr still dabei her. Die Frauen beobachteten alles, zählten Schüsseln und Assietten, und überlegten, wie sie bei ihrem eignen nächsten Gastmahle deren noch ein paar mehr anbringen könnten; die Männer assen, tranken, und liessen gegen das Ende der Mahlzeit ihren Witz in Ausbringung schalkhafter Gesundheiten leuchten. Alle aber, die Wirthe wie die Gäste, dankten Gott, wenn wieder einmal ein solches Vergnügen überstanden war.
So sah es zu jener Zeit mit dem geselligen Vergnügen bei uns aus. Freilich hatte mein Vater im Auslande, besonders in Frankreich, eine leichtere und genusreichere Lebensweise kennen gelernt, doch er fühlte die Verpflichtung, sich nach den Gebräuchen des Ortes zu richten, in welchem er eine gastlich-freundliche Aufnahme[155] fand; überdem war er auch zu vernünftig, um gegen den Strom schwimmen zu wollen, was damals noch mit ganz besonderer Schwierigkeit verbunden war. Die Welt war gegen Sonderlinge und Neuerungssüchtige bei weitem nicht so tolerant als jezt, wo in jedem Winkel und auf jeder Schulbank Weltverbesserer mit grandiosen Ansichten sitzen, die alle ihr gläubiges Publikum finden. Jener Ausspruch: »Du Narr willst klüger sein als wir!« mit welchem die ungebildeten Brüder von Gellerts tanzenden Bären diesen aus ihrer Mitte vertrieben, war damals noch in voller Kraft und ganz an der Tagesordnung.
Mein Vater ließ es sich also gar nicht beikommen, an der Lebensweise seiner Freunde und Bekannten das mindeste abändern zu wollen; er nahm an ihren Festen willigen Antheil, aber er hüthete sich zugleich gar sehr davor, sich mit den reichen Handelsherren, in deren Mitte er lebte, in einen Wettstreit einzulassen, bei dem er entweder mit Schande bestehen, oder sich und die Seinen zu Grunde richten mußte. Daher versammelte[156] er in seinem Hause und an seinem mit anständiger Mässigkeit besezten Tische nur immer eine kleine Anzahl mit Auswahl zusammengebetener Gäste und das seltne Talent meiner Mutter, mit sehr Wenigem viel hervorzubringen, machte es uns leicht, diese kleinen Gastmahle ziemlich oft zu wiederholen. Die Ordnungsliebe der theuren Frau, der Scharfblick mit dem sie Alles von ihr mit Sorgfalt Aufbewahrte stets am rechten Orte zu benutzen verstand, gaben bei möglichster Ersparniß unserem Haushalte das Ansehen einer damals hier noch unbekannten Eleganz. Zwar nannte man unsre Lebensweise wohl zuweilen vornehm, aber man verzieh sie uns doch, weil man das Bewußtsein dabei behielt, uns an Reichthum und Pracht zu übertreffen. Man lebte sogar recht gern mit uns, weil meine Eltern mit dem Ausdrucke des herzlichsten Wohlwollens ächte Höflichkeit und jenen feinen geselligen Tackt verbanden, der uns lehrt, alles zu meiden, was auch den Geringsten in der Gesellschaft verletzen könnte und jedes so zu verstehen wie es gemeint ward.[157] Mein Vater hatte sich diese Eigenschaften früher im Leben mit der Welt erworben, meiner wahrhaft liebenswürdigen anspruchslosen Mutter waren sie angeboren, und so erfreuten sich beide lange Jahre hindurch der Achtung und Liebe eines, aus ziemlich heterogenen Gestalten zusammengesetzten Kreises, dessen Mittelpunct sie waren, ohne je nach dieser Ehre gestrebt zu haben.
Zwölf Jahre hindurch blieb ich das einzige Kind meiner Eltern, und genoß im Uebermaaße alles Glück und Unglück eines solchen, bis deine Mutter, liebe Vicktorine, geboren ward. Ich war von der Natur, sowohl geistig als körperlich mit den glücklichsten Anlagen ausgestattet, und meine Eltern sorgten auf das angelegentlichste für die fernere Ausbildung derselben; ja ich darf wohl sagen, daß mein Vater, ganz gegen seine sonstige Art, verschwenderisch wurde, sobald es darauf ankam, irgend ein in mir schlummerndes Talent an das Licht zu rufen. So sorgsam er sonst alle neue fortlaufende Ausgaben vorher berechnete, so ernstlich er jede nicht durchaus nothwendige[158] vermied, so sparte er doch nichts, um mir die ersten Lehrer in allem zu verschaffen wozu ich Lust oder Anlagen zeigte. Man hielt mir ganz gegen die damalige Gewohnheit, keine französische Gouvernante, ich ward auch in keiner Pensionsanstalt erzogen, denn meine Mutter hatte gegen beide Erziehungsmethoden einen unüberwindlichen Widerwillen, doch meine Eltern ersetzten dies überschwenglich durch die treue Aufmerksamkeit, mit der sie selbst über den Unterricht ihres Lieblings wachten.
So machte ich denn in früher Jugend nicht ganz unbedeutende Fortschritte in der Musick, im Zeichnen und Miniaturmalen, in allem, worin nach der Meinung der jetzigen Zeit ein Mädchen unterrichtet werden muß, und schritt damit weit über die Gränze der damals gewöhnlichen Begriffe von weiblicher Erziehung hinaus. Diese drehte sich in einem weit engern Kreise herum, und die Kunstübungen eines Mädchens jener Zeit beschränkten sich gewöhnlich auf ein paar leidlich hergeklimperte Polonaisen, ein paar mühseelig durchgezeichnete[159] Stickmuster höchstens auf ein ängstlich getuschtes Landschäftchen nach irgend einem Kupferstiche. Die mir angeborne Leichtigkeit, mit der ich fremde Sprachen erlernte, bewog unter andern meinen Vater, mir auch in der englischen und italienischen Sprache selbst Unterricht zu ertheilen. Französisch war ohnehin unsre tägliche Haussprache; sobald wir unter uns allein waren, sprachen wir keine andere, denn dies war damals fast in allen adlichen Familien so der Gebrauch. Mein Vater zog diese Sprache jeder andern vor, weil von ihr zu seiner Zeit nicht nur seine, sondern auch die geistige Bildung aller derer ausgieng, die sich nicht geradezu dem eigentlichen Gelehrtenstande widmen wollten, und die klassischen Schriftsteller der Franzosen blieben ihm zeitlebens die liebsten, ich könnte wohl sagen, die einzigen, die er las. Von der deutschen schönen Litteratur hatte er in seiner Jugend nur wenig kennen gelernt, und dies wenige war ihm nicht erfreulich gewesen, wie es denn auch in jener, trüben Gottschedischen Zeit einem Geiste wie dem[160] seinigen nicht zusagen konnte. Daher blieb ihm ein unüberwindliches Vorurtheil gegen alle deutsche Schriftsteller, besonders gegen die deutschen Poeten, welches er mit fast allen damals lebenden, gebildeten Männern theilte, die darin dem Beispiele Königs Friedrichs des zweiten folgten. Auch ich lernte deshalb erst spät die Schätze meines eigenen Volcks kennen, obgleich um die Zeit, da ich geboren ward, schon die hellstrahlende Morgenröthe am deutschen Kunsthimmel den glorreichen Tag verkündete, der jezt uns leuchtet.
Mehr als aller meiner übrigen guten Anlagen erfreute sich mein Vater jenes unserm Geschlechte eignen leichten Auffassungsvermögens, mit dessen Hülfe wir spielend errathen, was die Männer mühsam erlernen, und durch welches ich besonders mich auszeichnete.
Diese den Frauen ganz eigenthümliche Gabe könnte uns fast verleiten, an gute, oder doch wenigstens gut gelaunte Feen zu glauben, die ihren Lieblingen schon in der Wiege eine ganz eigne Gewandtheit verleihen, welche sie fähig[161] macht, von allem für sie passenden Wissenswerthen sich wenigstens die schimmernde Oberfläche anzueignen. Ohne tiefer ins Reich der Wissenschaften einzudringen, oder auch nur eindringen zu wollen, umschwärmen diese vor andern Begünstigten auf leichtem Fittig die Blüthen und lassen den Männern gern das mühsame Geschäft, im Schweise ihres Angesichts den Wurzeln nachzugraben. Auch sind sie nicht nur fähig, sich zu freuen, wenn kluge Männer reden, weil sie verstehen wie sie's meinen, sondern sie wagen es zuweilen im scherzenden Uebermuth, mit glücklicher Keckheit sich neben diese klugen Männer hinzustellen, und sie durch die ihnen beiwohnende Zauberkraft mitunter selbst ein wenig irre zu machen.
Diese geistige Geschmeidigkeit ist aber dennoch für die, welche sie besitzen, beiweitem nicht gefahrlos, und sollte nach meiner jetzigen Ansicht wohl eher in Schranken gehalten, als geübt und bewundert werden. Doch mein Vater war hierin andrer Meinung. Ihm galt anspruchslose, heitre Liebenswürdigkeit zu Hause wie in der Welt für[162] eine der ersten Eigenschaften meines Geschlechts; er hielt dafür, daß wir, um zu dieser zu gelangen, wohl einer höheren Geistesbildung, aber durchaus keiner Gelehrsamkeit bedürften, die er geneigt war, eher für ein Hindernis anzusehen. Daher belächelte er mit wahrer Lust meine kleinen wissenschaftlichen Scharlatanerien und lies mich gewähren.
Während meine geistige Entwickelung auf diese Weise meinen Vater ergözte und beschäftigte, sorgte meine gute trefliche Mutter auf seinen Antrieb dafür, mir durch frühe Gewöhnung die möglichste Unabhängigkeit von allen jenen unbedeutenden Kleinigkeiten zu verschaffen, die so oft den ausgezeichnetsten Frauen quälende Fesseln anlegen. So wie ich heranwuchs, brachte sie durch Lehre und Beispiel mich dahin, daß ich weder des Schneiders, noch der Putzmacherin bedurfte. Selbst die Kammerjungfer und den Friseur lernte ich im Fall der Noth entbehren, und das war damals keine Kleinigkeit.[163]
Auf diese Weise glaubte mein Vater, geistig und körperlich am besten für meine Zukunft mich auszustatten, möge diese mich nun in die Welt führen, oder in die Einsamkeit meines Stiftes. Denn schon damals trug ich dieses Ordenskreuz, als Geschenk einer fürstlichen Pathe, bei welcher meine Grosmutter einst Hofdame gewesen war, und es gab meinem Vater keine geringe Beruhigung, mich dadurch gegen die Stürme des Lebens einigermassen gesichert zu wissen.
So blühte ich denn allmählig heran, im schönsten Verhältnisse zu meinen Eltern, gleich glücklich in der äussern, wie in meiner mir selbst geschaffnen innern Welt; denn auch diese fehlte mir nicht. Lesen war damals zwar nicht das unentbehrliche Bedürfnis jedes Alters, jedes Geschlechts und jedes Standes, was es jezt ist. Die Mütter mußten sogar noch zuweilen ihre Töchter ermahnen, endlich einmal ein Buch in die Hand zu nehmen, statt daß sie in unsern jetzigen Tagen über das viele Lesen sich ereifern, und es nicht ganz mit Unrecht einen geschäftigen Müssiggang[164] schelten. Indessen habe ich doch ziemlich früh angefangen, Romane zu lesen. Mein Vater verbot es mir nicht, wie er denn überhaupt vom Verbieten nicht viel hielt, aber er bewachte doch die Wahl meiner Lektüre, und hüthete mich besonders vor den französischen Romanen jener Zeit, deren verderbliche Tendenz, unerachtet seiner Vorliebe für ihre Verfasser, er sich dennoch nicht verbarg.
Indessen war es in meiner Jugend weit schwerer als jezt, sich eine unterhaltende Lektüre zu verschaffen. Lesbare, deutsche Romane fanden sich fast eben so selten, als Leihbibliotheken, die man kaum dem Namen nach kannte. Man behalf sich damals aus Noth wie jezt aus Wahl mit Uebersetzungen aus dem Englischen, und ich erinnere mich noch lebhaft des Entzückens, mit welchem ich im Schranke der Mutter einer meiner Gespielinnen eine lange Reihe Bücher entdeckte, die unter dem Titel einer Landbibliothek eine Anzahl solcher übersetzten Romane vereinigte.[165]
Hier lernte ich denn unzählige Lords und Ladies, Sirs und Misses kennen, deren Thaten und Leiden mit der, den Romanschreibern jener Nazion noch bis diese Stunde eignen Breite und Weitschweifigkeit uns bis auf die geringsten Details vorgeführt wurden, sogar bis auf die Farbe des Kleides, welches die Heldin oder der Held bei wichtigen Gelegenheiten trugen. Vor allem aber wurden die Hochzeitkleider nicht nur des endlich beglückten Brautpaars, sondern auch die der vornehmsten anwesenden Gäste nie vergessen. Ich las das alles mit einer Wonne, von der ihr Uebersättigten keinen Begriff haben könnt, denn ich war nicht unbeschränkt wie ihr im Gebrauch meiner Zeit. Hatte ich ein solches bändereiches Werk vollendet, so war mir so einsam zu Muthe, als sei ein sehr lieber interessanter, lange da gewesener Besuch wieder abgereist.
Ich freute mich die ganze Woche hindurch auf den Sonntag Nachmittag, wo ich meinem Lieblingsgenusse mich am ungestörtesten hingeben durfte, und obgleich ich vor Ungeduld nach der[166] Entwicklung brannte, so las ich doch immer langsamer, wenn ich sah, daß der Band zum Ende sich neigte, um mir dadurch die Freude zu verlängern.
Richardsons Romane entzückten mich ganz unbeschreiblich, gerade wegen ihrer Weitschweifigkeit, obgleich ich dem Tugendspiegel Sir Charles Grandison keinen sonderlichen Geschmack abgewinnen konnte und der brillante Bösewicht Lovelace mir tausendmal besser gefiel. Jezt sehe ich wohl ein, daß gerade die Werke dieses berühmten Schriftstellers sich sehr schlecht dazu eigneten, einem kaum zwölfjährigen Mädchen in die Hände gegeben zu werden, aber sie hatten einmal die allgemeine Stimme für sich. War doch sogar in England die mehr als zweideutige Pamela dem Volke von der Kanzel als Erbauungsbuch angepriesen worden. Ueberdem verlies mein Vater sich auf meine Unschuld, und das mit Recht; er war überzeugt, daß ich in meiner glücklichen Unbefangenheit das für mich Unpassende entweder[167] übersehen, oder nicht verstehen würde, und seine Erwartung trog ihn nicht.
Meine jugendliche, oder vielmehr kindische Fantasie blieb indessen bei alle diesem nicht müssig. Mein Kopf war voll von Entführungen, Maskeraden, gewaltsam erzwungner Trauungen, diesen Apparat der damaligen englischen Romanschreiber, die eben wie jezt ihre jüngern Brüder, sich immer gern wiederholten und alles so ziemlich über einen Leisten formten. Das alles suchte ich nun in Gedanken mir selbst anzupassen; mein Held war ein Ungeheuer von Tugend, Tapferkeit, Edelmuth und Liebenswürdigkeit, Grandison und Lovelace in einer Person. Ich selbst war eine höchst gefährliche Schönheit, die in steter Angst vor den Verfolgungen ihrer wüthenden Anbeter lebte. Bei alle dem aber blieb ich ein gutes Kind, lernte meine Lexionen, strickte meine Strümpfe, nähte meine Wäsche, half meiner Mutter im Hauswesen, und niemand sah mir an, welche Wunder in meinem Köpfchen herumspuckten.[168]
Jenes fantastische Spielwerk war nur eine Ergötzlichkeit in müssigen Stunden; mein Held hatte noch gar keine Gestalt und konnte keine haben, denn ich wußte keine ihm zu geben. Da ich noch nicht confirmirt war, so durfte ich noch nicht in der Welt erscheinen und kannte daher nur wenige junge Männer, die aber, welche ich kannte, gefielen mir nicht, hauptsächlich wohl, weil sie von mir noch keine Notiz nahmen.
Die empfindsame Siegwarts-Periode, die bald darauf eintrat, gieng ziemlich spurlos an mir vorüber. Zwar versuchte ich es ebenfalls, Vergißmeinnicht zu pflücken, und mit dem bleichen Monde einen Verkehr anzuspinnen, und das gieng auch in so weit recht gut von statten; nur die Leiden machten mir Noth. Ich wußte dem blassen Freunde nichts zu klagen und war zu gesund und ehrlich, um mit Glück dergleichen erfinden zu können. Daher gab ich die ganze Sache bald auf und ward aus einer pinselnden deutschen Romanheldin wieder eine stolze, englische Schönheit.[169]
Einen weit grössern Eindruck als Siegwart machten auf mich Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen, die auch um jene Zeit erschienen. Die theologischen Abhandlungen und Contraversen, welche dieses Buch enthielt, überschlug ich, das versteht sich von selbst; aber es belustigte mich sehr, zum erstenmal' in meinem Leben gute alte Bekannte in meinen Büchern zu finden. Die englischen Lords und Ladies waren mir niemals wie recht lebendige Personen vorgekommen, obgleich ich es nicht ableugnen mag, daß sie mir vielleicht nur deshalb um so interessanter erschienen, weil meine Fantasie um so freier mit ihnen schalten und walten durfte. Die Herren Puff und Consorten hingegen sah ich zuweilen am Tische meiner Eltern, und gleich Oelenschlägers Correggio, da er das erste niederländische Bild erblickt, gerieth ich darüber in freudige Verwunderung, daß man auch so etwas malen könne.
Endlich stand ich in meinem vierzehnten Jahre, nahe an der Gränze des jungfräulichen Alters; da trübte zum erstenmal die schwere Hand des[170] Unglücks mein fröhliches sorgloses Dasein. Ich verlor meine gute, liebe, herrliche Mutter, gerade in dem Zeitpuncte, da ich ihrer milden leitenden Hand am nöthigsten bedurft hätte. Sie entschlief sanft und still wie sie lebte. Es raubte sie uns ein schleichendes Uebel, das seit der Geburt meiner Schwester langsam und fast unmerkbar verzehrend, an ihrem Leben genagt hatte, bis sie ohne Klage in sich zusammensank, während wir uns mit den schönsten Hoffnungen ihrer nahen vollkommnen Genesung schmeichelten. Ausser mir vor Schrecken und Schmerz stand ich, ein halbes Kind noch, an ihrem Sarge, in dem nehmlichen Saale, wo wir vor wenig Tagen noch so froh mit ihr gewesen waren, und dessen ringsum schwarzbekleidete Wände ich jezt kaum wieder erkannte. Ich hielt mein armes kleines Schwesterchen auf dem Arme, das in kindlicher Unschuld die vielen Lichter anlächelte, welche zum leztenmal die theure bleiche verstummte Gestalt beleuchteten. Neben mir stand mein trostloser Vater; zum erstenmale sah ich die Thränen eines Mannes,[171] es war mir unbeschreiblich furchtbar, ihn laut weinen zu sehen; wie ein unnatürliches Wunder kam es mir vor und all' mein Blut erstarrte mir in den Adern. Ohnehin eignete sich der ganze Trauerapparat jener Zeit auf das vollkommenste dazu, den innern zerreissenden Schmerz durch die äussere Erscheinung bis zum Unerträglichen zu steigern. Nicht nur der Vater und wir Kinder, auch alle Bedienten des Hauses waren in schwarzen Krepp gehüllt, den langnachschleppenden Schleier, die breite schwarze Schneppenbinde, die nur das Gesicht frei lies, durfte ich während der ersten Wochen sogar nicht im Hause ablegen. Bis nach dem Begräbnistage waren alle Fenster des Hauses dicht verschlossen, Wohnzimmer, Treppen und Vorsaal schwarz umhangen, und die schwarz gekleideten Leute alle schlichen mit unhörbarem Tritt, Gespenstern gleich, durch die düstre Dämmerung. So wollte es nicht nur unser Schmerz, so wollte es auch die damalige Sitte.
Ach und wenn ich mitten in dieser düstern Pracht das bleiche liebe Gesicht meiner Mutter im[172] Sarge ansah! wie war das Bild des Todes so furchtbar vor meine junge Seele getreten, ich wollte vor Schmerz und Grauen dabei vergehen, ich meinte, nie wieder froh werden zu können und ward es doch; denn die Macht der Zeit überwindet alles, besonders wenn Jugend sie unterstüzt. Ich muß sogar bekennen, daß ich früher wieder ruhig und heiter ward, als ich mir selbst es gestehen mochte: ich sei es.
Auch mein Vater gewann bald Fassung genug, um seinen Verlust zu ertragen, obgleich er nie lernte ihn zu verschmerzen, denn er hatte meine Mutter unendlich lieb gehabt. Sie selbst mit ihrem reinen weichen Herzen, mit ihrem klaren bescheidnen Sinne war, nach Art der bessern Frauen jener Zeit, stets nur der anmuthigste Nachhall seines freieren kräftigeren Wesens. Ihr Gemal war ihre sichtbare Gottheit auf Erden. Mein Mann hat es gesagt, oder: der Herr hat es befohlen, galten ihr, ersteres in der Gesellschaft, das zweite im Hause, für Gründe und Aussprüche gegen die, ihrer Meinung nach, kein Vernünftiger etwas[173] einwenden konnte. Und dennoch war sie fern von jeder sklavischen Unterwürfigkeit; es war nur ihrem liebenden Herzen unmöglich, sich etwas Höheres und Besseres zu denken, als ihren Gatten.
Alle Sorgfalt und Liebe meines Vaters ward von nun an mir doppelt und dreifach zugewendet. Mein kleines Schwesterchen konnte er nur mit stiller Wehmuth betrachten. Es blieb im Hause unter der Aufsicht einer alten Wärterin. Diese hatte auch meine hülflose Kindheit einst gepflegt, und sich durch vierundzwanzig jährige treue Dienste das Recht erworben, als ein Mitglied unserer Familie betrachtet zu werden, dem es zuweilen erlaubt wurde, bei bedeutenden Angelegenheiten derselben ein Wort mit zu reden.
Meine Konfirmazion war durch den Tod meiner Mutter auf einige Monate hinausgeschoben worden und dieser bedeutende Schritt ins Leben wurde, abgesehen von jeder andern höheren Ansicht desselben, in meinem jetzigen verlassnen und verwaiseten Zustande doppelt wichtig für mich. Denn von jenem Moment an ward ich nicht nur[174] als ein selbstständiges Mitglied der Gesellschaft betrachtet, ich trat auch zugleich an die Spitze unseres nicht unbedeutenden Haushalts und nahm die Verpflichtung auf mich, hier nach Kräften die Stelle meiner verewigten Mutter zu ersetzen.
Seit ich die Heftigkeit des ersten Schmerzes über den Verlust meiner Mutter überwunden hatte, war mir das Unersetzliche derselben nie wieder so herzzerreissend aufgefallen, als in dem Augenblick, da ich nach jener religiösen Feierlichkeit zuerst wieder unser vereinsamtes Haus betrat. Ich sehnte mich ganz unbeschreiblich nach einem Paar mich umfangender Arme, nach einem Herzen, an das ich mit vollem Vertrauen das meine legen könnte, aber ich blieb einsam. Ich befand mich in einer ganz eignen nie zuvor gekannten Stimmung des Gemüths. Dieses war bewegt von der heiligen Handlung, von der ich eben zurück kam, aber es war nicht in seinen Tiefen ergriffen, es war nicht erwärmt. Der flüchtige, wenn gleich heftige Eindruck, den der heutige Tag auf mich gemacht hatte, mußte sogar bald einer eignen[175] Art von Eitelkeit Raum geben, denn ich begann sehr selbstgefällig das eben überstandne öffentliche Examen mir wieder zurück zu rufen, bei dem ich allen Andern mich überlegen gezeigt hatte. Denn bei keinem einzigen der biblischen Sprüche, die ich auswendig lernen mußte, um durch sie die Glaubenslehren zu beweisen, welche meine Lippen bekennten, hatte mir mein Gedächtnis den Dienst versagt; doch leider war auch kein einziger von ihnen bis in mein Herz gedrungen, denn ächte Frömmigkeit war mir von Jugend auf, selbst dem Begriffe nach, fremd geblieben. Als bloßes Gedächtniswerk hatte ich Religion gelernt, wie ich auch Geographie und Geschichte lernte; ihr Geist hatte nie mich durchdrungen, und nie, so lange ich lebte, hatte ich, ausser der Kirche die man zuweilen aus Gewohnheit noch besuchte, von Gott reden gehört.
Liebe Kinder, wundert Euch nicht über dieses Bekenntnis, sondern beklagt mich, daß meine Jugend leider in jene kalte trostlose Zeit fiel, in der man begann sich der Religion zu schämen.[176] Von jeher bahnte ja Uebertreibung einer andern Uebertreibung ganz entgegengesezter Art den Weg, und so drang denn auch plötzlich aus der düstern Nacht des kurz zuvor herrschenden krassesten Aberglaubens, das grelle Flackerlicht des trostlosesten Unglaubens hervor, den man damals Aufklärung nannte. Was war dabei wohl natürlicher, als daß die vom schnellen Uebergange aus dem Dunkel zu jenem kalten Nordschein geblendete Menge einen andern Irrweg einschlug, als den eben verlassnen, ohne zu ahnen, daß es einen richtigern Pfad geben könne?
Die geistreichsten Männer jener Zeit, mit ihnen mein Vater, ließen von Voltaires kaltem, aber glänzendem Witze sich hinreissen, der das Heiligste mit dem Unheiligsten zugleich schonungslos verspottete. Eine furchtbare Erkältung der Gemüther nahm immer mehr und mehr überhand, und Voltaires Anhänger rühmten sich laut: keine Religion, als die eines rechtlichen Mannes anzuerkennen; la religion d'un honnéte homme, wie[177] sie es nannten. Leider gehörte auch mein Vater zu diesen.
Meine wahrhaft fromme, in stiller Einfachheit erzogene Mutter schwieg zu alle dem aus Ergebenheit gegen meinen Vater, dessen Ansichten sie nie widersprach; sie konnte dies um so eher, da man sie ungestört ihren stillen Weg gehen lies. Denn es war Grundsatz jener Aufgeklärten, die Weiber und das Volk bei dem, was sie Irrthümer nannten, so lange zu lassen, als diese darin verharren wollten. In Hinsicht auf mich, tröstete sich meine Mutter damit, daß ich den gehörigen Religionsunterricht täglich von einem Kandidaten erhielt, und für ihre Person begnügte sie sich mit der ihr gelassenen Freiheit, sich ganz still zu entfernen, wenn der französirende Witz der Gesellschafter meines Vaters gegen Dinge, die ihr heilig waren, zu hoch ansprudelte.
So trat ich denn als ein recht armes verlassnes Kind ins erweiterte Leben, ohne die Leitung einer verehrten Mutter und ohne den Trost jenes, über das Irdische und jeden Schmerz desselben[178] uns erhebenden Gefühls, den das Bewußtsein uns gewährt, daß wir unter dem Schutze und der Leitung eines mächtigen, gütigen, unbegreiflichen Wesens stehen, an welches ich leider nie dachte, obwohl ich im Herzen daran glauben mußte. Denn ich war nicht irreligiös, ich war nur gar nichts, weil kein Ton um mich her mein armes erstarrtes Herz erweckte und das darin schlummernde Gute ins Leben rief.
Jezt, da ich eine fast sechzigjährige Matrone bin, werdet Ihr es mir hoffentlich nicht als Eitelkeit auslegen, wenn ich unumwunden gestehe, daß ich vor undenklich langer Zeit sehr schön war. Der Form nach zeigst Du, meine Vicktorine, mir im Spiegel der Erinnerung einigermassen mein Bild; nur zürne nicht, wenn ich behaupte, daß mein langes weiches blondes Haar noch reicher und seidner war, als dein braunes; mein milderstrahlendes blaues Auge vielleicht noch ausdrucksvoller als Dein dunkles, meine Farbe noch blendender als die Deine, mein Wuchs voller und höher. Genug, ich zeichnete mich, trotz aller[179] Verkrüppelungen der damaligen Mode, vor allen meinen Jugendgespielinnen sehr auffallend aus. Seht mich nur recht darauf an, lieben Kinder: so vergeht Glanz und Ehre der Welt.
Mein gütiger Vater fieng jezt an, nicht nur sein Kind mit einiger Eitelkeit zu betrachten, sondern auch mit einem gewissen Stolze, dessen kleine Vorzüge an das Licht zu ziehen, dem nur die väterliche Liebe zur Entschuldigung dienen konnte. Er hatte meine sanfte anspruchslose Mutter unendlich lieb gehabt, er war an ihrer Seite und durch sie unbeschreiblich glücklich gewesen, und doch ließ er von jener Eitelkeit sich verleiten, mich ganz zum Widerspiele dessen ausbilden zu wollen, was sie gewesen war. In seiner Erinnerung wachte wiederum der Frühling seines Lebens auf, den er in Paris, zum Theil in den Salons jener geistreichen Frauen zugebracht hatte, welche zu seiner Zeit als Ton angebende Regentinnen von ihrem Lehnstuhl' aus, in halb Europa die Geister beherrschten. Madame du Deffant, die geistreiche L'Espinasse,[180] Madame de Tencin, und so viele andere, die damals durch Geist, Witz, Talent und Liebenswürdigkeit ein eignes geistiges Reich mitten im frivolsten Treiben eines immer tiefer sinkenden Volkes errichteten, wer kennt nicht jezt noch ihre Namen? Mein Vater hatte an den Strahlen ihres Geistes gerade in der Zeit sich gesonnt, in der die von jugendlichem Enthusiasm erfüllte Brust so leicht und gern jedem schmeichelnden Eindruck sich hingiebt; er hatte sich in den tiefsten Tiefen seines Gemüths so manche herrliche Erinnerung an sie aufbewahrt, welche die väterliche Liebe ihn jezt mit dem Wesen seiner Tochter verwechseln lies, und so verführte er sich selbst zu dem Plan', alles daran zu setzen, um mich zu einer, jenen berühmten Damen ähnlichen Erscheinung umzubilden, wenn ich gleich bestimmt schien, in einem weit beschränkteren Kreise zu glänzen. Wenigstens wollte er mir durch Lektüre und mündlichen Unterricht eine über jedes Vorurtheil erhabene Richtung geben, und machte dies von nun an zum Hauptgeschäfte seines Lebens.[181] Meine natürlichen Anlagen, vereint mit einer Eitelkeit, welche durch die meines Vaters neu belebt ward und die man in meiner Lage verzeihlich finden wird, unterstüzten ihn bei diesem Unternehmen so kräftig, daß ich in der That nach wenigen Jahren als eine sehr blendende Erscheinung da stand, und durch alle glänzende Eigenschaften eines für die grosse Welt gebildeten Geistes, durch Witz und schnelle Urtheilskraft nicht minderes Aufsehen erregte, als durch meine, zu immer höherer Schönheit erblühende äussere Gestalt.
Mädchen und Frauen, mit denen ich bis dahin noch Umgang gehabt hatte, suchten zwar jezt meine Nähe weniger, mieden sie vielleicht gar, weil sie anfiengen sie drückend zu empfinden; doch ich achtete dies wenig, denn auch mir war das Beisammensein im gewohnten Kreise nach und nach langweilig geworden. Nach dem Tode meiner Mutter hatte ohnedem unsre Lebensweise sich, ganz unmerklich, völlig anders gestaltet. Unser Umgang mit so vielen der ersten und angesehensten[182] Familien der Stadt, den ich Euch so eben beschrieben habe, hatte ganz allmählig von selbst aufgehört, ungefähr wie die Schwingungen des Perpendikels einer ins Stocken gerathenen Uhr, die doch nie so ganz mit einemmal' abbrechen.
Wenn viel Zuhausebleiben häuslich leben heißt, so lebten wir in der That weit häuslicher als da meine Mutter noch mit uns war, denn wir giengen fast nie aus, dafür aber versammelten wir täglich einen, zwar nicht sehr ausgedehnten, aber erwählten Kreis geistreicher Männer in unserm Hause. Eine nicht ganz unbedeutende Erbschaft, die meinem Vater unerwartet zugefallen war, machte es uns möglich, dies mit zierlicher Eleganz thun zu können, gleich weit entfernt von Ueberfluß und ängstlicher Sparsamkeit. Künstler, Gelehrte, interessante Männer aus jedem Fach, deren diese Stadt noch in diesem Augenblick weit mehrere verbirgt, als man gewöhnlich glaubt, waren als tägliche Gäste uns stets willkommen. Viele Fremde schlossen sich diesem Kreise an, ja es hielt sich fast kein Einziger von einiger Bedeutung[183] länger als einen Tag in der Stadt auf, ohne bei uns Zutritt zu suchen. Auch an fremden Künstlern fast von allen Nazionen fehlte es nicht, die zum Theil durch uns bekannter zu werden hofften, und gern und willig unseren geselligen Abenden durch ihr Talent einen neuen Reiz gewährten.
Ich hatte mich unterdessen dabei gewöhnt, die Honneurs von meines Vaters Hause mit einer Leichtigkeit, einem Anstande zu machen, welche diesen über allen Ausdruck erfreuten. Alle unsere Gäste lobten mich um die Wette, viele behaupteten geradezu, daß ich an jedem Hofe, sogar in Paris, Aufsehen und Bewunderung erregen müsse. Mir schwindelte das junge Köpfchen bei diesem Lobe, doch vor allem beglückte es mich um meines Vaters willen, an dem ich jezt mit ungemessner Liebe hieng. Sein stilles Entzücken über mein seltnes Gelingen in der Gesellschaft entgieng meinem Scharfblicke nicht, und ich bemerkte recht wohl, wie sein freudig-glänzendes Auge heimlich-triumfirend jede meiner[184] Bewegungen verfolgte. Wenn ich, was oft genug geschah, furchtlos die Stimme erhob, und in gewählten schön geordneten Phrasen meine entscheidende Meinung über irgend einen eben besprochenen Gegenstand der schönen Litteratur an den Tag legte, so war es mein Vater allemal, der zuerst die Aufmerksamkeit der Anwesenden mir zuzuwenden suchte. Er hörte mir theilnehmender zu, als alle Andere, wenn ich über irgend einen Satz der damals herrschenden philosophirenden Moral, oder gar der Politik aburtheilte, welche letztere schon damals Freiheit und Gleichheit zu predigen anfieng. Mit beifälligem Lächeln lohnte er es mir, wenn ich mit leichtem stechendem Witz Ungereimtheiten schonungslos verfolgte, oder mich in einen geistreichen Wettkampf einlies, bei dem ich gewöhnlich den Sieg davon trug. Meine seltne Gewandheit des Geistes gab mir in solchen Fällen zwar oft eine Art von Ueberlegenheit, doch öfterer noch mochte ich wohl diesen Sieg der damals noch üblichen Höflichkeit meiner Gegner verdanken, die nach alter Art zu[185] galant waren, um ihn im Ernst' einer Dame streitig machen zu wollen.
So sah ich denn in blühender, unerfahrner Jugend von einer Schaar von Männern mich umgeben, die mir alle, ohne Unterschied des Standes oder der Jahre, den Hof machten, jeglicher nach seiner Weise. Ich thronte, gleich einer kleinen Königin, ohne Nebenbuhlerinnen in ihrer Mitte, denn meine Schwester war noch zu jung, um in unsern Abendgesellschaften zu erscheinen, und meine weiblichen Bekannten hatten sich nach und nach alle gänzlich von mir zurückgezogen. Ich vermißte sie eben so wenig als ihr Wegbleiben aus unserm Hause mich befremdete, denn ich wußte von meinem Vater, daß meine Vorbilder, die tonangebenden Damen in Paris, zu ihrer Zeit eben so allein mitten in dem Männerkreise da gestanden als ich jezt.
Die Stelle, welche mein Vater unter den Diplomaten dieser Stadt einnahm, machte es mir freilich bei seltnen festlichen Gelegenheiten zuweilen zur Pflicht, in grössern, aus beiden Geschlechtern[186] zusammengesetzten Gesellschaften zu erscheinen, aber auch in dieser behauptete ich meinen Platz. Ich war hier zu laut und zu allgemein als die Erste in jeder Hinsicht anerkannt, als daß es einer andern hätte einfallen können, mir diesen Rang streitig machen zu wollen. Sobald ich ausser dem Hause erschien, umgaben mich die vornehmsten meiner Verehrer gleich einer Wagenburg, und die, welche nicht bis zu mir hindurchdringen konnten, sonnten sich von ferne in meinen Strahlen.
In aller Unschuld ward ich auf diese Weise recht kokett, wenn nehmlich Kokettsein so viel heißt, als ohne Unterschied allen gefallen wollen. Ich wollte dies in der That, aber doch nur, weil ich keinen Mann gesehen hatte, dem ich in meinem Herzen vor allen seines Gleichen hätte den Vorrang einräumen können. Alle, die ich kannte, galten mir gleich, aber ich betrachtete sie auch alle wie Unterthanen, von denen mir keiner rebellisch werden, oder gar einer andern Fahne sich zuwenden durfte. Mein eigentlichstes Streben[187] war doch nur, meinem Vater zu gefallen, nicht nur weil er mein Vater, sondern weil er zugleich der edelste geistreichste Mann war, den ich kannte. Ihm anzugehören, die Freude dieses Greises zu sein, war mein Stolz, und seine mit jedem Tage zunehmende Liebe zu mir mein einziges Glück. Das Bild seiner Jugend, wie ich mir es dachte, wurde mein Ideal, und ich schlug mehrere Heirathsanträge aus, weil alle diese Männer, die sich um mich bewarben, meinem Vater zu unähnlich waren, als daß ich einen von ihnen hätte der Ehre werth halten können, sein Sohn zu heissen. Diese jungen Herren, welche sich um mich her drängten, erschienen mir eigentlich alle in einem etwas kläglichen Lichte. Es entgieng mir nicht, daß nur eine noch ungemessenere Eitelkeit als meine eigne sie an den Stufen meines Thrones versammle; deshalb achtete ich sie im Grunde zu wenig, um auf ihre Huldigungen grossen Werth legen zu können; aber es belustigte mich, wenn ich ihre Thorheit zu meiner Unterhaltung benutzte, und sie wie Marionetten[188] behandelte, denen ich nach Belieben Leben und Bewegung verlieh.
Die Zeit vergieng, aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate, aus Monaten Jahre, ohne daß ich es sonderlich gewahr ward, und so hatte ich eben mein zwei und zwanzigstes Jahr vollendet, als mitten in der schönsten Frühlingszeit alle Welt hier in eine halb ängstliche, halb freudige Spannung gerieth, deren unschuldige Ursache die regierende Herzogin von P. war. Diese Fürstin sollte auf ihrer Durchreise nach einem Bade mit ihren beiden Prinzessinnen in kurzem bei uns eintreffen, und hatte beschlossen, einige Tage in unserer Stadt zu verweilen, um die Merkwürdigkeiten und vor allem die schönen Umgebungen derselben kennen zu lernen.
Vor vierzig Jahren war das Reisen mit weit grössern Beschwerden verbunden als jezt, wo es einer lustigen Spazierfarth immer ähnlicher wird. Gute Gasthöfe waren selten, leidliche Wege noch seltner und Kunststrassen am allerseltensten. Daher blieb fast jeder, der nicht[189] reisen mußte, gern zu Hause, und besonders waren reisende Könige und Fürsten damals eine seltene Erscheinung.
Alle Fenster in den Strassen, durch welche ein gekröntes Haupt fahren sollte, wurden deshalb lange im voraus in Beschlag genommen, die neugierige Menge drängte sich Kopf an Kopf in dichten Reihen um die fürstlichen Wagen her, und alte Leute, denen in ihrer Jugend das Glück zum Theil worden war, einen Kaiser oder König von ferne zu sehen, erzählten noch Kindern und Kindeskindern davon als von einem merkwürdigen Ereignisse ihres Lebens.
Die blosse Durchreise der Herzogin wäre also schon hinreichend gewesen um die ganze Stadt in Bewegung zu bringen, aber nun wollte sie sogar drei Tage in unsrer Mitte verweilen, und glänzende Feste sollten diese Zeit ausfüllen, deren Erfindung denen, welche sie anzuordnen hatten, nicht wenig Kopfbrechens verursachte. Der überall immer steigende Luxus hatte freilich seit den lezten zehn Jahren auch in dieser Stadt sehr zugenommen,[190] und nach und nach war manche bedeutende Abänderung in der früher gewohnt gewesenen Lebensweise der Einwohner derselben entstanden; doch die Idee von Hoffesten lag den freien Reichsstädtern noch immer zu fern, als daß sie sich sogleich darin hätten finden können.
Während die Männer mit Zuziehung meines Vaters darüber rathschlagten, wie sie die Fürstin gehörig empfangen und unterhalten könnten, waren die Damen ihrer Seits mit Vorbereitung ihres Putzes zu dieser feierlichen Gelegenheit nicht minder beschäftigt. Ich allein blieb vielleicht die Müssigste in der ganzen Stadt, denn die Sucht auf diese Weise glänzen zu wollen, gehörte nie zu meinen Fehlern. Im stolzen Bewustsein meiner Vorzüge suchte ich vielmehr stets etwas darin, meine von Silberflor, Flittern und Edelsteinen strahlenden Nebenbuhlerinnen im einfach zierlichen Gewande dennoch zu verdunkeln, und ich nahm mir vor, auch diesmal meiner alten Gewohnheit treu zu bleiben. Bei alle dem aber klopfte mir doch das Herz bei dem Gedanken, einer Fürstin[191] vorgestellt zu werden. Wäre es ein König, oder selbst ein Kaiser gewesen, ich hatte zwar auch noch keinen gesehen, aber ich wäre wahrscheinlich ruhiger dabei geblieben, denn Kaiser und Könige sind Männer und gegen solche wußte ich mich zu benehmen. Ich durfte sogar hoffen, ihnen eben so wenig zu misfallen, als andern Männern; aber eine Fürstin, und vollends gar eine junge Prinzessin! Der blosse Gedanke an ein solches, mir so ähnliches, und doch wieder auch so unähnliches Wesen flößte, wie etwas Uebernatürliches, mir eine Art ängstlicher Scheu ein. Ich zerbrach mir vergebens den Kopf um zu ersinnen, wie einer so von Jugend auf in einer ganz andern Sphäre und mit ganz verschiedenen Ansichten aufgewachsenen Prinzessin die Welt und die Verhältnisse des Lebens, erscheinen könnten, zu denen eine solche Fürstin eigentlich gar nicht gehört, und denen sie denn doch auch wieder in gewisser Hinsicht eben so unterworfen ist als jedes andre Mädchen.[192]
Der grosse Tag kam endlich heran, die Fürstin auch, und ich ward in der Reihe der ersten Damen der Stadt ihr vorgestellt. Ich fühlte mich bei dieser ganz einfachen Zeremonie so befangen wie nie zuvor in meinem Leben, und ärgerte mich dabei innerlich über mich selbst, weil es mir durchaus nicht gelingen wollte, dieses ängstliche Gefühl abzuschütteln. Die Herzogin, eine schöne hohe Frau von mütterlichem Ansehen, war die Huld und Freundlichkeit selbst; sie war weit einfacher gekleidet als wir alle und weder Schmuck noch Orden verriethen ihren hohen Stand. Mit jener Leichtigkeit, welche von Jugend an den Fürstinnen eingelehrt wird, wandte sie sich an alle Damen der Reihe nach und wußte jeder etwas angenehmes zu sagen. Mich beehrte sie besonders mit freundlichen Fragen nach einigen meiner Verwandten, die sie in frühern Zeiten gekannt hatte, und ich antwortete ihr so gut ich es konnte; doch meine Stimme bebte dabei, meine Wangen glühten und meine Augen hafteten unabwendbar am Boden. Unerachtet aller möglichen fürstlichen Herablassung,[193] imponirte mir die hohe, über das ganze Wesen der Herzogin verbreitete, ihr ganz eigenthümliche Würde, und ihre Kornblumenfarbenen Augen, so mild sie stralten, schienen mir bis in das Innerste meiner Brust dringen zu wollen. Es mochten wohl schon oft solche verlegne Figuren wie ich damals eine war, vor ihr gestanden haben, denn sie schien meinen Zustand zu begreifen und suchte, mitleidig, ihm dadurch abzuhelfen, daß sie mich ihren beiden Töchtern, zwei ätherisch-zarten Gestalten zuführte. Besonders war die jüngste, Prinzessin Mathilde, ein Kind von zwölf Jahren, beinahe unkörperlich wie eine Silphide.
Ich fühlte die Absicht der Fürstin und schämte mich innerlich meines albernen Betragens nur noch mehr, indessen gelangte ich nach und nach durch das Gespräch mit den jungen Damen doch wieder zu leidlicher Fassung, obgleich ich von meiner gewohnten Sicherheit noch immer weit entfernt blieb.
Ich wagte es doch wenigstens, wieder aufzusehen, fuhr aber gleich wieder erschrocken zusammen, denn mein erster Blick fiel in das mit[194] gespannter Aufmerksamkeit auf mich gerichtete Auge eines dicht hinter der Herzogin stehenden jungen Mannes. Er wandte, fast unmerklich erröthend, den Blick von mir ab, so wie der meinige ihn traf, und auch ich schlug die Augen wieder nieder, aber ich fühlte, wie meine Wangen vor dem Strahle seines Blicks in dunkelem Purpur erglühten. Als ich mich nach einer kleinen Weile unbemerkt wußte, sah ich doch verstohlen wieder hin; es war eine hohe edle Gestalt mit einem sehr ausdrucksvollen schönen ernsten Gesichte. Sein durchaus ruhiger, bescheidener und doch vornehmer Anstand verkündeten in ihm den Mann von Welt und feiner Bildung; ich sah von ihm auf meine zahlreichen, den Saal füllenden Bewunderer, nie hatten sie mir weniger gefallen; alle standen in ehrerbietiger Ferne, einige, noch verlegener als ich, drückten sich an den Wänden herum. Ich wünschte in diesem Augenblick nichts sehnlicher. als zu erfahren, wer der interessante Fremde sei. Aber wo hätte ich den Muth hernehmen wollen darnach zu fragen; ich war mit einemmal ein[195] blödes bescheidnes Kind geworden, und ich kannte mich selbst nicht wieder in dieser Umwandlung.
Der Nachmittag war bestimmt, die Herzogin an einige der schönsten Puncte der Umgegend zu führen und sie selbst hatte die Gnade, mich zur Begleitung ihrer Töchter einzuladen. Ich fuhr mit den Prinzessinnen und ihrer Hofmeisterin in einem offenen Wagen, der Fremde ritt neben dem der Herzogin her. Er schien so an ihre Nähe gefesselt, daß er sich von ihr durchaus nicht entfernen durfte, indessen hatte ich doch das Vergnügen, ihn von weitem zu beobachten. Seine schöne Gestalt zeigte sich mir zu Pferde auf das allervortheilhafteste, denn es ist ja eine sehr alte Bemerkung, daß für die Männer das Pferd das ist, was für uns der Tanzsaal, um darauf körperliche Vorzüge im günstigsten Lichte geltend zu machen. Mit stiller Freude wurde ich gewahr, daß er sich nach uns umsah, so oft sich die Gelegenheit dazu bot. Ich bemerkte es jedesmal, wenn es geschah, mochte aber um so weniger es wagen, nach seinem Namen zu fragen.[196]
Eine elegante und ausgesuchte Kollazion erwartete die Herzogin nach vollendeter Spazierfahrt, in einem der schönsten Gärten in der Nähe der Stadt, und ein brillantes, von einem in diesem Fache berühmten Künstler dirigirtes Feuerwerk sollte mit sinkender Nacht die Freuden dieses Tages beschliessen. Für die Herzogin war zu diesem Zweck dicht am Hause eine grosse, mit einem seidnen Baldachin bedeckte Estrade erbaut worden. Einige Stufen führten von dieser Estrade in den Garten hinunter, und vom Hause aus gelangte man, ebenfalls einige Stufen hinab, durch drei der grossen, bis an den Fußboden reichenden Fenster des in der ersten Etage befindlichen Speisesaals, auf die für die Herzogin und die Damen bestimmten Plätze. Ich fand den meinigen unfern den Prinzessinnen, am Ende der zweiten Reihe von Stühlen. Das Feuerwerk begann, die laue Sommernacht schien für ein Vergnügen dieser Art eigends geschaffen zu sein. Dunkle Wolken bedeckten den Horizont, ohne doch mit wahrem Regen zu drohen, und das in[197] bunten feurigen Farben stets wechselnde lustige Strahlenspiel zeigte sich auf diesem dunkeln Hintergrunde, in feenhafter Zauberpracht. Der Anblick der zahllosen geputzten Zuschauer, welche im Garten, um die Estrade her gruppirt, theils sassen, theils standen, erhöhte den Reitz des magischen Schauspiels, indem alle die vielen Köpfe sich bald im hellsten Lichte zeigten, bald zurücktretend in das geheimnißvolle Dunkel der Nacht, wieder verschwanden. Das ganze Feuerwerk gieng zur Freude aller Anwesenden ganz vortrefflich von statten; schon zeigte sich die letzte glänzendste Dekorazion, ein im hellsten Brillantfeuer strahlender Säulentempel. Ein feuriger Adler flog zu einem der obern Fenster des Hauses hinaus über die Estrade weg, um die an dem Tempel angebrachten Namenzüge der hohen Herrschaften anzuzünden, alles war in gespannter froher Erwartung. Doch ehe der Adler noch die Mitte seiner Bahn erreichte, riß einer der Drähte entzwei, an welchen er schwebte, der feurige Klumpen prallte sinkend zurück, gerade auf den Platz zu, wo die[198] Herzogin saß. Er setzte die seidene Drapperie des Baldachins in Brand, verwundete ein paar Damen und fiel dann mitten in der Estrade zu Boden, wo er, dampfend und zischend und prasselnd, Angst und Gefahr um sich her verbreitete.
Von dem Tumulte, dem Geschrei, dem Entsetzen der Unordnung, worin sich jezt alles auflöste, kann Euch keine menschliche Zunge einen Begriff geben. Man muß so etwas mit erlebt haben, um es sich vorstellen zu können. Alle Rücksichten waren im Moment vergessen, jeder dachte nur an sich und die Seinen. Die, welche auf der Estrade sich befanden, stürmten schreiend durcheinander, den in den Speisesaal führenden Zugängen zu. Jeder rief mit überlauter Stimme die Namen der Seinen, die er im Gedränge zu verlieren fürchtete, und alle vermehrten im panischen Schrecken die allgemeine Unordnung und die erst aus dieser hervorgehende Gefahr, welcher ein einziger besonnener Mann hätte zuvorkommen können. Mit einem Griffe, der die glimmenden[199] Drapperien herunter gerissen, mit einem Fußtritt, der den Funken sprühenden Adler in den Garten hinab geschleudert hätte, wäre alles gethan gewesen. doch daran war jezt nicht mehr zu denken. Die leichten Latten, welche rings um die Estrade eine Art Balustrade gebildet hatten, wurden von denen zertrümmert, die aus dem Garten hinauf diese erkletterten, um ihren oben befindlichen Frauen und Töchtern zu Hülfe zu kommen; die Stühle wurden umgeworfen, einige der Fliehenden fielen über diese, oder über die zu dem Hause hinaufführenden Stufen, andere stiegen über die Gefallenen weg. Die Herzogin war zum Glück gleich im ersten Augenblick ins Haus geflüchtet, zwei Sekunden später waren schon alle drei Eingänge zu diesem von der ihr nachdringenden Menge verstopft, niemand konnte weder rückwärts, noch vorwärts, und alles das geschah unter durchdringendem betäubendem Geschrei, innerhalb weniger Minuten, ich möchte sagen, in weit kürzerer Zeit, als ich gebraucht habe, Euch von diesem Unfalle zu erzählen.[200]
Ich selbst behielt zum Glücke kaltes Blut genug, um das Nichtige der gefürchteten und das Bedeutende der aus dieser Furcht entstehenden Gefahr einzusehen, und war deshalb auch so besonnen, daß ich mich nicht, wie die Uebrigen, dem Hause zu zuflüchtete. Ich wollte lieber durch einen raschen Sprung seitwärts von der gar nicht hohen Estrade, in das weiche Gras, mich in den dunkeln menschenleeren Theil des mir aus früherer Zeit sehr wohl bekannten Gartens flüchten, um dort das Ende alles dieses Lärmens ruhig abzuwarten. Indem ich aber mein Kleid zusammennahm und mich anschickte herunter zu springen, fühlte ich mit sanfter Gewalt meine Knie umfaßt; erschrocken sah ich nieder und traute meinen eigenen Augen kaum, als ich die arme kleine Prinzessin Mathilde erblickte, die, unfähig sich zu helfen, zwischen den umgeworfenen Stühlen, auf dem Fußboden der Estrade lag, und, krampfhaft zitternd, mich fest umschlungen hielt. Das arme Kind war gleich anfangs im ersten Schrecke von seiner Mutter abgekommen,[201] es war über die Stühle hingefallen, niemand hatte dies gesehen, und da mehreren Personen oblag, für die Prinzessin zu sorgen, so hatte sich eigentlich in der Verwirrung niemand um sie bekümmert, indem jedes sie bei den Andern in Sicherheit glaubte. So war sie denn wirklich der Gefahr ausgesetzt geblieben, im Gedränge erstickt oder ertreten werden zu können.
Ohne langes Bedenken nahm ich die zarte Kleine auf, kniete am Rande der Estrade hin, und ließ sie mit möglichster Behutsamkeit langsam hinunter in das Gras sinken, dann sprang ich selbst ihr nach; das Getümmel und Geschrei oben nahm zu und das Kind lag wie besinnungslos zu meinen Füssen. Eben wollte ich versuchen, es mit Hülfe meines Flakons mit Eau de Luce wieder zu sich selbst zu bringen, als ein fürchterliches, lange anhaltendes Knallen mich selbst jezt auf das heftigste erschreckte. Ein Feuerregen umsprühte mich im Nu, Hunderte von feurigen Schlangen flogen zischend und prasselnd nach allen Richtungen durch die Luft, und verbreiteten eine[202] höchst ängstliche Helle, die momentan wieder mit dicker Finsternis abwechselte. Eine grosse Menge zerstreut liegender Raketen, welche zu einer gewaltigen Girandole vereint, den Schluß des Feuerwerks hatten verherrlichen sollen, war durch ein Versehen in Brand gerathen. Vermuthlich hatte der Feuerwerker selbst über die, wahrscheinlich nicht ohne seine Schuld entstandene Verwirrung den Kopf verloren, und so konnte denn dieses zweite Unglück durch die vielen, mit Fackeln zum Aufsuchen ihrer Herrschaften herumlaufenden Bedienten leicht entstehen. Durch das immer wilder werdende Geschrei über mir, durch das Knallen der Raketen, durch den fortwährenden Funkenregen, und die rings um uns niederfallenden brennenden Raketenstöcke, war ich jezt selbst so ängstlich geworden, daß ich in Gefahr stand, ebenfalls die Besinnung zu verlieren; doch suchte ich mich zu fassen so gut ich konnte. Ich nahm das noch immer halb ohnmächtige Kind in meine Arme, es schien mir in der Angst federleicht. Mir kam der Gedanke, in einen, vom Schauplatze der[203] Verwirrung ziemlich entfernten, mir wohl bekannten Gartensaal uns beide einstweilen in Sicherheit zu bringen; denn schon fielen kalte einzelne Regentropfen herab und der nächtliche Himmel hüllte sich in immer schwärzeres Dunkel. Selbst zitternd vor Furcht, trat ich daher jezt mit meiner Bürde den Weg nach jenem Gartensaal an, und beeilte meine Schritte so gut ich es konnte. Ich hatte das Kind schon eine ziemliche Strecke weit fortgetragen, als Angst und Eile mich ein paar Stufen vergessen liessen, die auf meinem Wege lagen und zu einer niedriger liegenden Terrasse hinabführten, über die ich mußte. Ich glitt aus, fiel, mit dem Kinde auf meinen Armen, die kleine Treppe hinab, und fühlte, nach wenigen Minuten, zu meinem unaussprechlichen Schrecken, die Unmöglichkeit aufzustehen und weiter zu gehen.
Im Garten war es jezt sehr dunkel und todtenstill. Das Feuerwerk hatte ausgetobt, und nur wie aus weiter Ferne tönte das die Estrade noch immer umwogende Getöse zu mir herüber.[204] Der Regen begann mächtiger hernieder zu rauschen und weckte die kleine Prinzessin aus ihrer Ohnmacht. Sie zitterte an allen Gliedern wie ein Espenlaub, doch freute es sie, sich in meinen Armen zu finden. »Fräulein,« bat sie unter heißen Thränen, »liebes Fräulein, so stehen Sie doch auf, daß wir zu meiner Mutter kommen,« und da sie sah, daß ich nicht aufzustehen vermochte, erhob sie ein lautes klägliches Geschrei nach Hülfe.
Vergebens versuchte ich alles, sie zu beschwichtigen, sie lies sich nicht beruhigen und zitterte dabei immer stärker mit konvulsivischer Heftigkeit. Ich versicherte sie, daß alle Gefahr vorüber sei, daß der Schmerz in meinem Fuße sich bald geben würde, daß ich den Weg kenne und sie sicher nach Hause bringen würde, alles war vergebens. Sie schrie immer lauter und ängstlicher, und ich hörte dabei die Zähne des armen Kindes vor Angst und Furcht an einander schlagen. Der traurige Zustand der Kleinen gieng mir durch die Seele. Eure Shawls kannte man[205] damals noch nicht, so riß ich dann meine Zirkassienne, eine Art Oberkleid, das damals Mode war, herunter, um das arme Prinzeßchen in den starken seidenen Stoff zu hüllen und es nur einigermassen vor dem immer dichter fallenden Regen zu schützen. Dankbar schlang das Kind die zarten schwachen Aermchen um meinen Hals, verbarg leise weinend und schluchzend das Köpfchen an meine Schulter, und schrie dann wieder überlaut mit verdoppelter Heftigkeit nach Hülfe. Jezt fieng ich an, um uns Beide recht ernstlich besorgt zu werden. Die unnatürliche Heftigkeit der Prinzessin Mathilde ängstigte mich unbeschreiblich, die Schmerzen in meinen Füßen nahmen mit jeder Minute zu und wurden fast unleidlich; dazu durchnäßte der immer dichter fallende Regen uns beide, besonders aber mich bis auf die Haut. Ihr könnt also denken, wie froh ich war, als ich endlich an der Taxusecke, welche die Terrasse einfaßte, auf welcher ich lag, den Wiederschein eines Lichtes erblickte. Auch die Prinzessin ward mit mir zugleich diesen Hoffnungsstrahl[206] gewahr, sie stand auf, wandte sich nach der Richtung, von wo das Licht zu kommen schien, und rief mit einemmal laut jubelnd: »Leuen, lieber Leuen, hieher, hier unten ist Mathilde, hier ist auch das Fräulein, geschwind' uns zu Hülfe, hieher!
Das Gebüsch über mir rauschte, ein Mann sprang von der obern Terrasse zu uns hinab, und beim Schein einer Laterne, die er trug, und die er augenscheinlich irgendwo an einem Hause heruntergerissen haben mußte, erkannte ich den Begleiter der Herzogin.
›Gottlob, daß ich Sie finde, Prinzessin!‹ sprach er ganz ausser Athem; ›wir glaubten alle, Sie schon zu Hause zu finden, und die Herzogin ist jezt Ihretwegen in der quälendsten Todesangst. Kommen Sie, wir müssen eilen, erlauben Sie, daß ich Sie bis an den Wagen trage, damit wir schneller fortkommen.‹
›Nein, nein, nein, nein,‹ rief abwehrend die Kleine, ›sehen Sie doch nur hier, das arme liebe Fräulein Falkenhayn. Sie hat den Fuß[207] gebrochen, weil sie mich forttrug. Ach Gott! ach Gott, sie stirbt; sehen Sie, wie sie mit einemmal bleich wird; sie stirbt ganz gewiß, wenn sie nicht gleich Hülfe bekommt.‹ Das arme Kind brach von neuem in Thränen aus, warf sich mir, wie ich so da lag, um den Hals; der Fremde aber, der jezt erst meiner gewahr ward, stand, sichtbar erschrocken, dabei, und schien in der ersten Ueberraschung vergebens nach Worten zu suchen.
Es ist lange nicht so arg, als die Prinzessin es glaubt,« erwiederte ich, und suchte, unerachtet des ungeheuern Schmerzes in meinem Fuße, ein Lächeln zu erzwingen. ›Ich bin ausgeglitten, ich habe mir den Fuß verstaucht, vielleicht ein wenig verrenkt, aber gebrochen nicht, hoffe ich. Die paar Schritte bis zum Wagen denk' ich recht gut gehen zu können,‹ sprach ich, und bemühte mich, vom Boden aufzustehen. Herr von Leuen unterstützte mich, auch die arme kleine Mathilde strengte mitleidig alle ihre schwachen Kräfte an, mir zu helfen; doch der Schmerz ward zu heftig,[208] und ich sank mit einem kaum zu unterdrückenden Wehelaut zurück in das Gras.
›Es geht nicht,‹ sprach ich, meinen Schmerz möglichst verbergend, ›es geht nicht. Haben Sie nur die Güte, Herr von Leuen, die Prinzessin an den Wagen zu bringen, und mir dann Hülfe zu senden.‹
›Nein, nein, nein,‹ rief Mathilde abermals, und umschlang mich, mich fest umklammernd, als wolle man mit Gewalt sie von mir reissen. ›Nein, Leuen, ich thue es nicht, mag werden was da will, ich kann ja meine gute liebe Beschützerin hier nicht so allein liegen lassen.‹
›Auch ich kann mich nicht dazu entschliessen,‹ erwiederte von Leuen mit bewegter Stimme. ›Aber was fangen wir an, der Regen wird immer heftiger; was sollen wir thun?‹
In diesem Augenblick' erblickte er durch das Gebüsch in ziemlicher Ferne Leute mit Fackeln, welche vermuthlich noch immer die Prinzessin suchten. Er rief so laut er es konnte ihnen zu, doch Wind und Regen rauschten, niemand hörte ihn,[209] die Lichter entfernten sich wieder und verloren sich zuletzt ganz. Sie aufzusuchen erlaubte die Prinzessin Herrn von Leuen nicht; sie hielt ihn unter Thränen und Bitten fest, und niemand kam zu uns, da man nicht vermuthen konnte, uns in diesem ganz abgelegenen Theile des Gartens zu finden.
›Wenn die Prinzessin gehen könnte, es sind kaum hundert Schritte bis dahin, wo ich den Wagen errufen kann,‹ fieng Leuen jezt ein wenig verlegen an.
›O ich kann! ich kann!‹ rief das zitternde Kind, ›mir fehlt nichts, gar nichts, helfen Sie nur, lieber Leuen, helfen Sie nur dem Fräulein. Geben Sie mir die Laterne, ich will sie schon tragen, und nehmen Sie das Fräulein und tragen Sie sie auf den Armen, wie sie mich getragen hat.‹
›Die Prinzessin hat Recht; ich bitte, vertrauen Sie sich mir,‹ sprach jezt Leuen, und obgleich seine merklich zitternde Stimme dabei von innerer Verlegenheit zeugte, so hob er doch, ohne[210] meine Antwort abzuwarten, und ehe ich mich dessen versehen konnte, mit starkem Arme mich empor. Mir vergiengen dabei fast die Sinne, aber was konnte ich thun? Wie ein Kind lag ich in seinen Armen, an seine Brust gedrückt; sein Athem wehte an meiner Wange, ich hörte jeden Schlag seines Herzens. Ein unnennbares nie gefühltes Vertrauen zu dem fremden Manne, dessen Namen ich kaum kannte, kam in dem Augenblick' in meine Seele, und Thränen entquollen meinen Augen, süsse Thränen, die ich weinte, ich wußte nicht warum. Er bemerkte mein stilles Weinen. »Sie leiden sehr!« flüsterte er mit unbeschreiblich sanfter wohlthuender Stimme mir zu, und ich sah beim Schein der Laterne, welche die Prinzessin trug, daß ein feuchter Schimmer auch sein schönes Auge verklärte. Ich vermochte es nicht, seine Frage zu beantworten.
Wir kamen nur sehr langsam vorwärts, denn die arme kleine Mathilde konnte kaum fort, und auch Herr von Leuen eilte nicht, und konnte es[211] auch wohl nicht unter der schweren Last, die er trug.
Endlich ward aber doch der Wagen erreicht, unser Beschützer setzte sich neben mich, um mich zu unterstützen und, so viel dies möglich war, die Stösse des Wagens zu mindern, der, seinem Befehl zu Folge, meinetwegen sehr langsam fahren mußte. Mathilde setzte sich mir gegenüber, und bestand darauf, meinen kranken Fuß auf ihrem Schooße zu halten. Dabei plapperte sie in einem fort mit der frohen Geschwätzigkeit eines Kindes, das sich freut, einer grossen Gefahr entronnen zu sein, und überzeugt ist, etwas höchst Merkwürdiges erlebt zu haben. Sie war bei dem ganzen Vorgange nicht so bewustlos gewesen als ich gedacht hatte, denn sie erzählte sehr umständlich, wie ich sie von der Estrade hinunter gelassen habe, und dann ihr nachgesprungen sei, wie ich sie dann weiter getragen, und wie ich zuletzt mein eignes Kleid mir abgerissen habe, um sie in die Schleppe desselben einzuhüllen. Als sie diesen Umstand erwähnte, ward ich erst beim[212] Scheine der, den Wagen umgebenden Fackeln den zerstörten Zustand meiner Kleidung gewahr, und alles Blut meines Herzens stieg mir ins Gesicht. Leuen, dessen glänzende Augen bis jezt in einem fort auf mir geruht hatten, bemerkte mein Erröthen, auch er wurde roth, wandte den Blick und vermied es von nun an, mich wieder anzusehen bis der Wagen vor dem Hause der Herzogin hielt.
Leicht wie ein Vogel, mit hellem Freudengeschrei flog Prinzessin Mathilde zum Wagen hinaus, die Treppe hinauf in die Arme ihrer Mutter. Ich verlangte zu meinem Vater gebracht zu werden, doch in demselben Augenblicke kam er selbst an den Wagen, und schloß mit liebender Sorge mich in seine Arme. Seine Gesundheit erlaubte ihm nicht mehr, sich der Abendluft auszusetzen, deshalb war er bei dem Feuerwerke nicht gegenwärtig gewesen; doch als das ins Fabelhafte vergrösserte Gerücht von dem dabei vorgefallenen Unheil ihm zu Ohren kam, und ich noch immer fort ausblieb, trieb ihn Besorgniß[213] um mich zur Herzogin, wo er mich zu finden hoffte. Beide theilten nun mit einander die Angst um das Schicksal ihrer Kinder und die Sorge für deren Rettung. Alle Leute, deren sie habhaft werden konnten, wurden ausgeschickt uns zu suchen, doch keiner von allen kam auf den Einfall, uns da zu vermuthen, wo wir uns befanden. Nur Herr von Leuen, der übrigens die Lokalität des Gartens gar nicht kannte, ward durch ein glückliches Ungefähr zu unserer Hülfe herbei geführt. Das sonderbarste war, daß niemand begreifen wollte, wie die Prinzessin Mathilde in diese Verlegenheit hätte gerathen können. Und doch war nichts natürlicher. Es ist ja das Schicksal aller, für deren Bedienung Viele zu sorgen haben, daß sie bei wichtigen unerwarteten Ereignissen gerade am ersten vernachlässigt werden, weil sich stets einer ihrer Diener auf die Pünktlichkeit des andern verläßt.
Während die Herzogin sich des Wiedersehens ihres vermißten Kindes erfreute, ward ich in einem ihrer Zimmer auf ein Ruhebette getragen,[214] denn sie wollte es durchaus nicht erlauben, daß ich in diesem leidenden Zustande in die, von der ihrigen ziemlich weit entfernten Wohnung meines Vaters gebracht würde. Gleich darauf kam sie selbst zu mir, um unter heissen Thränen des Dankes mich für die Rettung ihrer Tochter zu umarmen. Sie übertrieb sowohl die Gefahr, in welcher die Prinzessin geschwebt, als die Bewunderung dessen, was ich für sie gethan hatte, nach der gewohnten Art aller Grossen, die sich nur selten in die kleineren Unfälle des Lebens zu finden wissen, obgleich sie schweres Unglück oft mit einem Muthe ertragen, der den unsern beschämt. Die Herzogin nannte mich einen, von Gott zu ihrem Schutze gesendeten Engel, und war so unerschöpflich im Lobe meines Muthes, meiner Besonnenheit, meiner Selbstopferung, daß ich zuletzt anfieng, mich recht herzlich vor mir selbst zu schämen. Denn was war es denn am Ende, was man so bis in die Wolken erhob? Was hatte ich denn Grosses gethan? Ich hatte Besonnenheit genug gehabt, einigermassen mit[215] Verstand für meine eigene Person zu sorgen, und war dabei nicht unmenschlich genug gewesen, ein schwaches liebenswürdiges Kind hülflos zu verlassen.«
»So wie die Herzogin hinaus gieng, fiengen alle im Zimmer Gegenwärtige, von der Hofmeisterin der Prinzessin bis zum Garderobenmädchen hinab, an, auch ihren Theils meinen Edelmuth in noch übertriebneren Ausdrücken als ihre Fürstin bis in die Wolken zu erheben. Alle erzählten einander zugleich die Wunder, die ich gethan, so daß ich der Sache endlich recht überdrüssig ward, und es versuchte, ihnen meine eigne Ansicht des Vorganges mitzutheilen. Allein ich predigte tauben Ohren. Man ergoß sich jezt sogar in überlaute Bewunderung meiner Bescheidenheit. Ich schwieg zuletzt, lies geduldig alles über mich ergehen, und fand bald, daß dies der beste Weg sei, die ungestümen Nachbeter ihrer Fürstin endlich zum Schweigen zu bringen.
Inzwischen untersuchte der Leibarzt der Herzogin meinen beschädigten Fuß. Er war, wie ich[216] es vermuthet hatte, nicht gebrochen, aber verrenkt und stark geschwollen. Der Arzt versprach meine völlige Wiederherstellung innerhalb weniger Tage, nur machte er dabei das vollkommenstruhige Verhalten zur unabläßlichen Bedingung. So war denn um so weniger an meine Rückkehr in das Haus meines Vaters zu denken, da obendrein die Herzogin sehr ernstlich darauf bestand, mich unter ihren Augen verpflegen zu lassen.
Ein leichtes Erkältungsfieber, welches Prinzessin Mathilde von unserem nächtlichen Abentheuer davon getragen, zwang ohnehin die Herzogin, ihren hiesigen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern, besonders da auch ihre eigne Gesundheit von der heftigen Gemüthsbewegung jenes Abends gelitten hatte. Sie fühlte sich matt und erschöpft, oder brauchte dies auch vielleicht nur zum Vorwande, um allen anderweitigen Festen auszuweichen, die man ihretwegen noch anordnen wollte.
Auch meine eigne Genesung machte weit langsamere Fortschritte, als der Arzt anfangs[217] gehofft hatte; so blieb ich denn zwei volle Wochen hindurch in der Nähe der Herzogin, und diese Zeit ward zu einem Lichtpunct in meinem Leben, dessen Abglanz noch jezt das Dunkel meiner alten Tage erhellt. Wie durch einen Zauberschlag sah ich mich in eine, mir ganz neue Existenz versezt, alle meine Begriffe von mir und vom Leben erhielten eine andere Richtung, alles, was mich bis dahin theils ergözt, theils geblendet hatte, war, für den Moment wenigstens, wie vor meinen Augen verschwunden. Ohnerachtet der herablassenden Güte der Fürstin, fühlte ich mich doch in jeder Hinsicht ihr viel zu untergeordnet, als daß es mir hätte einfallen können, meine gewöhnliche glänzende Rolle in ihrem Beisein fortspielen zu wollen. Auch die ernste stille, beinahe furchtsame Bescheidenheit der ältern Prinzessin Ludovika, die nur wenige Jahre jünger als ich war, flößte mir eine Zurückhaltung ein, die ich sonst nicht kannte. Nicht etwa, daß ich ein verstelltes Betragen angenommen hätte, um in diesen Umgebungen anders zu erscheinen wie ich[218] war, nein! ich blieb offen und unverstellt wie immer, aus Charakter, nicht aus Tugend; aber ich folgte nur meiner gewohnten Art, mich vom Augenblicke und von meinen Umgebungen hinreissen zu lassen. Mit der kleinen Mathilde, die leidenschaftlich an mir hieng, ward ich eben sowohl zum spielenden jauchzenden Kinde, als ich in Gegenwart der Herzogin und der Prinzessin Ludovika mir die bescheidne Haltung und das anspruchslose Betragen aneignete, durch welches diese Damen sich auszeichneten. Kein einziger meiner Verehrer hätte in dieser Umwandlung mich als Die wieder erkannt, die ich noch am Morgen vor dem Feuerwerke war, und doch bin ich überzeugt, nie wahrhaft liebenswürdiger gewesen zu sein, als während meines Aufenthalts in diesem Hause. Ich fühlte das wohl und freute mich darüber, aber ich war leider noch nicht klug genug, um mir daraus für mein künftiges Leben eine Lehre zu nehmen.
Das Reisegefolge der Herzogin war so klein als der hohe Rang dieser Fürstin es nur immer[219] erlauben mochte. Ausser dem, zur Bedienung nothwendigen Personal, bestand es nur aus einer Hofdame, die mit der Herzogin von Jugend auf zusammen gelebt hatte, aus der Hofmeisterin der Prinzessinnen, einem Kavalier und dem Leibarzte. Ersterer, Baron Reineck, ein Mann von mittlerem Alter, langte erst am Morgen nach dem Feuerwerke bei seiner Fürstin an. Ein ganz unerwarteter Zufall hatte ihm unterwegs eine geliebte, seit vielen Jahren nicht gesehene Schwester entgegen geführt, und die Herzogin erlaubte ihm gern, ein paar Tage mit dieser zuzubringen, um so eher, da Herr von Leuen, den sie zufällig an dem nehmlichen Orte traf, sich erbot, den Dienst seines Freundes Reineck während dessen Abwesenheit zu versehen. Diesen jungen Mann führte sein Weg ohnehin dem nehmlichen Ziele zu, da er Geschäfte halber einige Zeit in unsrer Stadt zu verweilen gedachte; die Fürstin hatte ihn schon während des vergangenen Winters, den er zum Theil in ihrer Residenz verlebte, als einen sehr angenehmen Gesellschafter kennen gelernt, und sie[220] war mit der Aussicht, ihn einige Tage zum Begleiter zu haben, vollkommen zufrieden. Auch jezt nach der Rückkehr des Barons Reineck erlaubte sie ihm nicht, eine andere Wohnung als die ihrige zu beziehen, und er mußte, ihrer Einladung zufolge, nach wie vor, zu den unsrigen gehören. Ich darf mich dieses Ausdrucks wohl bedienen, denn auch ich ward in jener glücklichen Zeit dem kleinen Kreise der Herzogin zugezählt.
Wir alle, die wir zu diesem gehörten, versammelten uns jeden Abend im Zimmer der Fürstin, das um diese Zeit unter dem Vorwande des Unwohlseins der kleinen Prinzessin Mathilde, allen andern Besuchen verschlossen blieb. Welche Abende waren das! Wie ungeduldig erwartete ich jedesmal die Stunde, wo die Herzogin von der Tafel zurückkam, zu der sie täglich einige der Ersten der Stadt einladen lies. Mit welcher Freude sah ich jedesmal die beiden himmellangen Heiducken in ihrer damals üblichen theatralisch-bunten Tracht in meinem Zimmer erscheinen,[221] um mich in meinem Ruhebette zu ihrer Herrin herüber zu tragen.
Die feinste Sitte war in diesem kleinen Abendzirkel vorherrschend, und dennoch blieb aller Zwang, jede von den Grossen dieser Erde sonst unzertrennlich geglaubte Etikette daraus verbannt. Es war der schönste Kommentar zu Tasso's freilich damals noch nicht niedergeschriebenem Ausspruch: ›Willst Du genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an.‹ Jeder von uns trug nach seiner Weise durch Scherz und Ernst, durch Kunst und Talent zur Unterhaltung bei, die Herzogin selbst aber schwebte über dem Ganzen gleich einem milden, alles belebenden Genius. Nie, weder früher noch später, sah ich eine Frau, die mit so anspruchsloser Grazie das Gespräch stets so zu lenken wußte, daß Alle Freude daran hatten; nie sah ich eine, welche die schwere Kunst zuzuhören so verstanden hätte, wie sie. Sie war die erklärteste Feindin aller jener geselligen Neckereien, die so leicht in bittere Persönlichkeiten ausarten, und doch hatte der ungefesselteste[222] Witz freies Spiel, so lange er nur ergötzen und nicht verwunden wollte. Niemand durfte in ihrer Nähe sich zurückgesezt fühlen, niemand bedrückt, niemand in seinen Rechten oder auch nur in seinen Empfindungen gekränkt.
Ich staunte meine hohe Meisterin an; sie war so himmelweit von jenen berühmten Frauen in Paris verschieden, die mein Vater als Muster aller weiblichen Vollkommenheit mir so oft beschrieben und angepriesen hatte. Zum erstenmal kam eine Ahnung davon in meine Seele, daß Jugend, Schönheit, Geist, blendender Witz und die Gabe, über jeden Stoff interessant reden zu können, noch lange nicht alles sind, was wir bedürfen, um liebenswürdig und allgeliebt zu seyn, und daß man mit weit weniger brillantnen Eigenschaften dennoch weit sicherer und dauernder dieses Ziel erreiche, wenn Herzensgüte, ächtes Wohlwollen und anspruchlose Natürlichkeit aus unserm ganzen Wesen denen entgegen leuchten, die uns nahen.[223]
Bernhard von Leuen stand in unserem kleinen geselligen Verein, als Seele desselben, der Herzogin würdig zur Seite. Man sah, er war ein Mann, der, unerachtet seiner Jugend, fest und sicher seinen Weg gieng, ohne je, gleich einem Irrenden, bald nach diesem, bald nach jenem zu greifen. Unerachtet seiner sehr vortheilhaften äussern Bildung und übrigen bedeutenden Vorzügen, lag in seinem Benehmen nicht die leiseste Spur eines Bestrebens, auffallen oder glänzen zu wollen. Der Grundton seines Wesens schien vielmehr eine gewisse ernste Ruhe zu sein, die ihm nie erlaubte, sich irgendwo vorzudrängen; er lies lieber alles an sich kommen, und gieng niemals, auch nur um einen halben Schritt, der Bewunderung entgegen. Höflich gegen alle, besonders gegen Damen, blieb er doch stets von dem mitunter etwas faden Tone der damaligen jungen und alten Herren entfernt, und erzeugte uns die Ehre oder die Gerechtigkeit, uns wie vernünftige Wesen und nicht wie Kinder zu behandeln. Ohne geradezu witzig zu sein, war er[224] die Zierde jeder bedeutenden Unterhaltung, denn er besaß die herrlichste Gabe des Worts, die mir je vorgekommen. So oft irgend ein hohes den Menschen ehrendes Gefühl ihn dazu begeisterte, riß der ihm eigne Zauber seiner Ueberredungskraft auch den Kältesten hin. Jeder fühlte, daß das Unwiderstehliche derselben nicht allein in der sorgsamen Wahl seiner Worte, und nicht in der eigenthümlichen Schönheit des vollen reinen Tons seiner Stimme lag; es lag weit tiefer, denn was er sagte, war nicht blos das Erzeugniß seines hellen Verstandes, es kam recht aus dem Grunde seines schönen Herzens und mußte darum wieder zum Herzen gehen. Er war viel gereist; das Schönste und Erhabenste, was diese Erde trägt, hatte er gesehen; ein guter Genius hatte ihn gelehrt, es sich anzueignen für die Erweiterung seiner Kenntnisse sowohl, als fürs praktische Leben, und man sah es ihm an, daß er wohl wußte, was die Welt von ihm und er von der Welt zu fordern habe.[225]
Scheltet mich nicht, daß mein altes Herz sich noch jugendlich warm im Lobe meines Freundes, vielleicht zu wortreich, ergießt. Er war so wie ich ihn Euch beschreibe, ich sah nie seinesgleichen und werde es nie wieder sehen. Wenn er uns vorlas, was, dem Wunsch der Herzogin gemäs, täglich wenigstens eine Stunde lang geschah, wie hieng ich und wie hiengen wir alle dann mit ganzer Seele an seinen Lippen, an dem Ausdrucke seines edlen Gesichts. Durch ihn zuerst lernte ich deutsche Poesie und jenen hohen Wohllaut kennen, dessen unsere, von mir so lange verkannte Sprache fähig ist. Ihr habt nicht vergessen, daß ich bis dahin durch meinen Vater, ausser einigen italienischen und englischen Klassikern, nur hauptsächlich die französische Litteratur kennen gelernt hatte. Fast alle unsere deutschen Schriftsteller waren mir fremd geblieben, vor allen, die damals aus langer tiefer Nacht glorreich entstehende Poesie meines Vaterlandes. Die Herzogin sowohl, als Bernhard von Leuen, genossen meine freudige Ueberraschung mit jener[226] wohlwollenden und wohlthuenden Empfindung, mit der wir einen Freund zum erstenmal' an den schönsten Punct einer uns längst bekannten reitzenden Gegend führen, oder ihn vor ein ihm noch unbekannt gebliebenes herrliches Kunstwerk hinstellen, und in seinem Entzücken den Moment noch einmal durchleben, in welchem auch wir zum erstenmal' an der Stelle standen, wo er jezt steht.
Das alles ist dahin! und mit einem sehr trüben Gefühle der Wandelbarkeit, des menschlichen Sinnes und aller Grösse und alles Ruhms auf Erden, muß ich es erleben, daß das Wirken jener Männer, deren Namen ewig unser Stolz sein sollte, eigentlich schon jezt an ihren undankbaren Enkeln verloren geht. Wie lange wird es dauern, so ist es ganz vergessen und verschollen, während wir aus Modesucht und Misverstand Handwerksburschen-Lieder aufsuchen und sie als Meisterwerke bewundern und sammeln. Wer in der jezigen leselustigen jungen Welt kennt noch Kleists Frühling anders, als höchstens vom Hörensagen,[227] während jeder nur halb gebildete Engländer seinen Thomson beinahe auswendig weis, dessen Andenken neue Auflagen seiner Werke alljährlich erneuern. Sinkt nicht sogar Klopstock, der vor wenigen Jahren noch unter uns lebte, allmählig der Vergessenheit zu? Man nennt ihn noch zuweilen aus Gewohnheit, oder aus einer Art von Pietät, aber wie Viele in der jungen Welt kennen mehr von ihm als den Namen? So ists mit Hagedorn, mit Utz, mit Cronegk, mit Haller, mit Hölty, mit so vielen, die der Ausländer zu unsrer Schande bald besser kennen wird, als wir, während wir mit wahrem Heishunger auf die neuen Erzeugnisse der Zeit, auf Tageblätter und Taschenbücher uns werfen, die schon beim Entstehen den Keim der Vergänglichkeit in sich tragen, und auch nicht einmal verlangen, länger zu leben als der Augenblick, durch den und für den sie entstanden.
Mit einem ganz unnennbaren Gefühle hörte ich einzelne Gesänge aus Klopstocks damals unlängst zuerst erschienenem Messias vorlesen, und[228] die Bemerkungen von Leuen und der Herzogin über das eben Gehörte ergriffen mich nicht weniger wunderbar. So war ich es nicht gewohnt, dieser heiligen Gegenstände erwähnen zu hören; vieles schien mir sogar unverständlich, sowohl was sie sagten, als was vorgelesen ward, und doch ergriff mich dabei eine mir selbst unerklärliche, nie zuvor von mir gekannte Rührung. Oft fühlte ich mich über mich selbst erhoben, und zum erstenmale drang ein erwärmender Strahl jenes Lichtes in mein Gemüth, das jezt der Trost meines Alters ist; indem es die dunkle Bahn sanft erleuchtet, die ich bald werde zu wandeln haben.
So sehr mein Geist und mein Gemüth durch alles dieses angeregt und angesprochen wurde, so muß ich indessen doch gestehen, daß ich nach Mädchenart es dennoch nicht unterlassen konnte, das innige Wohlgefallen zu bemerken, mit dem Bernhards Auge auf mir ruhte, so oft er sich unbeachtet glaubte. Ich sah es recht gut, wie er alle die schönsten, zartesten, ergreifendsten Stellen[229] der Poeten, welche er besonders liebte und deshalb auswendig wußte, gerade mir allein durch Blick und Ton zuzueignen schien. Wäre mir hiebei noch irgend ein Zweifel übrig geblieben, so hätte manch heimliches Lächeln der Anwesenden, manche leicht hingeworfene Bemerkung mich in meinen Beobachtungen bestärken müssen. Er war durchaus kein homme aux petits soins, und doch konnte nichts Zarteres erdacht werden, als die. tausend kleinen, fast unmerklichen Aufmerksamkeiten, welche er mir stündlich erwies. Wie oft sah ich ihn erbleichen, wenn zuweilen der Schmerz in meinem Fuße plötzlich auf ein paar Minuten wiederkehrte, und ich mit einem nicht zu unterdrückenden Wehelaut zusammenzuckte! Jene wahrsagende Stimme, die schon seit Anbeginn der Welt in jedem Mädchenherzen wohnt und bis ans Ende der Tage darin wohnen wird, sagte auch mir: ich sei geliebt, heiß geliebt von dem seltensten edelsten Manne, vor welchem alle meine übrigen Anbeter und Bewunderer sammt und sonders in traurige Unbedeutenheit zusammensanken.[230] Auch Bernhard las in meinem Herzen, und ich versuchte es zwar nicht, ihm dieses zu wehren, aber ich gestand mir auch nicht, daß ich es ihm erlaube; sondern ich lies es gleichsam wie achtlos geschehen. Beide waren wir nun überglücklich im seeligsten Empfinden des ersten, leisen, zarten Verstehens zweier in eins zerfliessender Gemüther. Wir fühlten es wohl, wir wußten es wohl, was wir eins dem andern waren, aber um die Welt hätten wir es noch nicht aussprechen mögen, denn die erste Liebe lernt nicht sobald Worte finden und kann sie auch entbehren.
O wär' ich länger in diesem Verhältnisse geblieben. Wie ganz anders hätte mein Leben sich gewendet. Doch die Prinzessin Mathilde genas wieder, die Herzogin sezte ihre Reise weiter fort und ich kehrte nach zwei kurzen, mit Flügelschnelle an mir vorüber geeilten Wochen, völlig hergestellt, in das Haus meines Vaters, zu meinen alten Umgebungen, zu meiner gewohnten Lebensweise zurück.[231]
Mir war, als erwache ich aus einem langen schönen Traume, doch auch dies Erwachen hatte sein Angenehmes, und ich weinte nicht wie Kaliban, um wieder einzuschlafen. Hatte ich doch auch in manchen Stunden die Trennung von meinem Vater und vielleicht auch eine gewisse Abhängigkeit vom Willen Anderer, deren ich nicht gewohnt war, wenn nicht schmerzlich, doch wenigstens unbequem gefühlt; und war Er doch zurück geblieben, um, wie er gleich anfangs es angekündigt hatte, einige Geschäfte hier abzumachen. Bernhard von Leuen lies sich bei meinem Vater einführen, dessen Bekanntschaft er schon früher bei der Herzogin gemacht hatte, und von nun an besuchte er fast täglich unser Haus.
Der gewohnte Kreis unsrer Hausfreunde und Bekannten empfieng mich mit lautem Jubel und tiefer Verehrung in seiner Mitte, als wäre ich eine Königin, die nach langer Abwesenheit in ihre Staaten wieder zurückkehrt. Der Ton in unserem Hause hatte sich während meiner kurzen Entfernung aus demselben nicht im mindesten verändert. Französirende[232] Witzeleien, dreistes, oft zugleich auch unbefugtes Absprechen über jeden Gegenstand, rücksichtloses, unbarmherziges Verspotten, wenn nicht des Heiligsten selbst, doch dessen, was vielen für heilig gilt, war bei uns, nach wie vor, an der Tagesordnung. Stundenlang konnte die lebhafteste Unterhaltung sich um ein Nichts herumdrehen, hingegen besprachen auch zuweilen besser unterrichtete Männer, an deren Spitze mein Vater stand, sich klar und verständig, belehrend und gründlich über viele der bedeutendsten Gegenstände des Lebens, der Kunst, der Wissenschaft. Die mehresten unter dem jüngern Theile der Gesellschaft zogen sich von diesen Gesprächen verstummend zurück, nur Bernhard nahm stets mit höherem Interesse Theil daran. Ich hingegen mischte nach alter Gewohnheit mich in alles, es mochte Ernst sein oder Scherz, und fand oft ein ganz eignes Vergnügen darin, alles launenhaft durch einander zu wirren. Denn leider trat die alte Gewohnheit des Lebens bald wieder in ihre Rechte; jeder Tag drängte die Erinnerung[233] an jene bessere, nur zu kurze Zeit, die ich bei der Herzogin verlebt hatte, mehr in den Schatten zurück, und in den alten Umgebungen ward ich selbst wieder nur zu schnell, was ich früher gewesen war.
Es wird Euch unglaublich dünken, wenn ich Euch sage, daß ich mit heimlicher Freude das Erschrecken bemerkte, mit welchem von Leuen mich im väterlichen Hause so ganz verschieden von dem fand, was ich in der Nähe und den Umgebungen der Fürstin gewesen war. Doch leider war ich thöricht und verwöhnt genug, die sichtbare Bewegung, in die er bei dieser Entdeckung gerieth, für ein Zeichen bewundernder Ueberraschung anzusehen, und mein Betragen ward von nun an mit jedem Tage übermüthiger und kecker. Neben der Freude an meines Vaters Beifall riß theils die überlaute Bewunderung unsers Kreises mich hin, theils wollte ich vor Bernhards Augen recht glänzend und liebenswürdig mich zeigen, und so überbot ich denn mit jedem Tage mich selbst bis zur höchsten Anstrengung meiner geistigen Kräfte.[234] Ich witzelte mit Jenem, neckte mich mit diesem, entschied überall, oft über Dinge, von denen ich nichts wissen konnte, und lachte mich selbst zuerst aus, wenn ich dabei in grobe Irrthümer verfiel, was wohl zuweilen vorkam.
Ich war nicht verblendet genug, den tiefen leidenschaftlichen Schmerz zu übersehen, der jezt Bernhards schöne Züge nur zu oft umdüsterte, doch ein paar an ihn gerichtete freundliche Worte, wenn er sich dessen am wenigsten versah, ein unbedeutender Vorzug, den ich unerbeten und zuvorkommend ihm vor den Uebrigen einräumte, verfehlten es nie, diesen schmerzlichen Ausdruck seines Gesichts in den der innigsten Liebe umzuwandeln. So glaubte ich, in seinem momentanen Trübsinne nur die Wirkung einer Eifersucht zu sehen, die mir nicht anders als schmeichelhaft sein konnte. Ich fühlte, wie er mit ganzer Seele an mir hieng, und hatte eine wahrhaft kindische Freude daran, ihn nach Belieben an einem seidenen Faden flattern zu lassen. Ich glaubte weder, daß er diese leichte Fessel zerreissen, noch daß[235] sie ihm drückend werden könne, denn er schien sie so gern zu tragen, und ich hatte keine Mutter, keinen Freund; gütig und weise genug, um mich aufmerksam darauf zu machen, wie sehr dieser Misbrauch der Gewalt, die ein freundliches Geschick mir über das edelste Gemüth gegeben, seiner und meiner unwürdig sei.
Indessen verband ich mit diesem wunderlichen Betragen auch noch ganz insgeheim die Absicht, meinem Freunde dadurch mehr gesellige Leichtigkeit anzubilden, das Einzige, was ihm in meinen Augen noch zur Vollkommenheit fehlte. Bei dem grosartigeren, ernster gehaltenen Tone, der in den Umgebungen der Herzogin vorherrschend war, hatte ich an ihm nicht das geringste auszusetzen gefunden; doch in meinem eigenen Kreise erschien er mir jezt oft nicht gewandt genug, und ich war zuweilen in meinem Herzen recht trostlos darüber, wenn ich ihn in dieser Hinsicht von übrigens ganz unbedeutenden Gesellen übertroffen zu sehen glaubte. Ich selbst war ja[236] vor allen Dingen brillant, und alles, was zu mir gehören wollte, mußte es auch sein.
Bernhard schien indessen wenig geneigt, sich hierin meinen Wünschen zu fügen, und dem wesenlosen Schimmer nachzujagen, den ich an ihm vermißte. Wie er von jeher gewesen, so blieb er, und wenn die Gecken um ihn her ihr loses Spiel ihm ein wenig zu nahe trieben, so wußte er, schroff und imponirend genug, sich vor ihren Augen zu erheben, um sie in gehöriger Entfernung von sich abzuhalten. Dies war es nun wohl nicht, was ich eigentlich gewollt hatte, doch konnte es mich nicht verdriessen; ich ward nur heimlich um so stolzer auf meinen Freund. Bernhard bemerkte meine Zufriedenheit in solchen Augenblicken, wenn gleich ich sie mir selbst kaum gestand, und diese Entdeckung gab ihm sogar einst den Muth, einen günstigen Augenblick zu benutzen, um mir über das Schaale und Zwecklose unsers Treibens recht ernstliche und eindringende Vorstellungen zu machen. ›Wie können Sie, theures Fräulein,‹ sprach er zu mir, ›wie[237] können Sie, die Sie so reich begabt sind, an der geistigen Armuth dieser Leute Freude finden? Wie ist es möglich, daß der Wirbel dieser Geselligkeit Sie so hinreißt? Ich selbst, glauben Sie es nur, ich selbst könnte in diesem nichtigen Treiben, dem Sie viel zu nachsichtig sich hingeben, Sie verkennen, wenn jene ersten schönen Tage, die ich in Ihrer Nähe verlebte, mir nicht noch in zu heller Glorie vorschwebten. Nie werde ich jener Zeit vergessen, lassen Sie sie wiederkehren, Sie können es, sobald Sie es wollen, sein Sie nur wieder Sie selbst!‹
›Das bin ich allemal,‹ erwiederte ich ihm lachend, ›ein fröhliches Geschöpf, das wohl zuweilen recht ernsthaft sein mag, das sich aber auch herzlich gerne amüsirt, und zum Amüsiren schicken die Thoren sich am besten.‹
›Sich amüsirt,‹ wiederholte Leuen, ein ganz klein wenig erbittert, ›was heißt denn amüsiren? Das Leben zu vergessen suchen, von den Tagen einen dem andern, in nichts sagendem und nichts wollendem Spiel so rasch als möglich nachjagen,[238] damit nur von Keinem eine Spur übrig bleibe, damit man nur gar nicht zur Besinnung komme. O Fräulein, Sie, die Sie so glücklich sein könnten, indem Sie andere beglücken,‹ rief er mit hohem Erröthen; hingerissen von seinem Gefühl, und ergriff dabei meine Hand. ›Theure, theure Anna, mögen Sie des Lebens immer, immer sich freuen, das Köstlichste, das es bieten kann, möge es zu Ihrem Ergötzen stets bereit sein; möchten alle Ihre Tage eine ununterbrochene Kette Ihrer würdigen Freuden werden und‹ – hier stockte er ein wenig, dann sezte er in gelassenem Tone hinzu: ›doch amüsiren? Liebes Fräulein, überlassen Sie diesen nüchternen Rausch allen denen, die nicht minder tief unter Ihnen stehen, als jene Menschen, denen Sie es erlauben, Sie, ihrer Unbedeutenheit unerachtet, zu umflattern.‹
›Sehen Sie, von Leuen,‹ erwiederte ich freundlich, wenn gleich innerlich nicht ganz zufrieden, ›sehen Sie, indem Sie auf das unschuldige Amüsiren schelten, sind Sie selbst höchst[239] amüsant, denn Sie nehmen für Ernst, was gar nicht so gemeint ist, und eben das ist ja erst der rechte Spaß. Werden Sie denn nie lernen, Ihre Freunde auch unter der Maske zu erkennen?‹
›Aber wenn sie tagtäglich immer und ewig in der Maske einher gehen?‹ erwiederte er.
Ich fiel ihm rasch ein. ›Im Karneval thut man das, und die Jugend ist das Karneval des Lebens. Sein Sie doch zufrieden, daß Sie zu den sehr Wenigen gezählt werden, in deren Nähe man die Maske gern und recht oft ein wenig lüftet. Und nun, Herr Griesgram, kommen Sie an den Flügel, mir Amiets Klagen von unserem Lieblinge Kleist zu akkompagniren. Ich verspreche Ihnen dagegen, den ganzen Abend recht artig zu sein, wenn nehmlich nichts dazwischen kommt, das mich anderes Sinnes machen könnte.‹ Bernhard folgte mir willig, mit jenen aus Liebe und Zorn zusammengeseztem Ausdrucke in seinen Zügen, den wir so gern als den sichersten Beweis unserer unumschränkten Herrschaft[240] anzusehen uns gewöhnen, und ich sang heimlich triumphirend ihm vor: ›Sie fliehet fort, es ist um mich geschehen, ein weiter Raum trennt Lalage von mir.‹
Von nun an fielen beinahe alle Tage ähnliche Scenen zwischen uns beiden vor, die von Leuen oft ziemlich künstlich herbeizuführen wußte. Oft sah ich das offne Geständnis seiner Liebe auf seinen Lippen schweben, mein Herz klopfte ihm entgegen, aber ein ganz eignes Gemisch von Stolz, Verlegenheit und mädchenhafter Scheu, verbunden mit dem lebendigsten Bewustsein dessen, was ich selbst für ihn empfand, bewogen mich jedesmal, ihm auf irgend eine Art zu entgehen, und wäre es auch nur durch die erste beste Posse gewesen, die mir eben durch den Sinn fuhr. Mein Vater freute sich unserer gegenseitigen, täglich wachsenden Neigung zu einander, die seinem Scharfblicke nicht entgieng; doch hielt er es für das Gerathenste, nichts, weder dafür noch dagegen, zu unternehmen.[241]
In unserem geselligen Kreise begann man um diese Zeit ebenfalls, mich als die Braut des Herrn von Leuen zu betrachten, obgleich ich jede darauf hinzielende Anspielung nur mit einem stolzen Lächeln beantwortete. Uebrigens hörte ich alles an, was man über diesen Gegenstand sagen mochte, ohne sonderlich weiter darüber zu denken.
Meine Zukunft breitete sich unabsehbar vor mir aus, ich war glücklich in der Gegenwart, der Augenblick erfüllte mich so ganz, daß ich alles gehen lies, wie es gieng, ohne Sorge und ohne Vorbedacht.
Bernhards mit jedem Tage zunehmender Ernst, verbunden mit manchem andern Zuge in seinem Benehmen hätte bei einzelnen Gelegenheiten mir wohl einen grossen Kampf in seinem Gemüthe andeuten können, doch ich bemerkte nichts davon, oder glaubte nicht daran, und so kam dann der verhängnisvolle Abend herbei, der über meine Zukunft entschied, ohne daß ich Verblendete seine Nähe vorahnend empfunden hätte.[242]
Ist es denn nicht immer so? Spielen wir nicht immer, achtlos wie Kinder, am Rande eines Abgrundes, während wir der Hand ausweichen oder sie wohl gar unsanft zurückstossen, die uns vor dem Fall bewahren möchte, weil sie nicht vermeiden kann, uns zuweilen etwas unsanft zu ergreifen.
Unsre gewohnte Gesellschaft war eben eines Abends zahlreicher als gewöhnlich versammelt, und das sehr animirte Gespräch drehte sich rasch um einen Gegenstand, welcher damals die ganze hiesige elegante Welt auf das allerlebhafteste beschäftigte. Es galt einem, nach mehrjährigem Aufenthalte im Auslande eben wieder in der Heimath frisch angelangten jungen Manne. Er hatte sich lange in Paris, sogar auch ein paar Monate in Rom aufgehalten, und eignete sich folglich auf das vollkommenste dazu, in seiner Vaterstadt den Ton anzugeben, was damals für Seinesgleichen weit leichter war als jezt. In unseren Tagen geht alle Welt auf Reisen, und dies macht uns gegen Weitgereiste viel gleichgültiger,[243] die in meiner Jugend weit mehr galten. Wer Paris, diese damals allgemein anerkannte Königin aller Städte, gesehen hatte, erhielt schon allein dadurch ein gewaltiges Uebergewicht in der Gesellschaft, und wer nun vollends in Rom gewesen war und vom Pantoffel des Papstes etwas zu erzählen wußte, den betrachtete man sogar mit einer eignen Art von ehrfurchtsvoller Scheu als Einen, der Grosses unternommen und vollbracht hatte.
Der junge Wiesenau, so hieß der Vielgereiste, benuzte im vollsten Maße den Vorzug, den dieses Vorurtheil seiner Zeitgenossen ihm gewährte. Nichts von allem, was er bei uns antraf, konnte, so wie es eben war, vor seinen Augen Gnade finden; er verdammte alles, nannte alles lächerlich, zum Erbarmen, Ekipagen und Hausgeräth, Kleidung und Frisur. Dafür aber war er auch eben so unerschöpflich als bereitwillig im Angeben der neuesten Pariser Moden, und gieng dabei in die kleinsten Details ein, ohne zu ermüden. Unsre sämmtlichen jungen Herren wollten[244] verzwèifeln, weil die, Tag und Nacht arbeitenden Handwerker mit aller möglichen Anstrengung dennoch nicht im Stande waren, alles gleich so herbei zu zaubern, wie Wiesenau es hatte; denn der Scepter der Mode regierte vor dreißig bis vierzig Jahren weit despotischer als jezt, und wer im Schnitte der Kleidung oder in der Form seiner Umgebungen nur im geringsten von ihrem neuesten Gesetze abwich, der durfte kaum es wagen, sich sehen zu lassen, wenn er nicht schon früher auf Eleganz und Modernität Verzicht geleistet hatte.
Daß auch unter den Damen dies gereiste Wunder gewaltiges Aufsehen erregen mußte, versteht sich wohl von selbst. Glückseelig war die, mit der Herr von Wiesenau sich unterhielt, noch glückseeliger die, welche auf einige Stunden den leichten Schmetterling zu fesseln wußte. Am allerglückseeligsten aber achtete man einige wenige Beneidenswerthe, denen er eine von ihm mitgebrachte grosse, mit mehreren Anzügen versehene Pariser Modepuppe mittheilte, von der Art, wie[245] sie damals alle Monate von Paris aus an die bedeutendsten Höfe von Europa versendet wurden, und nach deren Muster die von Wiesenau dazu Auserwählten sich durch Anzug und Kopfputz fast bis zum Unkenntlichen umgestalteten.
Uebrigens galt dieser junge Mann nicht nur im Aeussern für die Krone aller eleganten Modernität, er wurde auch allgemein als der witzigste, liebenswürdigste, zierlichste Petitmaitre bewundert, den man seit wenigstens funfzig Jahren gesehen. Jedermann trug sich mit allerliebsten Anekdoten und witzigen Einfällen von ihm herum; nur von Leuen, der ihn früher im Auslande angetroffen hatte, wollte mit dem allgemeinen Chor der Bewunderer des jungen Herrn nicht recht übereinstimmen. Er erklärte ihn für einen faden, dreisten Gecken, den man selbst in den grossen Städten, welche er besucht hatte, sehr oft zur Zielscheibe des Witzes misbraucht habe, und der nichts weiter verstehe, als auswendig gelernte Melodien Dompfaffenartig abzuleiern.[246]
Ich selbst, die ich den Helden des Tages noch gar nicht gesehen hatte, war in Hinsicht auf ihn ziemlich unpartheyisch gesinnt. Da mir an seiner Modepuppe nichts lag, so hatte er für mich weit weniger Anziehendes, als für andere meines Gleichen. Nach allem, was ich von ihm hörte, und da ich ohnehin immer gern eine Oppositionsparthey bildete, war ich in meinem Herzen vielmehr geneigt, die Meinung des Herrn von Leuen in Hinsicht auf ihn anzunehmen. Doch er war in dem Augenblick Mode, er war brillant, das lies sich nicht abstreiten, und so beschloß ich denn, ihn fürs erste an meinen Siegeswagen ein wenig mitziehen zu lassen, sobald sich nur die Gelegenheit dazu fände. Diese fand sich, noch ehe ich es erwarten konnte, am nehmlichen Abend, denn einer unsrer Hausfreunde führte an demselben den Vielbesprochnen bei uns ein.
Nur vom Theater aus könnt Ihr, lieben Kinder, jezt eine Idee, und noch dazu nur eine höchst unvollkommene, von dem bekommen, was ein Stutzer jener Zeit eigentlich war; denn,[247] Gottlob, in der Wirklichkeit ist diese Art gänzlich bei uns ausgegangen. Ich wünsche meiner Nachwelt Glück zu diesem Verluste, denn, obgleich ich das, was an die Stelle jener Karikaturen getreten ist, eben so wenig unbedingt loben mag, so ist doch die Thorheit der jezigen Zeit weniger erniedrigend, wenn gleich vielleicht nicht minder groß. Kaum konnte ich selbst des Lachens mich enthalten, als die verdrehte, gezierte parfümirte Figur des Allbewunderten zuerst, mit unnachahmlicher Grazie tief sich bückend, mir die Hand küßte und dabei mit seinen à la Maréchal gepuderten ailes de pigeon nahe an meinem Knie vorüber streifte; denn in dieser Uebertreibung hatte ich noch keinen gesehen. Doch das Männchen hatte in Paris schwatzen gelernt, es hatte mitunter Einfälle, die gar nicht übel waren, und besaß obendrein jenen übermüthigen Ton oberflächlicher, keine Schonung kennender Persiflage, in die ich nur allzugut einzugehen wußte. So kam es an jenem Abende nur zu bald dahin, daß wir beide in der Gesellschaft die Wortführer[248] machten, denen der Chor der übrigen in abgemessnen Pausen Beifall zuzurufen und zuzulachen sich begnügte.
Das Gespräch nahm bald eine Wendung, die, wie ich selbst es mir nicht verbergen konnte, meinem Freunde durchaus verhaßt war; doch in meinem Uebermuthe lies ich darum nicht davon ab, sondern wetteiferte mit dem neuen Ankömmling in unbarmherziger Verspottung alles dessen, was zufolge der damaligen modernen Aufklärung, die französirenden Schöngeister Vorurtheil nannten; daneben aber ward auch manches abwesende Mitglied der Gesellschaft bei dieser Gelegenheit von unsern Pfeilen nicht verschont.
Erlaßt es mir, meine Lieben, Euch die näheren Details eines Gesprächs zu geben, das ich noch immer nur mit tiefem Schmerz Euch wiederholen könnte und das ich so gern vergässe, ohne daß es mir bis diesen Augenblick hätte gelingen wollen, es aus meinem Gedächtnisse zu tilgen.
Die gespannteste Aufmerksamkeit unserer Zuhörer, nur dann und wann von schallendem Gelächter[249] unterbrochen, lohnte unser Bestreben zu glänzen; selbst mein Vater hörte lächelnd und wohlgefällig uns zu, während Bernhard immer ernster und schweigsamer ward. Ich sah den verhaltnen Unwillen in seinen dunklen Augen blitzen, ich las den stummen Schmerz über mein Betragen in seinen Zügen, aber es fiel mir nicht ein, ihn deshalb zu schonen. Meine unseelige Eitelkeit verleitete mich zu dem Versuche, trotz seiner Unzufriedenheit mit mir, seine Bewunderung durch eben das zu ertrotzen, was diese Unzufriedenheit in ihm rege machte, und so trieb ich es immer ärger, bis er nicht mehr im Stande war es zu ertragen.
Ich saß in einer Ecke neben dem Kamin, dieses, der Kaminschirm und ein kleiner Tisch, der seitwärts vor mir stand, sonderten mich ein wenig von der Gesellschaft ab, die mir gegenüber einen Halbkreis bildete. Bernhard fand indessen doch einen Weg, ziemlich unbemerkt hinter meinen Armstuhl zu gelangen, und über die Rücklehne desselben gebeugt, mir die Bitte zuzuflüstern,[250] diese wunderliche Unterhaltung doch endlich abzubrechen. Doch vergebens! ich gab mir im Gegentheil das Ansehen, ihn gar nicht zu verstehen. Jezt wurden seine Bitten immer dringender, sie gestalteten sich endlich zu Warnungen um, und hingerissen von der Gluth der Leidenschaft, von seinem empörten Gemüthe und dem Schmerze des Augenblicks, mischte er endlich, ganz ohne es zu wollen, das so lange zurückgehaltne Geständnis der glühendsten innigsten Liebe in das dringendste Flehen um Rückkehr zu mir selbst und meiner bessern Natur.
Dieser Moment war der höchste Triumph meines Lebens. Jezt hatte ich, was zu erhalten, meine kühnsten Einbildungen kaum erträumen konnten. Er, Bernhard von Leuen, mußte, mitten im Zorn' über mich, den stolzen Sinn vor mir beugen, und meine Siegergewalt anerkennen. Doch auch mein Herz wallte in heisser Liebe ihm entgegen, ich hätte die Welt darum hingeben mögen, um in diesem Moment unbelauscht ihm alles gestehen zu dürfen, was ich dachte und empfand, und[251] doch trieb mich ein unüberwindlicher Uebermuth, eine wirklich dämonische Lust an seiner Quaal, das verhaßte Spiel noch immer nicht aufzugeben. Ich war mir ja bewußt, diese Quaalen jeden Augenblick in Entzücken umwandeln zu können.
Innerlich zu aufgeregt, um genau zu wissen, was ich that, erschien ich jezt wirklich glänzender, an geistreichen Einfällen unerschöpflicher, als je, und Bernhard stand da, bleich und stumm. Kein guter Engel gab es mir in die Seele, aufzuhören, weil es noch Zeit sei; es war vielmehr, als sei ich, zur Strafe meines Uebermuthes, den dunkeln, unheilbrütenden Mächten anheim gefallen, von denen man glauben könnte, daß sie jene kleine Zufälligkeiten leiten, die oft eben so unerwartet als zerstörend in unser Leben treten.
Solch ein Zufall war es gewiß, der, ich weis bis diese Stunde nicht wie es geschah, die Pfeile unseres Witzes gegen Bernhard selbst wendete. In der Art von Bewustlosigkeit, in die mein Benehmen ihn versezt hatte, gaben vielleicht ein paar unbedachte Worte, die er hinwarf, den[252] ersten, wirklich nicht gesuchten Anlaß dazu. Doch er war zu erschüttert, zu aufgeregt in den tiefsten Tiefen seines Gemüthes, als daß er es vermocht hätte, wie sonst wohl geschah, den Angriff auf seine Gegner zurückprallen zu lassen. Das kalte Spiel widerte seinem glühenden Herzen zu sehr an, als daß er mit Glück daran hätte Antheil nehmen können. Er versuchte zwar, sich zu vertheidigen, aber er verwirrte sich in dem Versuch, und fand zum erstenmale nicht das passende Wort für das, was er sagen wollte. Ich sah es, seine Verwirrung erhöhte das Gefühl meines Triumphes, hingerissen von der übermüthigsten Freude, war ich unbesonnen genug, einen seiner Ausdrücke aufzunehmen, dem eine lächerliche Seite sich abgewinnen lies.
Bernhard sah mich an und schwieg ganz fassungslos. Den Blick vergesse ich nie.
Jezt entstand plötzlich eine allgemeine, unendlich peinliche Stille um mich her. Ich glaubte zu fühlen, daß man in ihm mich schonen wolle, ich vergaß, daß wahrscheinlich keiner der Anwesenden[253] Lust haben konnte, den Scherz gegen den so oft Beneideten fortzusetzen, dessen Ueberlegenheit ein jeder von ihnen oft genug erfahren hatte, um sie zu scheuen. Ich blickte auf und mein böser Dämon zeigte mir, wie ein heimlich triumphirendes Lächeln auf allen diesen Gesichtern mir entgegen grinste, und er allein stand, der gewohnten Waffen beraubt, mitten unter dem, mir in diesem Moment unbeschreiblich verhaßten Haufen, der sich das Ansehen gab, ihn mitleidig schonen zu wollen,
Jezt begann ich in meinem Gemüthe seinetwegen ganz entsetzlich zu leiden; in diesem furchtbaren Moment, da mir war, als müsse ich mich seiner schämen, fühlte ich zuerst recht tief und eindringend, was er mir war, und mit welch' unbegränzter Liebe ich an ihm hieng.
In bodenloser Verwirrung, in namenloser Quaal, übermüthig und gedemüthiget zugleich, rastlos getrieben von einer ganz unerklärlichen, an Verzweiflung gränzenden grausamen Lust – sprach ich noch ein paar Worte.[254]
Lautschallendes, nicht zu unterdrückendes Gelächter aller Umstehenden folgte diesen Worten, und mit unbeschreiblichem Schmerze traf der schneidend-gellende Ton dieses Lachens mein Ohr – denn es galt meinem einzigen, in diesem Augenblicke mit fast wahnsinniger Leidenschaft geliebten Freunde, und ich selbst hatte ihn dem Spotte dieser Menschen blosgestellt.
Bernhard stand auf und plötzlich verstummte alles wieder. Er trat vor mir hin, blickte noch einmal mir ins Auge, ergriff meine Hand, die er küßte, und schied ohne ein Wort zu sagen, aus dem Kreise, in welchem mit einemmale eine Todtenstille entstand. Mit vernichtender Gewalt trat jezt der Schmerz in meine Seele; meine Besinnung war hin; ich könnte sagen: mein Leben stand einen Augenblick still. Dann klopften alle meine Pulse mir zu, »du hast ihn verloren, ihn und dich, auf ewig, durch eigne Schuld.
Angelika, Vicktorine, kennt ihr einen Schmerz, der diesem gleichen mag?[255]
Ich wußte nicht mehr, was ich that; mechanisch ergriff ich eine kleine, aber sehr schöne Potpourri-Vase von Porzellan, die auf einem kleinen Tische neben mir stand, sie entglitt meinen Händen, ob durch mein Versehen, ob ich sie, vom dumpfen Instinct getrieben, fallen lies, um so die allgemeine Aufmerksamkeit von mir abzulenken, ist mir nie recht klar gewesen. Letzteres war wenigstens die scheinbare Folge davon, denn über alle Anwesende mußte eine dunkle Ahnung des vorgefallenen Unheils gekommen sein, und deshalb waren alle froh, die Gedanken davon abzuziehen.
Mein Erbleichen, mein zitterndes Schwanken, hatte nun doch eine sichtbare Ursache gewonnen, und die Gesellschaft war aus der stummen Verlegenheit, in der sie bis jezt dagestanden, glücklich wieder gerettet. Das Betrachten des zu meinen Füssen zerschmettert daliegenden Amors, der auf der Vase gemalt gewesen war, das Bedauern über seine Vernichtung gab zu unzähligen galanten Bemerkungen und witzigen Einfällen Anlaß,[256] von denen manches Einzelne, trotz seiner Albernheit, mir tief in das Herz schnitt. Indessen hatte durch diesen halben Zufall die Unterhaltung doch eine andere Wendung genommen und ich ward dadurch in den Stand gesetzt, mir für den übrigen Theil dieses entsetzlichen Abends die nöthige Fassung wieder zu erringen.
Jezt laßt es für heute genug sein!« sezte die Tante mit leiserer Stimme hinzu, indem sie aus ihrem Armstuhl sich langsam erhob. Sie küßte die in Thränen zerfließenden Mädchen auf die Stirn und heftete lange und bedeutend den seelenvollen Blick ihrer hellen Augen auf beide; man sah, sie wollte noch etwas sagen, wozu die Stimme ihr versagte; dann wandte sie sich freundlich, gieng langsam hinaus, winkte, ihr nicht zu folgen, und kam den Abend nicht wieder zum Vorschein.
[257]
Anna von Falkenhayn, treu ihrer vieljährigen Gewohnheit, saß am Morgen nach diesem Abend schon um sieben Uhr völlig angekleidet in ihrem Armstuhl, obgleich es im Kleebornschen Hause, das in dieser Hinsicht von andern grossen Häusern der Stadt keine Ausnahme machte, kaum anfieng, Tag zu werden.
Ihr Auge war trübe, ihr Herz war schwer von tausend wehmüthigen und schmerzlichen Erinnerungen. Das blasse Gesicht auf die durchsichtig zarte Hand gestüzt, strebte sie schon lange vergebens ihre Aufmerksamkeit dem vor ihr aufgeschlagen da liegenden Buche zuzuwenden, um mit dessen Hülfe den Nachhall aller der trüben und schönen Stunden endlich wieder verklingen zu lassen, den sie selbst am gestrigen Abend aufs neue in ihrem Gemüthe hervorgerufen. Daher war es ihr zwar eine unerwartete, aber durchaus keine angenehme Ueberraschung, als ihr Kammermädchen ihr einen draußen stehenden Fremden meldete, der dringend um Zutritt bei ihr bat. Sie fühlte sich um so mehr abgeneigt, den ihr zu so ungewöhnlicher[258] Zeit zugedachten Besuch zu empfangen, da sie das Mädchen vergebens um seinen Namen befragte. »Der junge Herr,« erwiederte dieses, »sieht so vornehm in die Welt hinein, daß ich unmöglich zu ihm sagen konnte, mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«
Mismuthig und verstimmt, war Anna von Falkenhayn schon im Begriff, den ihr etwas überlästig scheinenden Fremden um einen Besuch zu gelegenerer Zeit bitten zu lassen; doch der plötzliche Gedanke, daß es gerade wegen der so ungewöhnlich gewählten Stunde hier wohl auf mehr als auf eine bloße Visite abgesehen sei, hielt sie davon ab, und um nicht einer Laune zu gefallen, vielleicht eine Gelegenheit zu verlieren, andern hülfreich erscheinen zu können, so befahl sie den Fremden hereinzuführen. Er trat ein, und mit einem ihr selbst unerklärlichen Erschrecken erkannte sie in ihm gleich auf den ersten Anblick den Geliebten ihrer Vicktorine.
So sonderbar verlegen und erröthend, als diese Beide, mag wohl nicht leicht beim ersten[259] Zusammentreffen ein Paar einander gegenüber gestanden haben, von dem die Dame wenigstens zweimal so alt war als der Herr. Indessen währte diese wunderliche Befangenheit nicht lange; Tante Anna hatte zu viel Gewalt über sich selbst, um sich nicht schnell von ihr loswinden zu können, und nach wenigen Minuten saßen daher sie und Raimund wie ein Paar alte Bekannte ganz traulich einander gegenüber.
Raimund entschuldigte seinen, gegen alle Regeln der Konvenienz streitenden frühen Besuch, zuvörderst mit seines alten Freundes Müller Versicherung, daß es bei der Hochwürdigen Frau wenigstens zwei Stunden eher Tag werde, als im übrigen Hause; nächstdem aber mit dem nicht zu unterdrückenden Wunsch sie ungestört, und wo möglich auch unbemerkt sehen zu dürfen. Ziemlich verlegen wollte er jezt es versuchen, zur Erklärung seines eigentlichen Anliegens zu schreiten, doch die zuvorkommende Güte seiner Zuhörerin erleichterte ihm dieses dadurch ungemein, daß sie ihm deutlich merken ließ, wie Vicktorine sie schon[260] längst zur Vertrauten des stillen Geheimnisses ihrer Liebe eingeweiht habe. So ward denn das Gespräch zwischen beiden sehr bald von jeder beengenden Rücksicht befreit, und sie unterhielten sich ohne weitern Zwang, mit gegenseitigem Vertrauen, von dem was in diesem Augenblick ihrem Herzen am nächsten lag.
Vollkommen ermuthiget durch ihre würdevolle Freundlichkeit, erklärte Raimund jezt der Tante, wie ein Antrag der Herren Fischer, den er ohne Vicktorinens Beistimmung weder ablehnen noch annehmen könne, ihn hauptsächlich bewogen habe sie um ihre Vermittelung zu ersuchen. Es war von einer langen, mit manchen bedeutenden Gefahren verbundnen Seereise die Rede, die er nach dem Wunsch jener Herren unternehmen sollte, um in einem fremden Welttheile eine sehr wichtige, großen Gewinn versprechende Unternehmung persönlich zu leiten. Unter den vortheilhaftesten Bedingungen sollte bei seiner hoffentlich glücklichen Heimkehr ein bedeutender Antheil an der Handlung dieses sehr geachteten Hauses der Lohn seiner[261] Bemühungen werden. »Sobald ich den ersten Zorn überwunden hatte, den Herrn Kleeborns Benehmen in mir aufregen mußte,« sezte Raimund hinzu, nachdem er der Tante sowohl die Gefahren als den Vortheil erklärt hatte, welche bei dieser Unternehmung für ihn persönlich zu erwarten standen; »sobald ich den ersten Zorn überwunden hatte, das heißt, sobald ich wieder meiner Sinne mächtig war, denn mehr bedurfte es nicht, so stand auch der Entschluß felsenfest in mir, unerachtet des ersten Fehlschlagens aller meiner Wünsche, dennoch auf der einmal angetretnen Bahn zu beharren. Der Mann darf ja nicht sich selbst zum Spiel des Zufalls machen, er soll ja nicht blindlings umhertappen, bald ergreifen, bald wieder loslassen, wie Lust und Laune ihn treiben. Er soll vielmehr festhalten an dem was er einmal unternommen, um so doch wenigstens die nie wiederkehrende Zeit aus dem Schiffbruch seiner Hoffnungen zu retten.«
»Es freut mich herzlich, Sie so festen Sinnes zu finden,« erwiederte Tante Anna, »denn auch[262] Vicktorine,« – »o gewiß,« unterbrach Raimund sie, »ich kenne meine Vicktorine, und nie kann der Schatten eines Zweifels an dieses edle Wesen meinen Blick umdüstern. Ich weiß es, Vicktorine hält unabwendbar fest an mir, und jener Fremde, den Herr Kleeborn ihr aufdringen möchte, wird nie ihre Hand erhalten. Aber auch mir wird sie nie angehören, so lange ihr Vater lebt, um es zu verbieten; denn sie bleibt ihrer Pflicht nicht minder treu als ihrer Liebe. Und so werden wir beide wahrscheinlich in langer nie erfüllter Sehnsucht unser Leben vertrauern, wenn nicht ein guter Engel unser Geschick freundlicher wendet. Wie das geschehen könnte, sehe ich Blödsichtiger freilich noch nicht ab,« sezte Raimund mit einem leisen Seufzer und getrübten Blicke hinzu.
Anna von Falkenhayn schien nun einmal zur milden Trösterin aller, die ihr nahten, ausersehen zu seyn, und so versuchte sie es denn auch gern, und nicht ohne Gelingen, ihren neuen jungen Freund mit dem Leben und insbesondere mit seinem eignen Geschick zu versöhnen. Es[263] mußte indessen noch manches sehr ernstlich beleuchtet und erwogen werden, ehe man zu einem festen Entschluß in Hinsicht auf die ihm vorgeschlagene Reise kommen konnte, und Raimund kehrte deshalb noch mehreremal, und immer in der Frühstunde, zur Tante zurück. Ihre Nähe sowohl als ihre Persönlichkeit übten auf ihn einen ganz wunderbaren Zauber. Er fühlte sich unwiderstehlich zu der seltnen Frau hingezogen, die wie das verbindende Element des Lebens zwischen ihm und Vicktorinen stand. Wenn sie so freundlich ihm zusprach, mußte er dabei stets an seinen Vater denken, denn so wie sie, hatte, seit er diesen verloren, nie wieder jemand zu ihm gesprochen.
Vor Allem aber erfüllte ihn ein ganz eignes Gefühl süßer fast schauerlicher Wehmuth, wenn er sie dabei ansah, und nun in den alternden Zügen des bleichen ernsten Gesichtes die unverkennbarste Aehnlichkeit mit seiner reizenden in voller Jugendpracht blühenden Geliebten entdeckte. Ihm war dann als lüfte die Zukunft den dunkeln[264] Schleier und blicke ernst und geheimnißvoll ihn an, während der eilende vernichtende Schritt der Zeit hörbar ihn umrauschte, und ihn ermahnte, das Leben und die Jugend festzuhalten, ehe sie auf immer entschwinden.
Auch der Tante ward der junge Mann immer lieber und lieber, je öfter sie ihn sah, doch nicht etwa weil sie das Innere seines Gemüths dabei näher kennen lernte. Man möchte sagen, sie empfand dies nur, gleich dem Eigenen, und sie beurtheilte ihn daher wie Frauen gewöhnlich zu urtheilen pflegen, mit dem Herzen und nicht mit dem Kopf; was bei der ungemeinen Klarheit ihres Geistes freilich ein seltner Fall war. Alles an ihm, seine ganze Art zu sein, seine Sprache, sein Benehmen, Alles erschien ihr wie der begleitende Ton zu der Melodie ihres innersten Lebens, und war ihr deshalb befreundet und kam ihr wie längst bekannt vor.
»Endlich, meine edle theure Beschützerin, endlich muß ich doch dazu kommen, einen Entschluß in Hinsicht auf meine Reise zu fassen,« schrieb[265] Raimund der Tante eines Morgens, an welchem er abgehalten worden zu ihr zu gehen. »Die Zeit drängt mich,« fuhr er fort, »und ich kann es nicht länger auf eine ehrenvolle Art vermeiden, meinen Freunden, die mir zu meinem künftigen Fortkommen so wohlwollend die Hand bieten, eine genügende Antwort zu ertheilen. Ich habe die ruhige Stille dieser Nacht darauf verwendet, Alles nochmals ernstlich durchzudenken. Der Antrag der Herren Fischer öffnet mir die Aussicht auf ein völlig unabhängiges, sogar auf ein glänzendes Loos, das ich wenigstens nach dem Ableben ihres Vaters Vicktorinen werde bieten können, selbst wenn dieser den Entschluß faßte, sie, im Fall sie die Meine wird, völlig zu enterben. Vielleicht wird er auch jezt weniger eigensinnig auf die Verbindung mit dem Sohne seines Handelsfreundes bestehen, sobald er mich in der Ferne weiß, und Vicktorinen glückt es wahrscheinlich um so eher, sich von den Fesseln loszuwinden, mit denen ihr Vater sie umstricken möchte. Für meine persönliche Wohlfahrt bangt mir übrigens nicht,[266] Vicktorinens Gebet wird mir ein schützender Engel werden, der jede Gefahr von mir wendet, mit der Menschen oder die Elemente mir drohen könnten.
Und so bitte ich Sie denn nur, Hochwürdige Frau, bringen Sie mir Vicktorinens Erlaubnis zu gehen, und das bald! Der erste Tag der Reise ist ja auch der erste, der uns der Heimkehr näher führt. Und wer kann wissen, ob es nicht während meiner Abwesenheit dem schützenden Genius unsrer Liebe in Ihrer würdigen Gestalt gelingt, Alles indessen zu unserm Besten zu wenden.«
Unerachtet sie den Gründen ihres jungen Freundes nichts entgegenzustellen wußte, unternahm es die Tante doch nur mit innerem Widerstreben Raimunds Wunsch zu erfüllen; sie erschrack beinahe, als Vicktorine weit leichter und gefaßter, als sie es hätte erwarten können, zu der Entfernung des Geliebten ihre Einwilligung gab. Eigentlich war Vicktorinens lebhafter Geist das ganz Einförmige ihres Unglücks, das Quälende des Gefühls dem[267] Geliebten zugleich so nahe und so fern zu sein, allmählig so unerträglich geworden, daß jede Abänderung ihrer Lage ihr dagegen wie Gewinn erscheinen mußte. Ihre glühende stets vorwärts strebende Fantasie fand in dem Alltagsleben eines Geschäftsmannes keinen einzigen Punct, von dem aus sie das Bild des Geliebten, der ihr nicht nahen durfte, festhalten konnte. Wo sollten ihre Gedanken ihn suchen? an der Börse? am Schreibepult? im alltäglichen Verkehr mit der handelnden Welt und ihren Gehülfen? »Nein, Tante,« rief Vicktorine, »er mag gehen! Mein Seegen, mein Gebet, meine Wünsche begleiten ihn überall und unablässig. Es ist jezt nicht wie damals, da ich glaubte, daß er aus überspanntem Edelmuth auf immer nach Odessa fliehen wolle. Er scheidet zwar, doch er entflieht mir nicht. Er geht, wohin die Pflicht die er auf sich genommen ihn ruft, aber er geht um vielleicht glücklicher wiederzukehren. Tausend Meilen oder tausend Schritte sind in unserer Lage das nemliche. Raimund wird in der Ferne mir sogar näher gerückt erscheinen,[268] denn lieber will ich ihn mir doch vorstellen, wie er auf dem Verdeck seines die mächtigen Wogen durchschneidenden Schiffes, unter dem tiefblauen Sternenhimmel des Südens meiner gedenkt, lieber soll mein Geist in fremden Städten, im Gewühl des Ankommens oder der Abreise ihn suchen, als hier in der weiten farb- und formlosen Oede des aller-alltäglichsten Lebens, in welcher Alles vor meinen Blicken verschwimmt.«
Nur Eines forderte Vicktorine mit ihrer gewohnten Festigkeit noch, und Raimund stimmte mit ihr überein, sobald er ihre Entscheidung vernommen, und dieses Eine war eine Abschiedsstunde mit Bewilligung des Vaters, unter den Augen der Tante, dieses milden Schutzgeistes ihres Lebens wie ihrer Liebe. Vergebens erschöpfte sich Anna in Gründen und Bitten, um die Liebenden zu bewegen, sich selbst diese bittre Stunde zu ersparen. Sie wurde nicht nur überstimmt, sie mußte sogar unternehmen, Herrn Kleeborns Erlaubniß zu dieser Zusammenkunft zu erhalten,[269] denn Raimunds Beredsamkeit übte eine unwiderstehliche Gewalt über sie aus.
»Zwingen Sie mich nicht,« bat er, »zwingen Sie mich ja nicht, dem Schmerz wie ein Feiger aus dem Wege zu gehen, denn alles Umgehen ist meiner Natur durchaus zuwider und mir im Innersten der Seele verhaßt. Was mir auch begegnen mag, ich will ihm fest und gerade ins Auge sehen, und wär' es mein Untergang. So viele wünschen sich einen schnellen Tod, ich habe von Kindheit auf ihn gescheut. Wenn ich einst vom Leben scheide, so wünsche ich, daß es mit Bewußtsein geschehe, mein brechendes Auge soll sich noch einmal dankend zu der Sonne, zu den Sternen erheben, die so lange mir leuchteten. Und so will ich auch jezt, ehe ich gehe, um vielleicht nie wiederzukehren, so will ich auch jezt noch einmal in Vicktorinens liebetreue Augen blicken, in diese Sonnen meines bessern Daseins. Wer weis denn, ob sie je mir wieder leuchten werden, denn meine Reise ist weit, und mancherlei[270] Gefahren werden Unheil drohend mir entgegen treten.«
»Der junge Holm geht in diesen Tagen nach England und von dort nach Westindien, wie ich für gewis höre,« sprach die Tante zu Herrn Kleeborn im gleichgültigsten Ton, den sie nur bei dieser Gelegenheit aufzubringen vermochte. Eigentlich dachte sie nur auf diese Weise ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, das zur Erfüllung ihres Versprechens leiten konnte, um dessen Vollbringung sie sich eben in nicht geringer Verlegenheit befand, doch Kleeborn fuhr sichtbar erschrocken zusammen, als er sie so ganz gelassen den Namen nennen hörte, den er bis jezt noch gar nicht den Muth gehabt hatte, in ihrer Gegenwart auszusprechen. Er starrte in sprachloser Verwunderung sie an, und veranlaßte sie dadurch das Gesagte nochmals zu wiederholen. »Holm!« rief er jezt fast jauchzend vor Freuden, »der junge Holm[271] aus dem Hause der Herren Fischer et Compagnie? Nun Glück auf die Reise! Nein, Fräulein Schwester, eine beßre Nachricht konnten Sie mir im Leben nicht bringen; und wenn Sie mir gesagt hätten, daß ich das große Loos in der englischen Lotterie gewonnen habe, es könnte mehr mich nicht erfreuen! Denn über häuslichen Frieden und das Glück meines einzigen Kindes geht mir doch nichts in der Welt. Aber was sind Sie eine kluge Dame! Ja ja, ich habe es immer gesagt und gedacht, Sie sind eine Dame, die die Welt kennt. Ich zerbreche mir den Kopf wie ich die verfluchte Geschichte Ihnen schicklich beibringen will, Sie verstehen ja wohl was ich meine, nun und inzwischen gehen Sie so ganz in der Stille hin, wissen Alles, lenken Alles, und führen Alles zum Besten. Nun nun, jezt wird sich Alles ja wohl mit der Zeit geben, wenn erst dieser Stein des Anstosses aus dem Wege kommt. Vicktorine wird ja Vernunft annehmen, besonders wenn Sie, Fräulein Schwester« – Die Tante unterbrach ihn, um nicht mehr hören zu müssen[272] als ihr lieb war. »Ich habe Herrn Holm erlaubt, in meiner Gegenwart von Vicktorinen Abschied zu nehmen,« sprach sie in dem nehmlichen gleichgültigen Ton als vorher, und zugleich mit so gelaßner fester Zuversicht, daß Herr Kleeborn darüber ganz stutzig ward, und nicht gleich wußte, was er ihr antworten könne. Die Sicherheit, mit der sie sprach, als könne das gar nicht anders sein, verbunden mit der ehrerbietigen Zurückhaltung, welche ihre Gegenwart ihm einflößte, erlaubten ihm nicht ihr geradezu zu widersprechen, besonders da sie ihm eben eine so gute Nachricht mitgetheilt hatte. Und doch fühlte er auch eine grosse Abneigung, seine Einwilligung zu dieser Zusammenkunft der Liebenden ausdrücklich zu geben, wenn er gleich innerlich gewiß war, daß es die lezte sein würde.
Nach kurzem Bedenken fand er indessen einen Mittelweg, indem er that als habe er die lezten Worte der Tante völlig überhört. »Ende gut alles gut und Einmal ist keinmal,« brummte er endlich halb leise vor sich hin, als er nach einer[273] kleinen Pause gewahr ward, daß seine Schwägerin nicht für gut fand, noch einige Bewegungsgründe hinzuzusetzen, die er denn Gelegenheit gehabt hätte zu bestreiten; und damit gieng er ohne weiteres zum Zimmer hinaus in sein Komtoir.
Anna freute sich des leichten Sieges, und war dabei billig genug, nicht mehr zu fordern als sie eben bedurfte, denn sie glaubte, mit dieser stummen Bewilligung könne sie völlig zufrieden sein, und sie ohne alles Bedenken benutzen.
Der Morgen des zu Raimunds Abreise bestimmten Tages brach endlich an, und die Liebenden sahen in den lezten Minuten vor dieser sich wieder, denn so hatten beide es gewollt. Doch welch ein Wiedersehen war das! Wiederfinden und Trennung, Seeligkeit des Himmels und unaussprechlich tiefes Leiden, drängten auf der Spitze eines einzigen kurzen Augenblicks sich zusammen. So gränzen in dem Stunden-Dasein der Ephemere die erste Regung des Lebens und das Erstarren des Todes enge an einander.[274]
Seelig und trostlos, ohne Worte und doch unendlich beredt, hielten Raimund und Vicktorine sich umfangen bis die Stunde der Trennung schlug. Die Tante hörte den Ton der Glocke, die sie verkündete, sie hatte so lange in sich versunken da gesessen, jezt richtete sie sich auf und ihr Blick fiel zuerst auf Raimund. Ein die Wolken durchbrechender schwacher Sonnenstrahl verklärte in diesem Augenblick die schmerzlich bewegten Züge seines edeln Gesichts; Anna fuhr wie von einem gewaltsamen Schmerz plötzlich ergriffen schaudernd zusammen, und ihre Hand zuckte unwillkührlich nach ihrem Herzen, während ihr Auge mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an Raimunds trüber Gestalt hieng. Ein halb unterdrückter Schmerzenslaut drängte sich ihr aus tiefster Brust herauf, sie schwankte erbleichend und drohte zu sinken. Erschrocken eilten Vicktorine und Raimund sie zu unterstützen und sie aufs Sofa zu geleiten, doch sie erholte sich noch früher, indem ein Strom von Thränen ihrem bangebeklommnen Herzen Erleichterung zu gewähren schien.[275]
Jezt drückte Raimund noch einmal die vereinten Hände beider ihm so theuren Wesen an seine brennenden Lippen, an seine hochschlagende Brust, und entfernte sich dann schnell. Sie sahen die geliebte Gestalt durch die Thüre verschwinden, die sich in langer Zeit nicht, vielleicht nie wieder, ihr öffnen sollte. Raimunds Schritte tönten den langen Corridor entlang, immer schwächer, immer mehr aus der Ferne. Vicktorine ohne einen Laut von sich zu geben, horchte dem Ton bis er sich ganz verlor, dann warf sie sich in die geöffneten Arme, an die treue Brust, die fast eben so bewegt als ihre eigene, mit nicht minder heftigem Schmerz zu ringen schien.
Das Schreckbild einer weiten gefahrvollen Reise des Geliebten, das vor wenigen Wochen Vicktorinen fast zu Tode geängstigt hatte, war jezt zur Wirklichkeit geworden. So, sagt man, glauben die Perser, daß jedes ausgesprochne Wort zu[276] einem geisterartigen Wesen sich umwandle, welches unabläßig so lange die Welt bis an die Pforten des Paradieses durchstreife, bis es zur That sich gestaltet habe.
Indessen war es doch merkwürdig, wie Vicktorine diesen wahrhaften Schmerz mit weit größerer Fassung ertrug, als jenen erträumten, der sein Vorbild gewesen war. Daß sie mit Bewußtsein, aus freiem Willen, ihn auf sich genommen, erleichterte ihn ihr vielleicht nicht minder, als die innige Theilnahme ihrer mütterlichen Freundin; vor allem aber erhob die Hoffnung einer aus diesem Opfer entspringenden glücklicheren Zukunft sie über sich selbst, und wiegte die oft bis zur Ungeduld sich steigernde Sehnsucht wieder zur Ruhe ein, von der sie in einsamen Stunden nur gar zu oft sich ergriffen fühlte. Ihr körperliches Befinden bedurfte jezt keiner besonderen Pflege mehr, doch ihr Gemüth bedurfte der zartesten Schonung, und diese fand sie nur bei der Tante und ihrer Angelika.[277]
In den stillen geräuschlosen Abendstunden, welche Babet und Agathe jezt öftrer als sonst außer dem Hause, bei ihren Freundinnen, zubringen durften, gab die Tante den Bitten ihrer beiden Lieblinge gerne nach, und nahm den Faden der Geschichte ihres Lebens dort wieder auf, wo sie am ersten Abende ihn hatte fallen lassen. Wir geben ihre Erzählung so viel möglich mit ihren eignen Worten, doch ohne der Zwischenreden ihrer Zuhörerinnen oder der mitunter eintretenden Störungen und Pausen weiter zu erwähnen.
»Schwer und undurchdringlich in ihrer Finsternis lastete die Nacht nach jenem furchtbaren Abende auf mir,« sprach Anna von Falkenhayn im Verfolg ihrer Erzählung. »Sie schien nimmer enden zu wollen und meine brennend heißen thränenlosen Augen erstarrten an ihrer von keinem Stern erhellten[278] Dunkelheit, ohne daß es mir möglich gewesen wäre auch nur Minuten lang in tröstendem Selbstvergessen sie zu schließen. Es war die erste Nacht, die ich gefoltert von innern Vorwürfen durchwachte, ihr düsterer Schatten hat sich über mein ganzes Leben verbreitet und ist nie wieder ganz aus demselben verschwunden. Unzählige trübe schlaflose Nächte sind seitdem dieser ersten gefolgt, doch gottlob keine so ganz trostlose als diese, denn nie war ich wieder so durchaus mit mir selbst zerfallen wie damals.
Vergebens strebte ich an dem sonst mir eignen Stolz mich wieder aufzurichten, vergebens wollte ich eine Thörin mich schelten und die Last leicht zu nehmen suchen, die mich zu erdrücken drohte. Die glühendste Liebe sprach laut in meinem Herzen, jeder Schlag desselben erhöhte das Gefühl der bittersten, an Selbstverachtung gränzenden Reue, und mein ehemaliges eitles Bewußtsein verschwand unter der angestrengtesten Bemühung es fest zu halten.[279]
Endlich kam der Tag; jedem auch dem unglücklichsten Wesen pflegt er wenigstens für einen kurzen Moment Muth und Trost zu bringen, und auch ich begann jezt zu hoffen, Bernhard könne so nicht auf immer von mir geschieden sein, oder ich suchte es vielmehr mir selbst wahrscheinlich zu machen, daß ich diese Hoffnung noch hege.
Ich stand auf um nur so schnell als möglich jedes nächtliche Grauen abzustreifen, doch der erste Blick in meinen Spiegel flößte mir neues Entsetzen ein, so schattenähnlich, so bleich und zerstört trat mein Bild aus ihm mir entgegen. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich mich gezwungen, jene kleinen Toilettenkünste zu üben, die ich bis jezt immer mit Verachtung verschmäht hatte, denn ich war zwar fest entschlossen, dem Mann, den ich liebte, mit edler Freimüthigkeit entgegen zu treten, ich wollte ohne Rückhalt und wahr mein ganzes Herz ihm eröffnen, sogar, im Fall dies nöthig würde, zum Bekenntnis des Gefühls meiner übermüthigen Thorheit mich herablassen; aber zu deutlich in meinem Gesichte lesen,[280] was in meinem Gemüth indessen vorgegangen war, das sollte Bernhard denn doch auch nicht.
Der Morgen vergieng größtentheils über dieser Beschäftigung, die ich um mich selbst zu täuschen so zögernd als möglich betrieb. Auch späterhin noch wandte ich alles an, um nur nicht zu bemerken, wie weit der Tag schon vorgerückt, und daß die Stunde längst vorüber sei, in der Bernhard sonst zu kommen pflegte, mein armes Herz schlug aber immer voller und schwerer. Endlich brachte man mir eine nur mit seinem Namen bezeichnete Abschiedskarte, und meinem Vater ein versiegeltes Billet, in welchem Bernhard in ziemlich allgemeinen Ausdrücken für alle bisher ihm gewährte Beweise seines Wohlwollens dankte, und auf unbestimmte Zeit Abschied nahm, ohne jedoch das Ziel seiner Reise dabei zu erwähnen. Mein Vater vermied es mich anzusehen, indem er das Billet, so wie er es still für sich gelesen, mir hinreichte, und nie hat mich etwas tiefer und demüthigender gekränkt.[281]
Ich zog mich bald darauf unter dem gewiß nicht ganz ersonnenen Vorwande körperlichen Uebelbefindens in mein Zimmer zurück, und verlebte dort ganz allein ein paar stille einsame Tage; denn ich bedurfte dieser gar sehr, um nur einigermaßen mich mit mir selbst zu berathen. Nur fort von hier! war das einzige Ziel meiner Gedanken; denn die Gesellschaft wieder zu sehen, in der ich Bernhard vermissen sollte, schien mir unmöglich zu sein. Doch wohin sollte ich mich wenden? ich hatte keine Freundin, sogar nicht einmal eine Bekannte meines Geschlechts, die mir in dieser Verlegenheit Schutz und Obdach hätte gewähren können oder wollen; sie waren alle vor dem blendenden Glanz entwichen, mit dem meine Eitelkeit mich bis dahin umgab. Einen Augenblick dachte ich zwar daran, zur Herzogin von P** zu reisen, die beim Abschiede mich mit einer Einladung auf unbestimmte Zeit beehrt hatte; aber wer konnte mir dafür stehen, daß nicht auch Bernhard mit seinem wunden Herzen zu ihr geflohen sei? War es in diesem Fall schicklich, oder auch nur verständig,[282] den Verdacht auf mich zu laden, als sei ich absichtlich ihm gefolgt? Und gesezt ich fände alles dort wie sonst, nur ihn nicht, wie wollte ich das ertragen! wie alle die Fragen nach ihm! wie sollte ich täglich und stündlich von ihm reden, ihn preisen hören, ohne zu verzweifeln.
Je länger ich über meine Lage nachdachte, je hoffnungsloser erschien sie mir, so daß ich zulezt wahres Mitleid mit mir selbst empfand. Ich konnte nicht fortleben wie ich bis jezt es gethan, das allein war mir deutlich. Das gewohnte schaale Treiben, das ihn, das Bernhard mir verscheucht hatte, widerte jezt mich unbeschreiblich an, doch wie sollte ich hinaustreten ohne lächerlich zu werden, was mir herber dünkte als selbst der Tod? Meinem Vater, meinem geliebten Vater konnte ich es doch unmöglich zumuthen, meinetwegen Gesellschaften und Gewohnheiten zu entsagen, die Jahre lang seine einzige Freude gewesen waren.
So war denn jeder Ausweg mir verschlossen und ich verzehrte mich vergeblich in fruchtlosem[283] Nachsinnen, wie ich es anfangen könne, die Welt zu verlassen, die noch vor wenigen Tagen, als der Schauplatz meines Triumphs, mir unentbehrlich schien und die mir jezt so fürchterlich war. Wahrscheinlich wäre meine Gesundheit diesem Zustande endlich unterlegen, wenn er länger gedauert hätte, doch ganz unvermuthet, wie ein vom Himmel gesendeter Bote des Friedens, kam jezt ein Brief, der aller meiner Verlegenheit ein Ende machte. Ich las ihn mit Entzücken und wäre doch nur noch vor wenig Tagen trostlos gewesen, wenn ich damals ihn empfangen hätte. Er enthielt nichts anders als eine auf Befehl der Pröbstin meines Stiftes an mich gerichtete Aufforderung, doch endlich das von mir schon zu lange umgangene Gesez zu erfüllen, das mir seit ich mündig war die Verbindlichkeit auferlegte, jährlich wenigstens einige Monate im Stifte zu verleben; dabei versicherte man mich, daß man mir keine fernere Verzögerung dieser Verpflichtung nachsehen könne, indem dieses schon zu lange geschehen sei.[284]
Mit kaum zu unterdrückender Freude theilte ich dieses Schreiben meinem Vater mit, und zugleich meinen Entschluß, die Verbindlichkeit, zu der man mich aufforderte, sobald als möglich zu erfüllen. Der gute Vater widersprach mir nicht, er eilte sogar, alle nöthigen Anstalten zu meiner schnellen Abreise zu treffen, aber er war dabei so still, so recht im Herzen traurig, daß es mir durch die Seele gieng. In jedem seiner Blicke, aus seinem ganzen Benehmen gegen mich, sah ich deutlich, daß er nicht nur alles, was in mir vorgieng, errathen hatte, sondern daß auch bange Zweifel in ihm aufstiegen, ob er denn auch wirklich, durch die ausgezeichnete Erziehung, die er mir gegeben, mein wahres Glück begründet habe. Diese Besorgnis, die denn doch wohl in jedem Fall zu spät kam, beugte sichtlich ihn nieder, denn wenige sind stark genug, wenn ein Lieblingsplan mislingt, nur die Absicht, nicht den Erfolg, sich zuzurechnen, und nicht zu vergessen, daß wir in unsrer Beschränkung uns damit beruhigen sollten, nur das Beste gewollt[285] zu haben, wenn gleich die Freude des Gelingens uns versagt blieb.
Froh, als entrönne ich einem Gefängnis, verlies ich endlich an einem trüben Herbstmorgen zum erstenmal das väterliche Haus, um mich mit meinem Schmerz in die Einsamkeit eines mir ganz fremden Aufenthaltes zu flüchten. Karoline, meine damals zwölfjährige Schwester, war nach dem Wunsch meines Vaters meine liebe Begleiterin auf der Reise. Unser Weg gieng durch eine reiche üppig-fruchtbare Gegend, die aber wie so manche reizende Mädchengestalt durchaus der Jugend des Jahres bedurfte, um zu gefallen. Jezt im Spätherbst, wo der Wind kalt und schneidend über Stoppelfelder wehte, und im spärlichen gelben Laub der Bäume schauerlich rauschte, jezt hatte alles, was ich erblickte, ein düstres unfreundliches Ansehen, ohne die kleinste Spur früherer Anmuth. Mit nicht zu unterdrückender Aengstlichkeit klammerte meine arme kleine Karoline sich an mich an, als wir endlich mit einbrechendem Abend durch das dunkle niedrige Gewölbe des[286] Thores fuhren, welches den Eingang zu einem ehemaligen Kloster bildete, das jezt einem Theil der Stiftsdamen zur Wohnung diente. Mich selbst sogar kam ein kleiner Schauder an, als wir durch den schon halbdunkeln langen Kreuzgang wanderten, an dessen äußerstem Ende die mir bestimmten Zimmer lagen.
Wir kamen auf diesem Wege an mehreren niedrig gewölbten Thüren vorbei, die in die ehemaligen Klosterzellen zu führen schienen. Hinter einer derselben hörte ich im Vorbeigehen laute weibliche Stimmen, wie im heftigen Streit; hinter andern schmetterten Kanarienvögel, heisere Möpschen bellten, und Kakadus und Papageien kreischten dazwischen mit widrigem Geschrei.
Karoline hielt mich immer ängstlicher am Arm, auch unser Kammermädchen drängte sich so nahe als möglich an uns an, und blickte ganz verschüchtert in alle Ecken, bis eine Thüre ganz ähnlich denen, an welchen wir vorbeigekommen, aufgeschlossen ward. Wir standen jezt vor meinem geöffneten Wohnzimmer; die Abendsonne, schon[287] ganz unten am Rande des Horizonts, durchbrach in diesem Moment die schwere graue Wolkendecke, welche den ganzen Tag über sie verhüllt hatte, und leuchtete uns durch die purpurrothen Blätter der das Fenster umrankenden wilden Rebe freundlich ins Gesicht; die hüpfenden Schatten der Zweige spielten lustig auf der blaßgrünen Wand, alles sah freundlich und bequem aus, so daß wir mit neuem Muth den erquickenden Sonnenstrahl wie ein Zeichen von guter Vorbedeutung annahmen.
Die kleine Wohnung war für uns geräumig genug; mit sehr wenigem konnte sie recht wöhnlich und behaglich eingerichtet werden, und Karoline gieng mit unserm Mädchen so eifrig an das Auspacken und Anordnen, als käme es darauf an, uns gleich auf der Stelle hier für eine ganze Lebenszeit häuslich niederzulassen. Ich aber suchte indessen den einsamsten Winkel auf, um mich ungestört in mich selbst zu versenken.
Die Einsamkeit, in der ich von nun an mehrere Monate zubrachte, war in der That[288] klösterlich zu nennen, und stach fast gewaltsam gegen mein ehemaliges Leben ab. Mein Gefühl glich in der ersten Zeit jenem beklemmenden Streben nach Besinnung, wie es uns nach einer überstandnen großen Gefahr oft noch lange beängstigt; doch nach und nach ward mein Gemüth wieder ruhiger und ich blickte mit klarerem Sinn um mich her.
Mit dem aufrichtigsten Willen auch gegen mich selbst nicht nur wahr, sondern auch gerecht zu sein, überschaute ich meine Vergangenheit wie meine Zukunft, und wandte Alles daran, um aus diesem, einem Stillstand ähnlichen Ruhepunct meines Lebens die ersprieslichsten Folgen zu ziehen.
Daß keine Zeit, keine Macht der Umstände Bernhards Bild je aus meinem Herzen reißen könne, fühlte ich schon damals mit voller Ueberzeugung, es mußte von nun an ewig darin wohnen wie in einem stillen Heiligthum. Je deutlicher ich das Unrecht einsah, das ich frevelnd an mir selbst uns beiden zugefügt hatte, desto[289] inniger wandte all mein Trachten und Sinnen sich dem schwer beleidigten Freunde zu, um so fester nahm ich mir vor, mich über mich selbst zu erheben, um seiner würdiger zu werden. Ich gelobte mir, mich als ihm allein angehörig zu betrachten, selbst wenn ich nie ihn wieder sehen sollte, alles übrige wollte ich dem Schicksal getrost überlassen. Heimlich und stille lebte indessen doch die Hoffnung in mir, daß ein günstiger Stern, oder vielmehr sein eignes Herz, ihn mir wieder zuführen müsse – und dann – ach ich wagte es nicht über dieses dann hinaus zu denken.
Meine nächsten Umgebungen überließen mich in ziemlich ungestörter Ruhe mir selbst.
Ich widmete regelmäßig dem Unterricht meiner Karoline einige Stunden des Tages; die übrige Zeit brachte das liebenswürdige Kind größtentheils bei einer benachbarten Familie zu, in welcher sie nicht nur an den Töchtern des Hauses Gespielinnen ihres Alters fand, sondern auch noch außerdem alle Annehmlichkeiten eines in ruhiger[290] Häuslichkeit hingebrachten stillen Familienlebens kennen und lieben lernte. Ich selbst blieb beinah immer allein in meinem Zimmer, die jüngern Stiftsdamen waren fast alle abwesend, um den nahenden Winter bei ihren Verwandten zuzubringen, die zurückgebliebenen von den ältern Damen bekümmerten sich wenig um mich. Sobald nur die erste Neubegier mich zu sehen gestillt war, welche meine unerwartet schnelle Ankunft erregt hatte, so kehrten alle recht gern zu ihren gewohnten Vergnügungen, zu ihren Kaffeevisiten, Trißett und l'Hombreparthien wieder zurück, ohne mir es weiter zu verargen, daß ich keine Lust bezeigte, daran Theil zu nehmen.
So beschränkte sich denn zulezt mein Umgang im Stifte fast einzig auf die Pröbstin, einer gebornen Stiftsgräfin von ***. Sie war aus einem der ältesten und edelsten Häuser in Deutschland, aber ihr innerer Adel hob sie noch weit über den ihr angebornen Rang und Stand. Ein unheilbares langsam und schmerzlich sie verzehrendes Uebel hielt sie schon Jahre lang fast immer an[291] ihr Lager gefesselt. Ihr schweres Leiden zog mich zuerst zu ihr hin, doch ihre ächt-christliche Demuth, die fromme Ergebung in den Willen Gottes, mit der sie ohne Klage, ja fast freudig alles trug, was ihr auferlegt ward, erweckten, wie ich sie näher kennen lernte, mein innigstes bewunderndes Mitgefühl. Auch ich war so glücklich, mir sehr bald ihre herzlichste Zuneigung zu erwerben, daß sie in jeder schmerzensfreien Stunde mich um sich zu haben wünschte. Ihr Gespräch, die Bücher, größtentheils religiösen Inhalts, die ich ihr vorlas, vor allem aber das wahrhaft große Beispiel dieser Frommen, ihr festes kindliches Vertrauen auf Gott gewann den wohlthuendsten Einfluß auf mein Gemüth, in eben dem Grade wie früher die kurze Bekanntschaft mit der Herzogin von P*** auf die höhere und angemessenere Bildung meines Geistes eingewirkt hatte.
Nie kann ich es dankbar genug erkennen, daß die Hand, die mein Leben leitete, mich so zur rechten Zeit diesen beiden edlen Frauen zuführte; von denen die eine in gewisser Hinsicht vollendete,[292] was die andere begonnen hatte, denn alles, was ich später geworden bin, alles, was mir in dem Labyrinthe des Lebens Trost und Licht verlieh, verdanke ich hauptsächlich ihnen.
Leidende erkennen einander schnell, und auch meine neuerworbne edle Freundin fühlte gar bald, daß auch ich nicht glücklich sei, obgleich ich mir eben so wenig eine Klage als sie sich eine Frage erlaubte. Der eigne Schmerz machte sie scharfsichtig genug, um in meinem Herzen wie in einem offnen Buche zu lesen, und sie benutzte den Einfluß, den sie auf dasselbe gewonnen, um mit leiser linder Hand und wahrhaft mütterlicher Sorge dem vom Himmel gesandten Lichte mich zuzuführen, das auch die Nacht ihrer eignen Leiden zu erhellen vermochte. Ich lernte von ihr Glauben und Hoffen, selbst wenn jeder irdische Trost und jedes irdische Glück vor unserm enttäuschten Blicke im Nichts zerflattern.
Mit bereichertem erhobnen Gemüth, mit mühsam erworbnem aber desto festerem Muth, und mit dem treu gemeinten Torsatz, dem Schein[293] nie wieder das kleinste Opfer zu bringen, verließ ich endlich nach einem Aufenthalte von acht Monaten die mir so lieb gewordne Einsamkeit. Ich eilte zu meinem Vater zurück, dessen sehr schwankender Gesundheitszustand jezt mehr als jemals der Pflege seiner Kinder bedurfte.
Nächst der Sorge für die Erhaltung und Erheiterung des ehrwürdigen Greises, den ich leider weit schwächer wieder fand, als ich gefürchtet hatte, war jezt Karolinens fernere Bildung das Hauptgeschäft meines Lebens. Ihre schöne Jugendblüthe drang jezt immer lieblicher sich entfaltend aus der Knospe der Kindheit mächtig hervor, und ihr Anblick erfreute nicht nur ihren Vater, sondern auch jeden, der ihr nahte. Ich fand zu meiner großen Beruhigung, daß während meiner Abwesenheit, in der Lebensweise unsers Hauses, eine bedeutende Veränderung vorgegangen sei. Mein Vater hatte bei seiner zunehmenden Kränklichkeit den großen Kreis, der sich sonst bei uns zu versammeln pflegte, unmöglich zusammenhalten können, da in mir die Wirthin des Hauses[294] ihm fehlte, um die Honneurs desselben zu machen. Die Gesellschaft hatte sich also bis auf wenige unserer ältern Freunde allmählig von selbst aufgelöst; ein kleinerer gewählter Kreis, der sich ebenfalls alle Abende um meinen Vater versammelte, war an ihre Stelle getreten; denn dieser war von Jugend auf der Geselligkeit zu gewohnt, um ihr, selbst in seinem jetzigen hohen Alter, gänzlich entsagen zu können.
Die Unterhaltung in diesen kleinen Abendgesellschaften war freilich von dem vormals bei uns herrschenden brillanten Ton himmelweit verschieden, doch ich selbst war ja auch in der Zwischenzeit ein anderes Wesen geworden, und daher sehr damit zufrieden, auch ein anderes Leben führen zu können. Der Gedanke an meinen hoffentlich nicht auf immer verlornen Freund füllte jede Lücke in meinem jetzigen Dasein; oft erweckte ich mich selbst, aus schönen Träumen von einer glücklichern Zeit, in der ich uns beiden alles zu vergüten hoffte, was wir durch meine Schuld erlitten; nur sah ich freilich noch nicht[295] ein, welcher glückliche Zufall diese Zeit herbeiführen dürfe, und verlor mich dann wieder aufs neue im Reich der Möglichkeiten.
Meine gänzliche Unwissenheit in Hinsicht auf alles, was auf Bernhards gegenwärtigen Aufenthalt und sein Ergehen Bezug hatte, begann indessen doch mit jedem Tage schmerzlicher mich zu betrüben. Seit er uns verließ, war er für mich wie von der Erde weggehaucht und nie hatte ich nur seinen Namen wieder nennen hören. Mir selbst band ein sehr natürliches Gefühl die Zunge, wenn ich es einmal unternehmen wollte, nach ihm zu fragen; aber auch mein Vater erwähnte seiner so wenig, als ob er nie ihn gekannt hätte; theils wohl aus Schonung für mich, doch mehr vielleicht noch aus Verdruß über uns beide.
Obgleich wir die Zahl der uns täglich Besuchenden sehr beschränkt hatten, so stand doch unser Haus nach wie vor durchreisenden Fremden noch immer gastfreundlich offen. Meines Vaters große und vielfältige Verbindungen im Auslande schickten uns sehr oft Reisende aus fernen Gegenden[296] zu, und so empfingen wir fast täglich manchen mitunter recht interessanten Besuch, dessen flüchtige Gegenwart unsrer einförmigen Häuslichkeit Leben und Wechsel verlieh.
Eines Abends, es mochte wohl beinahe ein Jahr seit Bernhards Entfernung vergangen sein, hatte auf diese Weise der Zufall mehrere Fremde bei uns versammelt, von denen einige durch ihre angenehme Unterhaltungsgabe dem Gespräch einen rascheren Umschwung zu geben wußten. Besonders zeichnete sich einer unter ihnen durch die etwas kurz absprechende Art aus, mit der er Paradoxen einzig deshalb nachzujagen schien, um durch deren Behauptung, wenn nicht die ganze Welt, doch wenigstens den kleinen Theil derselben, der ihm eben zuhörte, in Erstaunen und Bewunderung zu versetzen. Dieser streitbare Held war aber bei alle dem weit weniger unangenehm und überlästig, als man nach dieser Beschreibung glauben könnte. Er schien nicht bösartig, er hatte das Wort in seiner Gewalt, er zeigte mitunter recht viel Witz und Humor, und war dabei gewandt genug, sobald[297] er gewahr ward, daß er es zu weit getrieben, sich gleich auf der Stelle abmerken zu lassen, wie es ihm mit seinen Behauptungen eigentlich gar kein rechter Ernst sei. Man sah deutlich, daß es hauptsächlich ihm nur um den Lärm zu thun war, den seine Redensarten herbei führten; er glich hierin einem Kinde, das mit dem Munde den Trommelschlag überlaut nachzuahmen sucht, ohne sich weiter etwas dabei zu denken, und so war es denn unmöglich, ihm zu zürnen, obgleich er es mitunter recht arg machte.
Ich weis nicht, wie es zugieng, daß gegen das Ende des Abends das Gespräch sich zulezt um ausgezeichnet edle, mit bedeutenden Aufopferungen vollbrachte Handlungen drehte, von denen beinahe jeder der Anwesenden ein paar Beispiele, zum Theil mit großem Wortaufwande, der Gesellschaft zum Besten gab. Nichts ist ansteckender, und zugleich dem guten Geist der Konversazion verderblicher, als diese Lust zu erzählen, die gewöhnlich alle ergreift, sobald nur einer den Ton dazu angiebt; und doch ist auch[298] nichts seltner als die Gabe, eine gute Geschichte gut vortragen zu können. Auch an jenem Abende hatten wir nur zu oft Gelegenheit, die Wahrheit dieser Bemerkung bestätigt zu finden, und zulezt kam sogar einer der unbarmherzigsten Erzähler an die Reihe; einer von der Art, die nie das Ende der Geschichte finden kann, weil sie bei jedem Wort immer sich selbst wiederholt, um das schon Gesagte noch zu verbessern.
Lothario, so laßt mich den streitsüchtigen Fremden nennen, dessen eigentlichen Namen ich nie recht erfahren habe, weil ich nur dies einemal ihn sah, Lothario ließ eine Weile den gewaltigen Wortschwall ziemlich gelassen an sich vorüber gehen, in welchem jener Grosmuth und Dankbarkeit und Edelmuth durcheinander wirrte; doch endlich riß ihm die Geduld, besonders da er in unser Aller verlängerten Gesichtern Ueberdruß und Langeweile in deutlichen Zügen lesen mochte. Er sprang auf; ›geht mir,‹ rief er, in fast kläglichem Ton, indem er auf eine höchst komische Weise die Hände faltete, ›geht mir,[299] ich bitte euch um Gotteswillen! geht mir mit euern verwünschten Tugenden, die beim Lichte besehen nichts sind als Affektazion, Eitelkeit oder wohl gar Ungerechtigkeit, denn die kann man auch an sich selbst üben. Der Mensch trachte doch nur ja vor allen Dingen fürs erste gegen sich, wie gegen andere gerecht zu sein, ehe er es sich beikommen läßt, Grosmuth üben zu wollen,‹ sezte Lothario sehr ernsthaft hinzu. ›Was wir Grosmuth nennen, ist gewöhnlich nur verkleideter Uebermuth, gerecht sein aber ist jedem unerläßliche Pflicht, und wem es ein rechter Ernst ist, diese vollkommen und überall auszuüben, der wird wahrscheinlich lange vorher zu seinen Vätern versammelt werden, ehe er bis zur Erlaubnis grosmüthig sein zu dürfen sich durchgearbeitet hat.‹
›Mit der Dankbarkeit kommt mir nur vollends gar nicht,‹ rief Lothario fast überlaut, als mehrere Stimmen dieses Wort nannten, indem sie gegen ihn sich erhoben. ›Die Dankbarkeit ist eigentlich nichts weiter, als eine schlechte Gewohnheit,‹ fuhr er fort, ›eigentlich und unter[300] gewissen Modifikazionen könnte man sogar ein Laster sie nennen. Wer von andern sie fordert, ist, um ihn nicht noch jemanden schlimmern zu vergleichen, wenigstens eine Art Sklavenhändler, der mit einer miserablen Gefälligkeit oder mit ein wenig lumpigen Goldes, die Seele dessen, dem er nach seiner Meinung wohlthat, sich auf ewig erkauft zu haben meint; der aber, der sich einem andern auf immer zu eigen giebt, weil dieser ihm einmal irgendwo aus der Flamme half, der ist aufs höflichste benannt, wenigstens ein Schwachkopf, weil er nicht fühlt, daß jeder, der eine honette That vollbringt, schon in der Freude daran seinen Lohn dahin nahm.‹
Lothario's Worte machten einen unbeschreiblich traurigen Eindruck auf mich, denn sie erinnerten mich lebhaft an eine Zeit, an welche ich jezt nur mit sehr bitterer Empfindung denken konnte, in der auch ich, um genial zu erscheinen, ähnliche aus Wahrheit und Trug zusammengesezte Meinungen aufstellte und eifrig vertheidigte. Indessen erhob sich fast alle Welt gegen ihn, und er hatte[301] alle Hände voll zu thun, um jedem, der ihn angriff, gebührend Rede zu stehen. Ohne eigentlich in beleidigende Heftigkeit auszuarten, ward das Disputiren immer lauter und lebhafter, zulezt blieb man bei dem Satz stehen, den alle bekämpften und den Lothario gewandt genug zu behaupten suchte: daß es eben so sträflich und unrecht sei, aus Partheilichkeit für andere das eigne Glück zum Opfer zu bringen, als wenn man um des eignen Nutzens willen andre zu bevortheilen suche.
›Wohlan denn!‹ rief Lothario endlich aus, da er in Gefahr stand, mit seiner Stimme durch den immer mehr überhand nehmenden Lärmen nicht mehr durchdringen zu können. ›Wohlan, ich fordre das Wort! Beinahe ein jeder hat ein Geschichtchen erzählt, nur ich nicht. Ich bitte um die Erlaubnis, ein einziges Beispiel aufstellen zu dürfen, welches meine Behauptung erläutern soll; denn es scheint mir, als wolle man nicht recht verstehen, wie ich es meine. Das Fräulein hier mag dann den Streit entscheiden, in schwierigen[302] Fällen vertraue ich immer gern dem reinen Sinn der Frauen, die ohne viel zu grübeln recht gut wissen, was Recht, was Unrecht sei, weil sie es fühlen.‹
›Es war einmal,‹ fieng Lothario jezt an, da alle schwiegen um ihn anzuhören, ›es war einmal ein junger Mann, gesund an Leib und Seele, dabei gut, verständig unterrichtet, durch das Geräusch der großen Welt nicht verwöhnt, und doch bekannt genug damit, um sich nicht wieder darnach zu sehnen. Genug, ein Mann, wie er sein muß, um den durch lange Vernachläßigung tief gesunknen Zustand ziemlich weitläuftiger Familiengüter wieder zu heben, die ihm als dem ältesten Sohn seines Vaters, nach dessen unlängst erfolgtem Ableben zugefallen waren.
Der junge Majorats-Herr ward zwar bisher von Familienverhältnissen und mancherlei andern Rücksichten, abgehalten sich viel um sein Eigenthum zu bekümmern, doch endlich langt er, nach vieljähriger Abwesenheit und mannichfachen Reisen, ganz unvermuthet auf seinem ziemlich verfallnen[303] Stammschlosse an, mit dem Vorsatz von nun an der Verbesserung des Zustandes seiner armen verwilderten Bauern, und seiner eigenen nicht weniger vernachläßigten Besitzungen, sich ausschließend zu weihen. Sehr überrascht durch dessen Gegenwart, trifft er dort seinen einzigen um mehrere Jahre jüngern Bruder an, den er wunderlicher Weise noch gar nicht kannte, und mit dem er bis jezt auch fast in keiner Verbindung gestanden hatte.
Dieser junge eben mündig gewordne Mann hatte einzig deshalb seinen bisherigen Aufenthalt verlassen, um sich in seines ältern Bruders Arme zu werfen. Er war der Sohn einer zweiten Gemalin, des Vaters der beiden Brüder, von der sich dieser nach einer sehr kurzen unzufriednen Ehe getrennt hatte, und lebte von seiner frühesten Kindheit an in Rom, dem Geburtsorte seiner Mutter, wo er in einem Kloster in ihrer Nähe zum geistlichen Stande erzogen ward.
Durch die Bemühungen eines sehr mächtigen Oheims mütterlicher Seite, der als Prälat vom[304] ersten Range, und Liebling des heiligen Vaters, fast alles erreichen konnte, was er wollte, erhielt er indessen schon in seiner Kindheit, ganz gegen Gesetz und Regel, die Anwartschaft auf eine Komthurei des Maltheserordens, und war jezt im Begriff diese anzutreten und zugleich das Ordensgelübde abzulegen.
Die Lage des jungen Herrn war also nichts weniger als beklagenswerth, indem er statt der Tonsur das Maltheserkreuz erhalten sollte, und eigentlich hätte er sich glücklich preisen können, aber unglücklicherweise war er verliebt, zum Sterben verliebt! oder bildete sich vielleicht nur ein es zu sein. Ein wunderschönes zum Reichsein erzognes und dabei blutarmes Fräulein war die Dame seines Herzens, deren Eltern ihrer Schönheit wegen gewaltig hoch mit ihr hinaus wollten, so wie sie selbst auch, und mit der folglich an ein glückliches Hüttenleben gar nicht zu denken war. Ueberhaupt sollten Verliebte an dergleichen nie denken, wenn sie nicht von Jugend auf daran gewöhnt sind. Doch dies nebenher.[305]
Daß der junge Herr also lieber heurathen als Maltheser werden wollte, war wohl natürlich, und daß er seinem Bruder Tag und Nacht seine Liebesklagen vorjammerte, war es auch. Was thut nun der ältere Bruder? statt dem jungen angehenden Ritter vernünftig zuzureden, läßt er sich durch die Pinseleien desselben so weichherzig machen, daß er gar nicht einmal recht untersucht, ob diese Liebe ächt und vernünftig sei. Er spielt lieber den Großmüthigen; er tritt alle Rechte seiner Erstgeburt und mit diesen alle seine Besitzungen dem jüngern Bruder ab, um ihm dadurch sein Liebchen zu erkaufen, und nimmt an dessen Stelle das Maltheserkreuz und die Komthurei, wozu ihm des Jüngern geistlicher Oheim in Rom mit tausend Freuden behülflich ist; freilich fand dieser, aus tausend Gründen, seine Rechnung dabei, wenn er auf diese Weise dem Sohn seiner Schwester zu den reichen Besitzungen verhalf. Die Welt nun nennt diese Handlung großmüthig, ich nenne sie nicht nur verrückt, sondern auch höchst ungerecht gegen sich und die armen Unterthanen, die von der Natur an den ältern Bruder gewiesen waren,[306] um aus ihrem jetzigen unglückseeligen Zustand zu kommen. In seinem großmüthigen Paroxismus überantwortete dieser sie nun einem verliebten Knaben, dessen mönchische Erziehung ihn unfähig gemacht hat, für die armen Leute zu sorgen, und der sich vermuthlich eben so wenig um das bekümmern wird, was hier Noth ist, als seine Vorfahren es seit den lezten hundert Jahren gethan haben.
Entscheiden Sie nun, mein Fräulein, ob meine Ansicht die rechte sei,‹ sezte Lothario jezt mit einer Verbeugung gegen mich hinzu. ›Uebrigens habe ich die Geschichte nicht etwa ersonnen; vor einigen Monaten wohnte ich als Zeuge der feierlichen Uebergabe der Güter bei. Vielleicht kennen sogar einige in der Gesellschaft den Großmuths-Helden. Er heißt Bernhard von Leuen, und hat sich wie ich höre auch hier eine Zeitlang aufgehalten. Um das Maaß seiner Thorheit voll zu machen, gieng er, da ich ihn verließ, nach Venedig, um sich von da nach Valetta einzuschiffen; dort muß er jezt längst angelangt sein; er war Willens, wenigstens einige[307] Jahre in jenem Hauptsitz seines Ordens zu verweilen.‹
Alle Anwesenden beinahe hatten Bernhard von Leuen gekannt, und der Antheil, den Lothario's Erzählung erregte, war so groß und stürmisch, daß die Streitfrage, welche dieselbe herbeigeführt hatte, zum Glück darüber nicht weiter zur Sprache kam.
Wie dankte ich Gott, als ich nach dieser Scene mit mir und meinem Schmerz mich endlich ohne Zeugen befand! Alles, woran ich seit Bernhard mich verließ unablässig gearbeitet hatte, das ganze aus Sehnsucht und Hoffnung künstlich zusammengesetzte Gebäude meiner Ruhe war nun mit einem Schlage zerstört. Mir war, als bräche erst jezt der Schmerz mit allen seinen vernichtenden Folgen gewaltsam auf mich ein, und ich war von neuem unglücklicher, als ich es je zuvor gewesen. Deutlich sah ich ein, wie nun jede Hoffnung möglicher Versöhnung, möglicher Vergütung meines Unrechts, sogar die des Wiedersehens, mir auf immer verloren sei. Ich schauderte vor mir selbst, als hätte ich ein Verbrechen begangen, denn ich war es ja,[308] die jene unseelige Reise veranlaßte, auf der er den Bruder kennen lernte. Der Schmerz um mich hatte die schöne Klarheit seines Geistes zerstört, und ihn zu jenem raschen, vielleicht für das Glück seines Bruders nicht einmal nothwendigen Schritte getrieben, der ihn nun aus seinem Vaterlande verbannte, der seine ganze Zukunft umgestaltete, ihn seines Eigenthums beraubte, und ihn ohne Frieden und ohne Freude hinaus in die Irre sandte.
O laßt mich nicht weiter davon sprechen, damit nicht der Geist jener quaalvollen Zeit von neuem über mich komme! Laßt mich euch nicht vorrechnen, wie viele endlose Tage, Wochen, Jahre, einander folgten, ohne daß ein einziger Tag mir tröstlichere Kunde von ihm gebracht hätte!
Die Zeit vergieng unter dem Bemühen ruhig und glücklich zu scheinen, um meines Vaters willen. Der ehrwürdige Greis neigte sich immer tiefer dem Grabe zu, während meine schöne blühende Schwester immer liebenswürdiger sich entwickelte. Sein Blick ruhte oft mit dem Ausdruck tiefer Sorge auf dem holden Wesen, das in jugendlicher Freudigkeit ihn[309] umflatterte, und wandte sich dann gleichsam bittend mir zu. Es schmerzte mich tief, aber ich durfte diese bittenden Blicke nicht verstehen. Denn wie wäre es mir möglich gewesen, unter den zum Theil sehr achtungswerthen Männern, die sich damals um meine Hand bewarben, einen zu wählen, während die Erinnerung an Bernhard, die Sorge um ihn, die Reue über eine nie wiederkehrende Vergangenheit, noch immer meine ganze Seele erfüllten! Mein gütiger Vater schonte mich deshalb nicht minder, weil wir nie über diesen Gegenstand ein Wort mit einander gewechselt hatten; er las deshalb nicht minder deutlich in meinem Herzen und erlaubte sich auch nicht die kleinste Andeutung seines Wunsches, mich vor seinem Tode an der Seite eines edlen Gatten versorgt, und dadurch auch die Zukunft meiner Schwester gesichert zu sehen. Nie kam ein hierauf Bezug habendes Wort über seine Lippen, aber auch ich wußte, was in seinem Gemüthe vorgieng, und die Quaal meines Daseins ward dadurch noch erhöht, daß ich nicht gewähren konnte,[310] was er so innig zum Besten seiner Kinder wünschte.
Die ganz unerwartet sich erklärende Neigung Deines Vaters, Vicktorine, zu meiner damals kaum funfzehnjährigen Schwester, machte wider alles Verhoffen unserer Sorge um das liebe Kind ein plötzliches fröhliches Ende.
Kleeborn war der einzige Sohn eines der angesehensten Handelsherren der Stadt, welcher von jeher der treueste geliebteste Freund meines Vaters gewesen war. Er hatte so eben die sogenannte große Tour durch beinahe ganz Europa zurückgelegt, welche man damals zur Vollendung der Erziehung eines jungen Mannes seiner Art für unentbehrlich hielt, und er kehrte jezt heim, um eine Gattin zu wählen und sich dann in seinem Geburtsorte häuslich niederzulassen. Meiner sehr schönen Schwester fröhliches einfaches Wesen zog auch ihn an, wie jeden, der sie sah, und bestimmte ihn vielleicht um so mehr in seiner Wahl, da seine Bekanntschaft mit den Damen des Auslandes wahrscheinlich von der Art gewesen war, daß er den Werth einer solchen[311] Gefährtin des Lebens durch den Kontrast mit jenen um so höher zu schätzen gelernt hatte. Karolinens bis jezt ganz frei gebliebenes Herz war stets bereit, Liebe um Liebe zu geben. Sie war noch bei weitem zu jung, um das Wichtige des Schrittes, den sie zu thun aufgefordert ward, in seinem ganzen Umfange zu fühlen, und so gab sie ohne Widerstreben sogar fröhlich ihr Jawort zu dieser Verbindung, da sie sah, welche Freude sie dadurch ihrem Vater bereitete.
Diesem sowohl als dem alten Kleeborn war die Aussicht, das Band der zwischen beiden so lange bestandenen Freundschaft durch die Verbindung ihrer Kinder noch enger knüpfen zu können, zu erwünscht, als daß irgend ein auf Geburt oder Vermögen Bezug habendes Vorurtheil bei einem von beiden hätten zur Sprache kommen können. Beide führten voll der freudigsten Aussichten auf eine glückliche Zukunft die Verlobten sobald als möglich am Altar einander zu. Die Augen meines Vaters strahlten während der feierlichen Handlung in ungewohntem Glanz; seine ganze Gestalt glich der eines seeligen[312] Verklärten; ach nur zu bald sollte er wirklich zu ihnen gezählt werden und in das Land einziehen, wo die Sorgen verstummen und keine Thränen mehr sind! Wir alle weinten drei Tage später an seinem Sarge. Schonend und freundlich hatte der milde Genius des Todes die Fackel umgekehrt, und den geliebten Greis schmerzlos im ruhigen Schlummer seiner Vollendung zugeführt.
Ich eilte vom Grabe des Vaters in die mir im Schmerz so lieb gewordene Einsamkeit meines Stiftes zurück, wo das schwache Lebenslicht meiner edlen Freundin, noch immer kämpfend mit dem völligen Erlöschen, trübe und schwankend fortbrannte. Ich wollte nicht mit meinem Gram zwischen dem neuvermählten Paar und dem fröhlich leuchtenden Glücksstern ihrer jugendlichen Liebe verdüsternd eintreten, und war auch überdem der Ruhe höchst bedürftig. Ohne daß man mich im eigentlichsten Sinne krank nennen konnte, ward doch das leise Hinsinken meiner durch den Schmerz um meinen Vater noch mehr untergrabenen körperlichen Kräfte jezt so sichtbar, daß selbst unser Arzt eine einfachere Lebensweise in[313] ländlicher Ruhe auf das Dringendste anempfehlen zu müssen glaubte.
Aeußern Frieden fand ich in meiner stillen Wohnung, auch frommen wohlgemeinten Trost an der Seite meiner jezt fast ganz verklärten Freundin. Doch der Schmerz, dem ich nirgend entfliehen konnte, wohnte in meinem Herzen und nagte leise und heimlich an meinem Leben.
Einige Wochen nach meiner Ankunft saß ich in früher Morgenstunde allein mit mir selbst, versunken in schmerzlichem Nachdenken, aus welchem Rebecke, meine alte Wärterin, durch die ihr ungewohnte Hast, mit welcher sie die Thüre aufriß, mich aufschreckte. Die treue Seele hieng mit mütterlicher Liebe an mir sowohl als an meiner Schwester, weil sie von unserer Geburt an uns gewartet und gepflegt hatte. Deshalb hatte sie auch, ungeachtet ihres weit vorgerückten Alters, es sich nicht nehmen lassen, mich in meine Einsamkeit zu begleiten, weil ich, wie sie behauptete, wieder gepflegt werden müsse, und niemand das besser verstünde als sie. ›Fräulein Annettchen,‹ rief sie[314] jezt ganz athemlos, denn so nannte sie mich noch immer von meiner Kindheit her, ›Fräulein Annettchen, wen denken Sie, daß ich eben gesprochen habe, er gieng im Klostergarten spazieren. Herr von Leuen! Er kannte mich gleich wieder, und hatte eine Freude! er hat mich recht über Sie und Ihr Befinden ausgefragt, ich mußte Ihre Fenster ihm zeigen. Die wilde Rebe mit den schönen rothen Blättern hat ihm recht gefallen, er hat sie in eins weg betrachtet und gelobt.‹
Guter Gott! wie vermöchte ich das Gefühl Euch zu schildern, mit dem ich gleich einer aus bangem Todesschlaf Erwachenden diese Botschaft vernahm! Ich drückte die gute Alte an meine Brust, ich lachte und weinte in beinahe wahnsinniger Freude. Ich kniete hin und dankte Gott mit lauter Stimme, daß Bernhard noch mein gedenke.
Dann versank ich aufs neue in tödtliche Sorge, und ermahnte die gute Rebecke, sich doch ja recht zu bedenken, ob sie sich nicht in der Person geirrt haben könne. Ich ließ aufs genaueste mir beschreiben wie er aussah; ich fragte hundertmal, ob er auch[315] gewiß kommen werde; ich konnte es mir noch immer nicht denken, daß er da sei, meinetwegen da sei, daß ich ihn wiedersehen solle.
Rebecke war unermüdlich in Wiederholung des mir schon tausendmal Gesagten. Nie, nie habe ich seitdem die treue wieder von mir gelassen; dankbar habe ich kindlich sie Jahre lang gepflegt, bis sie lebensmüde in einem sehr hohen Alter in meinen Armen entschlief. Stets dachte ich daran, daß sie es war, die zuerst mir sagte, Bernhard von Leuen ist wieder da.
Nach wenigen Stunden kam er selbst. Ich sah ihn wirklich wieder. Lieben Kinder, ich bin sehr alt und viele viele Jahre liegen zwischen dieser Stunde und jenem Augenblick; doch wenn ich seiner gedenke, so ist mir noch als lege sich mein ergrautes Haar wieder in hellschimmernden Locken um meine Stirn, als berühre mich ein Lebensstrahl von dort oben, und gebe meine Jugend mir wieder. Wie schön stand ihm die Freude, mich so blühend wieder zu finden, denn in diesem seeligen Moment lieh das Entzücken meiner sonst verfallnen Gestalt aufs[316] neue den Anschein der Gesundheit und färbte meine bleichen Wangen mit ihrem rosigen Schein.
Bernhard sagte mir, er habe in meiner Vaterstadt vernommen, daß ich an einer wahrscheinlich unheilbaren Auszehrung leide; er gestand mir, daß er die Sorge um mich nicht länger habe tragen können, daß er einzig gekommen sei, mich zu sehen, wäre es auch nur aus der Ferne. Alles dieses sagte er mir abgebrochen in möglichst kurzen Worten, seine Seele war in seinen Augen. Wir beide sprachen überhaupt nur wenig bei dieser ersten Zusammenkunft, wir konnten nicht reden, wir konnten nichts als uns freuen, uns beiden war in diesem Moment als sei nie eine betrübende Vergangenheit da gewesen.
Am folgenden Morgen kam er wieder, doch neue Zweifel schienen in ihm erwacht, denn trübe und verschlossen stand er vor mir. Ich ertrug diese Veränderung in seinem Betragen mit Gelassenheit und stiller Ergebung, denn ich wußte, ich hatte dies verdient, ich hatte muthwillig sein Zutrauen verscherzt. Doch ich blieb mir gleich, ich dachte[317] und wollte nichts, als offen und unverstellt, ohne List und ohne Hinterhalt mich ihm zeigen wie ich war, so viel ich dies konnte, ohne der Würde meines Geschlechts etwas zu vergeben, und dadurch seine Achtung aufs neue, wenn gleich auf andre Weise, zu verscherzen.
Am dritten Tage kam er um Abschied zu nehmen. Ich führte ihn zur Pröbstin, die durch ungewöhnliches Leiden entkräftet nicht im Stande gewesen war, ihn früher zu sehen. Auch jezt fühlte sie sich noch sehr unwohl, und nur meine dringenden Bitten hatten sie vermocht, meinen Freund bei sich zu empfangen.
Mir lag unendlich viel daran, mir auf diese Weise wenigstens den Trost zu erwerben, zuweilen, wenn er nun ganz von mir geschieden sein würde, seinen Namen nennen, von ihm reden zu hören, wäre es auch im gleichgültigsten Ton; ach und ganz gleichgültig konnte niemand von ihm sprechen, der ihn kannte, das wußte ich wohl.
Ein unerwartetes Geschäft, welches die Pröbstin, krank wie sie war, nicht selbst berichtigen[318] konnte, und das sie mir deshalb auftrug, zwang mich fast in derselben Minute, ihr Zimmer wieder zu verlassen, in welcher ich Bernhard bei ihr einführte. Es hielt beinah eine Stunde lang mich fest, bei meiner Zurückkunft fand ich Bernhard wider mein Erwarten noch bei meiner Freundin, doch sein ganzes Wesen erschien mir auffallend anders als zuvor. Eine ihm sonst fremde Hastigkeit in seinen Bewegungen, das ungewohnte Feuer seiner Augen, der mir nur zu wohl bekannte Zug schmerzlicher Rührung um seine Lippen, alles sagte mir, daß etwas Ungewöhnliches in ihm vorgegangen sein müsse, seit ich das Zimmer verließ. Die Pröbstin lag zwar bleich und erschöpft auf ihrem Ruhebette, aber sie lächelte wie eine Seelige mir entgegen, indem sie mich zu sich winkte, mit leiser Stimme mich bat, den Herrn von Leuen fortzuführen, und sie deshalb mit ihrer krankhaften Schwäche bei ihm zu entschuldigen.
Bernhard folgte mir mit auffallender Eile, da ich ihm zum Fortgehen winkte. Sein Arm zitterte, indem er mich die Treppe hinab führte, er war[319] augenscheinlich in heftiger innerer Bewegung, doch ob in einer schmerzlichen oder freudigen, konnte ich noch immer nicht entscheiden.
Kaum war ich mit ihm in meinem Zimmer allein, als der so lange in seiner Brust mühsam verhaltne Sturm losbrach. ›Anna, theure wiedergefundne Anna!‹ rief er, und betrachtete mich, wie man ein lange schmerzlich vermißtes Kleinod betrachtet, mit zusammengeschlagnen Händen und mit Augen, aus denen das reinste Entzücken leuchtete. ›Ja, Sie sind es,‹ fuhr er mit tief bewegter Stimme fort, ›Sie sind, was sie immer waren, edel und rein und gut wie ein Engel des Himmels. Ohne zu wissen, was sie that, hat Ihre Freundin den Schleier zerrissen, der Sie so lange mir verhüllte, indem sie mit alle der dankbaren innigen Liebe von Ihnen sprach, die sie mit so hohem Rechte für Sie empfindet. Anna, ich kenne jezt Ihr ganzes engelreines Leben, von dem Augenblick an, da ich Unseeliger aus Ihrer Nähe entfloh. Ich kann fast sagen, ich weiß wie Sie jede Viertelstunde jener langen, langen Zeit zugebracht haben. Was Ihr[320] erstes Wiedersehen in diesen Tagen mich ahnen ließ, wogegen ich Verblendeter so lange mich sträubte, alles das ist in dieser Stunde zur klarsten Gewißheit mir geworden und ich bin zugleich der Seeligste und Unseeligste auf Erden!‹
Lieben Kinder, was soll ich euch noch viel von dem Gespräch zweier in Wonne und Schmerz Verlorner erzählen. Bernhard bekannte mir wie er mit tief verwundetem Gemüth, ohne Plan, unfähig sogar einen zu ergreifen, auf seinem Schlosse angelangt sei, wo er seinen Bruder ringend mit wilder Verzweifelung antraf. Alles was Lothario grell und widerwärtig dargestellt hatte, sah ich jezt durch tausend Umstände gemildert, im schönen Licht der edelsten Aufopferung, durch die er einem liebenden Paar das Glück, das ihm selbst auf ewig hoffnungslos aus seinem Leben gerissen schien, erkaufen wollte. In Maltha konnte ich nicht länger weilen, sprach er zu mir, eine nicht zu bekämpfende Sehnsucht, ähnlich dem Heimweh der Schweitzer, hatte mich ergriffen. Ich mußte wieder fort, ich vermochte es nicht,[321] dieses Dasein, in welchem kein Ton aus Ihrem Leben mein Ohr erreichte, länger zu ertragen. Ich nahm Urlaub und ging nach Deutschland zurück, um mir nur die Gewißheit zu verschaffen, daß Sie lebten, daß Sie glücklich wären. So meinte ich es wenigstens, doch als ich nun wieder mit Ihnen dieselbe Luft athmete, genügte mir dieses nicht mehr; ich mußte Sie auch sehen. Anna, wie habe ich Sie wieder gefunden! wie so ganz gleich dem, was Sie in meinen glücklichsten Träumen immer waren!
Leider war auch das Entzücken des gegenwärtigen Augenblicks nichts weiter, als ein flüchtiger Traum von Seeligkeit des Himmels, der nur zu früh der herben Wirklichkeit weichen mußte; denn so wie der erste freudige Rausch nachlies, kam auch die Ahnung über uns, daß wir uns nur gefunden hätten um uns wieder zu verlieren, daß nichts uns bleiben könne, als der feste Glauben, einander stets werth gewesen zu sein und es von neuem ewig zu bleiben. Meine Liebe hatte mein Herz groß gemacht und meinen Muth erhöht, ich[322] vermochte es über mich, dem Geliebten alles zu gestehen und jedes Unrecht ihm abzubitten. Mein ganzes Herz, alle Tiefen meines Gemüths enthüllte ich seinem liebenden Blick. Auch er klagte sich an, und ich genoß die Seeligkeit ihm ebenfalls vergeben zu können, wie er mir vergab.
Als wir gelassner wurden, suchten wir unsre Zukunft und unsre jetzige Lage so klar als möglich zu überschauen, um zu entdecken ob nirgend Rettung für uns sei, ob denn auch gewiß jede Hoffnung verloren wäre das einmal verscherzte Glück uns wieder zu gewinnen; doch ach! wir mußten, wenn gleich mit tiefem Schmerz, einander gestehen daß wir beide, jeder auf seine Weise, alle Möglichkeit einer nähern Verbindung auf immer von uns gewiesen hatten. Bernhard war katholisch, ich hatte dies früher nicht gewußt, obgleich er nie ein Geheimniß daraus machte; denn in meiner damaligen gränzenlosen Gleichgültigkeit gegen alles was auf Religion Bezug hatte, hielt ich es nie der Mühe werth, mich um dergleichen zu bekümmern.[323]
Als Katholik hatte sich Bernhard lebenslänglich dem ehelosen Stande geweiht, indem er das Maltheser Kreuz annahm. Zwar konnte der Pabst sein Ordensgelübde lösen, und es wäre vielleicht nicht schwer geworden diese Gunst von ihm zu erhalten, doch dann verlor Bernhard auch die Einkünfte seiner Komthurey und war, bis auf eine nicht sehr bedeutende Leibrente, die er sich vorbehalten hatte, ganz arm. Sein Bruder, dem er alles übrige was er einst besaß, abgetreten, war selbst beim besten Willen nicht fähig, ihm Beistand zu gewähren, denn bei der verschwenderischen Lebensweise zu der seine junge, an Pracht und Wohlleben gewöhnte Gemalin ihn verführte, war er selbst oft in Verlegenheit und genöthigt Schulden zu machen, indem er die Einkünfte seiner ohnehin sehr gesunknen Besitzungen auf Jahre hinaus verpfändete.
Mich, die protestantische Stiftsdame, band zwar kein Gelübde, aber auch mir hatte mein Vater wenig hinterlassen, obgleich die Einkünfte[324] meines kleinen Kapitals, verbunden mit denen meiner Präbende, für mich hinreichend waren um anständig davon leben zu können. Bernhard schauderte vor dem Gedanken, an seiner Hand mich, die Heißgeliebte, vielleicht in einen bodenlosen Abgrund von Sorgen und Mangel hinabzuziehen, und so blieb uns denn nichts übrig, als Entsagung. Mein Freund war darüber der Verzweiflung nahe, denn er betrachtete unser trauriges Loos als die Folge einer sonst ganz gegen seinen Karakter streitenden Uebereilung, zu der sein damals von allen Seiten schmerzlich bestürmtes Gefühl ihn hingerissen hatte, und die traurige Gewißheit, daß sein Bruder an der Seite der so theuer erkauften Gattin das gehoffte Glück bei weitem nicht gefunden habe, raubte ihm vollends jeden Trost. Doch ich, die ich einen weit herbern Schmerz gekannt, ich war beglückt, wenn gleich unter Thränen. Ich wandte alles an, um auch meinem Freunde die wehmüthige Ruhe mitzutheilen, die seit dieser unvergeßlichen Stunde mich nie wieder ganz verlassen hat; doch leider[325] widerstand sein Kummer lange Zeit allen meinen Bitten und Vorstellungen.
Bernhard, sprach ich zu ihm, glauben Sie mir, von heute an trage ich nicht nur resignirt, sondern auch mit stiller Freude diese Strafe meines früheren Leichtsinns. Von nun an ist mein ganzes Leben einzig dem beseeligenden Bewustsein geweiht, Ihnen anzugehören, und wie auch unser Schicksal sich wenden mag, und wenn wir auch nie wieder wie heute neben einander stehen, wenn ich nach der schmerzlichen Trennung, die uns so nahe bevorsteht, auch nie wieder die geliebte Gestalt meines Freundes wiedersehen soll, so bin und bleibe ich doch in unwandelbarer Treue Ihnen zu eigen und werde nie eines andern sein. Denn wir sind eins auf ewig, und das Gelübde das Sie bindet, fesselt auch mich.
Bernhard erschrack auf das Heftigste, da er diesen Entschluß von mir vernahm; beinahe kniend flehte er mich an, davon abzustehen. ›Sie wissen nicht Anna,‹ rief er, ›Sie wissen nicht zu welchem Opfer Ihr Edelmuth Sie verleiten will. Noch[326] blüht Ihnen das Leben und die nie wiederkehrende Jugend, o verschleudern Sie nicht beide um eines Unglücklichen willen, der gestraft werden muß, weil er an Sie nicht glauben wollte und im blinden Wahn sich selbst Fesseln schmiedete, die er jezt nicht mehr zerreißen darf. Theure Anna, denken Sie von heute an ich sei gestorben, tragen Sie mein Andenken wie das eines einst geliebten Todten in Ihrem reinen treuen Gemüth, erinnern Sie sich meiner mit stiller Wehmuth wenn Sie glücklich sind, mehr darf und kann ich nicht wollen, aber versprechen Sie mir wenigstens, das Glück um meinetwillen nicht von sich zu stoßen, wenn es in einer Ihrer würdigen Gestalt sich Ihnen naht, und das wird es gewiß und bald. Ich bin ja der Welt und dem Glück schon abgestorben, ich bin ja eigentlich nichts weiter mehr als der Leichenstein dessen, was ich einst war.‹
Sein inniges Flehen, die Thräne die sein schönes Auge umdunkelte, rührten mich tief in der Seele, weil er es war der so bat, nicht weil die Gründe die er anführte meinen Vorsatz erschüttert[327] hätten. Ich weinte mit ihm, aber ich blieb fest auf meinem Sinn. Und so schieden wir wieder noch am nämlichen Abende von einander, auf lange, lange Zeit. Denn Bernhards Rückkehr nach Maltha stand unabänderlich fest.
Ich blieb wieder einsam zurück, doch wie ganz anders war alles gegen ehedem. Bernhards Briefe, obgleich die weite Entfernung sie selten genug machte, wurden von nun an das eigentliche Element meines Lebens, meine ganze Existenz drehte sich einzig um ihren Empfang und um die Freude sie zu beantworten. Jeder neue Jahrestag, den wir so weit von einander entfernt erlebten, fand uns fester verbunden, denn unser ganzes Dasein verzweigte sich, durch die schriftliche Mittheilung aller unsrer innern und äußern Begebnisse auf das wunderbarste in einander, und wenn je zwei Menschen eins genannt zu werden verdienten, so waren wir es.
Zuweilen trennte ich mich auf einige Monate von der mir so lieb gewordnen Einsamkeit, um meine im Gewühl der Welt lebende Schwester[328] zu besuchen, doch immer kehrte ich voll heißer Sehnsucht zu ihr wieder zurück, sobald ich dies nur konnte ohne Karolinen wehe zu thun. Wenn ich dann bei meiner Heimkehr die alten Thürme meiner klösterlichen Wohnung wieder von Ferne erblickte, so klopfte mir das Herz in ungestümer Freude, beinahe als wäre ich gewiß, ihn dort wieder zu finden, für den und in dem ich einzig noch lebte; denn ich kannte keine Freude als die Beschäftigung mit ihm, der ich mich nirgend so ungestört ergeben konnte. Die Welt vergaß mich allmählig wie sie alles bald vergißt, und so führte ich ein paar Jahre hindurch ein ernstes ruhiges, ich könnte sogar sagen, ein glückliches Leben, von wenigen gekannt, von keinem beneidet.
In wilden Kämpfen wogte indessen die Welt. Die französische Revolution war ausgebrochen, und alles, alles, sowohl im Reich der Ideen als der Wirklichkeit, näherte sich einer furchtbar gewaltsamen Umwälzung, welcher nur wenige sich ganz zu entziehen vermochten. Auch mein Freund hielt es nicht länger aus, dem allen nur aus der Ferne[329] zuzusehen, er konnte das ruhige stille Leben nicht weiter fortführen, das bei dem gewaltigen Treiben im übrigen Theil von Europa, ihm wie Unthätigkeit vorkam, und er wandte alles an, um sich wenigstens auf einige Zeit davon loszumachen.
Er kam zurück ins Vaterland; vor allem eilte er mich wieder in meiner Einsamkeit aufzusuchen, und wir feierten zum zweitenmal mit entzückender, wenn gleich wehmüthiger Freude, das Fest des Wiedersehens. Dann zog er wieder fort, hinaus in die wildbewegte Welt, um ihr Treiben mit eigenen Augen und in der Nähe zu beobachten. Der trügerische Schimmer ächter Freiheit und hoher Bürgertugend, den anfangs die Revolution um sich verbreitete, hatte bei ihrem ersten Erscheinen die edelste Jugend aller Länder verblendet, und auch Bernhard fühlte sich in der Ferne vom allgemeinen Taumel ergriffen; doch in der Nähe verschwand das Truggebilde gar bald, vor dem richtigen Scharfblick, mit dem die Natur ihn reichlich begabt hatte.[330]
Die verbündeten Mächte standen jezt auf, um mit vereinter Kraft die vielköpfige Hyder der wildesten Anarchie in der Geburt zu ersticken, und auch mein Freund gesellte ihrem Heere sich zu, und theilte mit edlen Genossen alles Unheil jener trüben verhängnißvollen Zeit.
Tief betrübt eilte er nach dem so traurig beendeten Feldzuge zu mir zurück. Er suchte und fand Trost und Beruhigung bei mir, dem einzigen Wesen dem er in der Welt noch angehörte; dann wandte er sich wieder ab, um in einen ausgebreiteteren Wirkungskreis zu treten, den die Gnade eines großen Monarchen ihm bot, welchem er wärend jenes merkwürdigen Krieges glücklich genug gewesen war, näher bekannt zu werden. Seine Ordenspflicht, wenn gleich nicht sein Gelübde, wurden in der Zeit so gut wie vernichtet oder doch aufgehoben, denn auch Maltha fiel durch Feigheit und schändlichen Verrath in die Hände der allgemeinen Welträuber. Völlig frei von dieser Seite begann jezt Bernhard ein sehr bedeutendes, ich darf wohl sagen, ein gewaltiges großes[331] Leben zu führen, zu dessen Förderung er seine vielfachen Verbindungen mit ausgezeichneten und mächtigen Zeitgenossen sehr glücklich zu benutzen wußte. Uebrigens bahnten auch sein Geist, seine wissenschaftliche Bildung, seine Lebenserfahrung, das Einnehmende seiner persönlichen Erscheinung überall ihm den Weg.
Auch in meiner äußern Lage war indessen eine bedeutende Veränderung vorgegangen. Nach langem Kampfe endlich von seinen irdischen schmerzlichen Banden entfesselt, hatte der edle reine Geist meiner Freundin der ewigen Heimath sich zugeschwungen. Seit Jahren mußte ich unter ihrer Aufsicht alle Pflichten, die ihr als Pröbstin des Stiftes oblagen, für sie verwalten, indem ihre große Kränklichkeit ihr nicht mehr erlaubte, dies selbst zu thun. Gegen mein Erwarten und ohne mein Zuthun, ward ich nach ihrem Tode erwählt, als ihre Nachfolgerin ganz an ihre Stelle zu treten und der mir dadurch zufallende Antheil an der Verwaltung der dem Stift angehörenden weitläuftigen Güter, öffnete mir ein weites Feld[332] zur Uebung aller meiner geistigen Kraft, und bot mir tausendfache Gelegenheit, Gutes zu wirken.
Mein Freund lebte indessen als auswärtiger Gesandte seines Monarchen, abwechselnd an mehreren, zum Theil weit entfernten Höfen, und der blendende Glanz der ihn in seinem jezigen Wirkungskreis umgab, verhüllte ihn mir oft. Doch immer blieb er mein auch in der Ferne, immer war ich, und nur ich, die Vertraute seiner Pläne, seiner Ansichten, seiner Handlungen, ich darf sagen jedes Gedankens seiner Seele, und zuweilen gelang es mir sogar durch meinen Rath sowohl als auch auf andere Weise ihm nüzlich zu werden.
Die stete, mitunter thätige Theilnahme an Dingen, die gewöhnlich weit außer dem Bereich des Frauenkreises liegen, gab mir mit der Zeit eine bei meinem Geschlechte ungewöhnliche Festigkeit des Sinnes, und eine ganz andre Art von Bildung, als es die meiner Umgebungen war. Mit meiner innern Kraft wuchs auch meine Gewalt über das Gemüth der meisten die mit mir in irgend eine Art von Berührung kamen;[333] ich führte ein sehr thätiges Leben, das den heilsamsten Einfluß auf meine Gesundheit hatte, und ich darf sagen, ich habe in der langen Zeit manches Gute zu Stande gebracht. Und warum sollte ich es nicht auch euch gestehen, daß ich Viele und zu ihrem Besten beherrscht habe, die angezogen von meiner Art das Leben zu nehmen sich vertrauungsvoll mir ergaben? Doch mein Freund bewahrte mich vor jedem Uebermuth, denn ich war und blieb stets nur das Echo seines Wesens wie seines Lebens.
Nach einigen Jahren kehrte Bernhard aus dem Auslande zurück, um in der Nähe des Monarchen dem er diente, eine sehr bedeutende Stelle zu bekleiden. Wir sahen uns wieder, wir trennten uns von neuem und kehrten wieder zu einander zurück, oft und vielfach im Laufe des Lebens; doch immer fanden wir einander in unveränderter alter Treue wieder, genau so wie wir uns verlassen hatten. Auch brachte ich jezt zuweilen mehrere Monate in Bernhards glänzender Nähe zu, wenn seine Geschäfte ihm nicht erlaubten,[334] mich zur gewohnten Zeit in meiner Einsamkeit aufzusuchen.
Bernhard war jezt wieder reich, es lag in seiner Gewalt sein Gelübde lösen zu lassen, um mir für den Rest unsers Lebens die Hand zu bieten, und gerne hätte er auch vor der Welt bekannt, daß sein Dasein in allem Wechsel seines Geschicks stets einzig mir geweiht gewesen sei. Doch wir beide waren indessen alt geworden; es fehlte uns der Muth zu einem raschen Entschluß, und eine seltsame Scheu, von welcher keines von uns sich genaue Rechenschaft abzulegen vermochte, hinderte uns an unserm so lange bestandnen, so lange uns beglückenden Verhältniß, etwas abzuändern. So vergieng uns wieder ein Jahr nach dem andern, indessen hätten wir wahrscheinlich doch noch dem bei jeder neuen Trennung lebhafter gefühlten Wunsch nachgegeben, in ungestörtem Beisammensein das Ende unsrer Tage vereint abzuwarten – da trat der Tod zwischen uns.
Bernhard starb ferne von mir, in der Schweiz, wohin Geschäfte seines Herrn ihn gerufen hatten.[335] Mein tiefer Schmerz zog mich hin an sein Grab, dort fand ich Thränen und in diesen die erste Erleichterung für meine im bittersten Weh erstarrte Brust.
Der Anblick der unbeschreiblich großen Natur in jenem wundervollen Lande, löste zuerst das eiserne Band, welches mir bis zum Erdrücken das Herz zusammenpreßte, und ich glaubte unaufhaltsam mein Leben auf dem Hügel ausweinen zu müssen, der die geliebte Gestalt mir auf immer entzog. Mein erstarrtes Herz ward wieder weich, mein Auge hob sich wieder fromm hoffend mit Ergebung, zu dem Allwaltenden hinauf, der dort auf seinen ewigen Bergen im riesengroßen Bilde der Natur sich den Sterblichen näher offenbaret. Ich blieb lange genug in der Schweiz, um noch Bernhards Todestag an seinem Grabe zu feiern; das sind nun acht Jahre – eben heute.«
Vite! vite mes enfans, geschwinde ans Fenster! Ciel de Dieu quel train! rief Mamsell Virnot, indem sie den Kopf zur halbgeöffneten Thüre des[336] Wohnzimmers hinein steckte, ihn aber auch sogleich wieder zurückzog und davon eilte. Babet und Agathe saßen eben ganz allein am Kamin, mit ihrer Näharbeit emsig beschäftigt. Agathe nach ihrer hastigen Art, warf im Aufspringen den großen Stickrahmen über den Haufen, verwickelte sich in die Fäden der weit über den Fußboden sich verbreitenden Seidenrollen, zerriß alles ohne sich weiter darum zu kümmern, und eilte das Fenster aufzumachen; denn der immer näher schmetternde Klang vieler unter einander wetteifernder Posthörner lockte sie unwiederstehlich. Auch Babet gesellte sich zu ihr, und beide Mädchen sahen nun mit fröhlicher Neubegier und weit vorgestrecktem Halse dem nahenden Zuge von Reisenden in gespannter Erwartung entgegen.
»Fenster zu!« donnerte Herr Kleeborn, der eben ins Zimmer trat. »Seid ihr von Sinnen, bei dieser Kälte? wollt ihr die Straße heitzen? und da liegen auch alle eure Siebensachen auf dem Fußboden umher! Das ist mir eine feine Wirthschaft.« »Ach Onkelchen,« rief Babet, ohne den Kopf nach ihm umzuwenden, »machen Sie nur geschwinde die[337] Thüre zu, damit es nicht so gräßlich zieht.« »Und schelten Sie nicht so,« sezte Agathe hinzu, indem sie lächelnd ihm winkte. »Kommen Sie lieber selbst und helfen uns zusehen, es langen Bereuter an!« »Warum nicht gar Bereuter,« sprach Babet mit verächtlichem Achselzucken, »die werden auch im Hotel d'Angleterre logiren! Vornehme Herrschaften sind's!«
Der durch das Geplapper der Mädchen wirklich selbst schaulustig gewordne Onkel trat indessen hinter sie, um selbst über ihre Köpfe wegzusehen, und auch die Tante, mit Vicktorinen und Angelika, die Herrn Kleeborn ins Zimmer gefolgt waren, ließen von dem zunehmenden Getöse auf der Straße sich in das zweite Fenster locken.
Sie erblickten das ganze dem Kleebornschen Hause schräge gegenüber liegende Hotel d'Angleterre in der allergeschäftigsten Bewegung. Von dem Heere seiner Kellner umgeben, stand sogar der sonst sehr vornehm gesinnte Gastwirth in der dritten Posizion vor der Thüre seines Hauses, zu den allertiefsten Bücklingen bereit, und das sämmtliche Personal[338] schaute mit erwartungsvollen Gesichtern nach der Seite der Straße hin, von wo der Klang der Posthörner immer lauter und lustiger näher kam. Zur Freude der zahlreich versammelten Straßenjugend führte ein eben vom Pferde gestiegener fantastisch bunt gekleideter Jokey sein dampfendes Thier mit der größten Gelassenheit in der engen volkreichen Straße auf und ab, um es verkühlen zu lassen, während die Hausknechte sich gewaltig abarbeiteten, um einen mit vier Postpferden bespannten, und mit allerlei wunderlich geformten Koffern und Mantelsäcken hochbeladnen Packwagen in die Remise zu schaffen. Dieser Packwagen schien augenscheinlich zu einem sehr eleganten ebenfalls vierspännigen Reisewagen zu gehören, der durch dessen Entfernung erst Platz gewann, vor dem Hotel anzufahren. Zwei junge elegant gekleidete Männer saßen darin, hinten auf einem zu diesem Zweck eingerichteten bequemen Sitz ein Bedienter, vorn auf dem Bock ein glänzender Jäger und ein in grellen Farben geputzter Negerknabe. »Das sind sie,« flüsterten die Mädchen einander zu, und stießen sich nur mit dem Ellenbogen an, ohne einander[339] anzusehen; denn die Fremden, denen der Wirth selbst in tiefster Unterthänigkeit aus dem Wagen half, nahmen alle ihre Aufmerksamkeit in Beschlag. »Ce sont des Mylords anglais,« rief die alte Virnot von unten zum Fenster hinauf, denn auch sie hatte sich von der Neugier in die Hausthüre locken lassen.
»Ein junger reisender Prinz oder Graf mit seinem Hofmeister,« sprach hingegen Herr Kleeborn mit großer Zuversicht und war schon im Begriff die Mädchen vom Fenster wegzujagen und dieses zuzumachen; doch unterließ er es noch einstweilen, da er zu seiner Verwunderung gewahr ward, daß die eben ausgestiegnen Fremden sich nicht ins Haus führen ließen, sondern nebst dem Wirth, den Kellnern und den Bedienten vor demselben stehen blieben, als ob sie auf noch jemanden warten müßten. Zugleich ragten in einiger Entfernung mehrere Pferdeköpfe und Reuter über die zahlreichen Häupter der Zuschauer empor, die im Vorbeigehen, wie das bei solchen Gelegenheiten in großen und in kleinen Städten[340] immer geschieht, auf der Straße stehen geblieben waren.
»Höre der Rechte kommt noch, glaube ich,« flüsterte Babet Agathen zu, »wohl gar ein König, und das sind nur seine Minister.« »Ach laß mich!« erwiederte Agathe, »sieh lieber auf die Pferde, die dort kommen. Die haben ordentlich Mützen mit Ohren auf, und Ueberröcke an, und rothe Brillen auf der Nase.« »Gewiß sind's am Ende doch Bereuter,« jubelte die Kleine, und klatschte vor Freuden in die Hände. »Das wäre nun ganz herrlich! es sind so lange keine da gewesen.«
Drei in grauen roth verbrämten Ueberzügen von oben bis unten dicht verhüllte Pferde nahten jetzt von zwei reitenden Stallbedienten geführt, ein stattlicher in einem modernen dunkelfarbigen Ueberrock gekleideter Mann ritt nebenher. »Siehst du, daß ich Recht habe?« frohlockte Agathe, »das ist der Herr der Truppe, und dort im letzten Wagen sitzen wohl die Damen, die zu ihr gehören. Nicht wahr, Onkelchen, es sind Bereuter?« fragte sie, indem sie sich diesem lächelnd zuwendete. »Fast[341] sieht es mir selbst so aus,« erwiederte Kleeborn. »Dann ist es wahrscheinlich Tourniaire, der Mann ist reich, wie man sagt, aber wundern thut es mich doch, daß er hier im ersten Hotel der Stadt absteigt, mit all' den Leuten und Pferden. Das wird ein schönes Geld kosten.«
»Nun? wer hat nun Recht?« rief jetzt Babet, und bog sich so weit als möglich zum Fenster hinaus. »Wo siehst Du Damen? Der König oder der Prinz kommt dort erst selbst in dem wunderschönen großen Wagen.« »Nein, es ist eine Dame in Herrenkleidern, eiferte Agathe, die Bereuterinnen reisen immer so; Du siehst es ja, sie hat den Hund bei sich, und den Affen; die sollen gewiß im Feuerwerk ihre Künste machen, wie ich das in der Zeitung beschrieben gelesen habe. Die zahmen Hirsche sehe ich noch nicht, die kommen gewiß noch nach, mit dem Uebrigen. Allerliebster bester Onkel, den ersten Tag, wenn die Leute spielen, müssen wir hin! und wie glücklich! nun sehen wir sie alle Tage zweimal mit Musik Parade reiten, wenn sie ausziehen, und wenn sie wiederkommen.«[342]
Langsam, wegen der ziemlich engen mit Fußgängern erfüllten Straße, obgleich mit sechs Postpferden bespannt, nahte jetzt ein wirklich sehr schöner zurückgeschlagener Landauer Wagen, ohne alle Bedienten darauf. Ein einziger junger Mann saß oder lag vielmehr in der allernachlässigsten Stellung in einer Ecke desselben so bequem hingestreckt, als befände er sich zu Hause auf seinem Sofa. Ein prächtiger Pelz von sonderbarem Schnitt verhüllte ihn bis an die Ohren, und eine grüne Staubbrille, die er trug, lieh seinem blassen, doch nicht unangenehmen Gesicht etwas grauenhaft-gespensterartiges; dabei studirte er mit der größten Aufmerksamkeit ein Zeitungsblatt, das er in der Hand hielt, ohne nur einmal den Blick davon zu wenden. Neben ihm hatte ein großer schöner getiegerter Hund seinen Platz, und indem dieser die Vorderpfoten auf die Schultern seines Herrn gelegt hatte, kuckte er so emsig und ehrbar mit in die Zeitung hinein, als ob er etwas davon verstände. Auf dem Rücksitz des Wagens stand ein zierliches mit vergoldetem Gitterwerk geschmücktes Häuschen, doch sein an einer langen[343] Kette in demselben befestigter Bewohner, ein kleiner langgeschwänzter Affe, saß oben auf dem Dache seiner Wohnung, wies den mit lautem Jubel den Wagen umschwärmenden Straßenbuben die Zähne, und warf ihnen alle Ueberbleibsel seiner unterweges gehaltnen Mahlzeiten an die Köpfe, ohne daß sich sein Herr dadurch im mindesten in der Lektüre stören lies, bis der Wagen vor dem Hotel d'Angleterre hielt.
Langsam, als erwache er eben vom süßen Schlummer, stieg der Reisende jetzt aus dem Wagen, pfiff seinem Hunde, der ihm auf den Fersen nachfolgte, winkte dem Neger, ihm den Affen nachzutragen, und ging mit stolzem Schritt in den Gasthof hinein, ohne den Wirth und dessen Komplimente nur eines Blickes zu würdigen. Alle folgten ihm ehrerbietigst, der Wirth, die Bedienten, die Kellner, zuletzt auch die beiden kurz zuvor angekommnen Fremden. Die Pferde wurden fortgeführt, die Zuschauer zerstreuten sich, Herr Kleeborn schloß sorgfältig das Fenster, und das ganze Schauspiel hatte einstweilen sein Ende erreicht.[344]
»Wie Du Dich nun einmal wieder blamirt hast mit Deinen Bereutern,« sprach Babet jezt zu Agathen; »das kommt davon, daß Du immer alles besser wissen willst als andre Leute.« »Aber wer sagt uns denn gewiß, daß es keine sind,« erwiederte ziemlich kleinlaut Agathe, »es können doch noch Bereuter sein, aber recht vornehme, die gradezu aus London hergeritten kommen. »Quer über das mittelländische Meer zu Pferde? nun Du weißt es recht,« rief spöttisch lächelnd Babet. »Stille, stille, um Gotteswillen,« sprach Herr Kleeborn dazwischen, »euer Herr Kandidat möchte auch an Deinen geografischen Kenntnissen wenig Freude haben, wenn er so Dich reden hörte. So viel ist indessen gewiß, Bereuter sind das nun einmal nicht. Sollte einer von den englischen Prinzen? – Doch die sind ja alle viel älter. Ich weiß was ich thue, ich schicke den Johann hinüber.«
Der von seinem Herrn aufs Recognosciren sogleich ausgesandte Bediente kehrte indessen erst zurück, als Kleeborn und die Seinen sich schon eine ziemliche Weile um den reich besetzten Frühstücktisch[345] versammelt hatten, den in großen Handelsstädten das bis in den späten Abend hinausgeschobne Mittagsmahl zu einer Stunde einführte, die in andern Orten schon längst dem Nachmittage angehört. Man hatte schon lange dem Abgesandten ungeduldig entgegen gesehen, denn die Neugier plagte eigentlich den guten Onkel nicht weniger stark als seine Nichten, doch die Nachrichten, welche Johann mitbrachte, waren bei weitem nicht befriedigend. Etwas sehr vornehmes müsse es sein, so viel hatte der Wirth gesagt, weiter aber wußte dieser noch von nichts, als daß die ganze Bel-Etage seines Hauses auf mehrere Wochen in Beschlag genommen worden sei, und daß die in derselben bereits wohnenden Fremden alle über Hals und Kopf andere Zimmer beziehen müßten, was denn natürlicher Weise ohne großen Molest nicht abgehe. »Uebrigens,« erzählte Johann weiter, »übrigens gienge alles im Hotel drunter und drüber, und Koch, Kellner und Stubenmädchen liefen insgesammt mit den Köpfen gegeneinander, um die Fremden nebst ihrer Dienerschaft[346] zu befriedigen, indem alle tausenderlei auf einmal verlangten, und jeder etwas anderes.
Agathe und Babet hatten sich indessen dem Fenster wieder genähert, denn der Affe saß drüben auch auf der Fensterbank, und eine Menge Leute war aufs neue vor dem Hause versammelt, um die Grimassen des possierlichen kleinen Thieres zu belachen. »Du!« flüsterte Agathe, indem sie halb auf den Knien, halb auf einem umgestülpten Fußschemelchen sitzend, ihren Stickrahmen wieder in Ordnung zu bringen suchte, »Du! höre! vielleicht ist es der König von Heidi oder wie er heißt, der die sächsische Mamsell heurathen soll, wie man sagt, und der jetzt kommt, um seine Braut abzuholen. Ach wenn er doch den Grafen Limonade oder Schokolade bei sich hätte!« »Dummes Kind, die sind ja alle gestorben,« belehrte sie Babet. »Ach wie kann ich von allen Leuten wissen, ob sie leben oder todt sind,« erwiederte Agathe, und setzte ergrimmt einer ihr entfliehenden Seidenrolle nach.
»Soviel ist gewiß,« sprach nun Babet mit großer Ueberlegung, nachdem Agathe sich wieder[347] zu ihr gesetzt hatte, »soviel ist gewiß, der Fremde hat zuverlässig und auf jeden Fall Addressen an uns, und denn muß doch der Onkel ihm zu Ehren einen Ball geben, das ist wohl das wenigste, was er für einen solchen Herrn thun kann.« »Nun Gottlob!« rief Agathe und klopfte freudig in die kleinen Hände, »Gottlob, dann kommt doch wieder einmal Leben ins Haus.« »Ja,« sprach Babet, »aber das sage ich Dir, den rosenfarbnen Crepon zieh ich nicht an, die lange Schmidt hat wieder gerade so ein Kleid. Mein neuer Blonden-Tüll muß dazu fertig werden und Du mußt mir dabei helfen.«
»Wenn es ein Prinz wäre, so recht ein wirklicher Prinz!« sprach Agathe sehr bedenklich; »mein Lebtage habe ich noch keinen so recht in der Nähe gesehen. Und wenn er nun gar mit mir tanzte!« »Freilich muß er mit uns tanzen, wir sind ja die Damen vom Hause,« verbesserte Babet sie. »Schade nur, daß mein Theodor nicht dabei ist, der käme gewiß vor Eifersucht von Sinnen, wenn er ansehen müßte, wie mir der Prinz die Cour macht!« »Ich ängstige mich todt, wenn er mit[348] mir tanzt,« rief Agathe, »der tanzt gewiß nichts als Françaisen, wäre nur Monsieur Michaud wieder da, daß man die Pas ein wenig einüben könnte. »Ist's ein Engländer, so tanzt er nur Ekossaisen, aber walzen wird er leider nicht können,« setzte Babet hinzu.
»Pas de Zéphyr,« rief jezt Agathe, indem sie vor dem großen Spiegel mit hochaufgenommenen Röckchen ihre Pas einzuüben versuchte, »tour de bras, en avant! Tournez! rigadon,« rief die sich zu ihr gesellende Babet, »allons, tour de poule.«
»Tour de Gans, die paßt für euch am besten,« rief Herr Kleeborn lachend dazwischen, indem er den beiden Kindern mit Vergnügen zusah; denn sie waren in diesem Augenblick wirklich allerliebst. »Herr Gott, Onkel, der Fremde kommt gerade ins Haus!« rief jetzt Agathe, die eben einen Blick aufs Fenster geworfen hatte. »Es ist ja der Rechte nicht,« eiferte Babet. »Wie kannst Du das so genau wissen,« erwiederte Agathe. »Allerliebstes, bestes Onkelchen,« setzte sie schmeichelnd hinzu, »thun Sie mir den allereinzigsten Gefallen und[349] lassen ihn hier hereinkommen, ich möchte ihn gar zu gerne in der Nähe sehen. Babet vereinigte ihr Bitten mit dem ihrer Schwester, und der Onkel, der sich eben bei seltner guter Laune befand, that was die Kinder von ihm verlangten.
Herr Wilkinson aus London, so hatte der Fremde sich melden lassen, Herr Wilkinson trat herein, und alle erkannten in ihm sogleich einen der beiden Fremden, die in dem ersten Wagen angelangt waren. Es war ein hübscher nach der allerneuesten englischen Mode gekleideter junger Mann, der in der geöffneten Thüre sich sehr zierlich mit allen fünf Fingern der linken Hand in das Himmelansträubende Haar fuhr, während er mit der rechten den Huth abnahm, erst die Damen, dann den Herrn des Hauses mit einem sehr graziosen Kopfnicken begrüßte und zuletzt zwar mit etwas ausländischem Accent, aber doch in sehr verständlichem Deutsch seine Rede anhob.
»Sir Charles Wißmann trug mir auf ihn den Damen und Herren Kleeborn hochachtungsvoll zu empfehlen« – »Wißmann,« rief Kleeborn ganz[350] entzückt, und schüttelte dem Neuangekommnen recht kräftig die Hand. – »Wißmann, ei lieber Herr Wilkinson so sein Sie mir doch tausendmal willkommen! Warum ist er denn nicht gleich bei mir abgestiegen, ich habe ihn doch eingeladen und seine Zimmer stehen bereit. Babet, geh mein Kind, Mamsell Virnot soll aufschließen und einheizen lassen.« – Babet stieß Agathen an daß diese gehen solle, doch keine von beiden bewegte sich von der Stelle, denn keine hatte Lust den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit aus den Augen zu verlieren.
»Bemühen Sie das Fräulein ja nicht,« bat Wilkinson indessen, »Sir Charles wünscht die Familie nicht zu derangiren, und da wir ziemlich viel Platz brauchen« – »Ich habe Raum genug für alles,« erwiederte Kleeborn; »wahrscheinlich sind Sie des jungen Wißmanns Reisegefährte. Nun auch für Sie ist Platz genug da, und Sie sollen mir ebenfalls ein recht werther Gast sein, lieber Herr Wilkinson. Vier Zimmer stehen bereit, damit werden die beiden jungen Herren schon auskommen. Also der junge Mann, der neben Ihnen saß – denn[351] wir sahen Sie vor dem Hotel aussteigen, müssen Sie wissen, – der junge Mann also ist der Sohn meines alten Freundes? Ey, ey, wer hätte das denken können! Nun, nun, und Sie? wahrscheinlich ebenfalls Kaufmann? Sie haben Recht, das ist der erste Stand der Welt.«
»Verzeihen Sie,« erwiederte der Fremde mit sehr gemeßnem Ton, »verzeihen Sie, mein Herr, ich habe das Vergnügen, dem Sir Charles in der Qualität eines Sekretärs attaschirt zu sein, der junge Mensch aber, den ich neben mir im Wagen hatte, dient ihm als sein Homme de Chambre. Eigentlich gehörte auch er auf den Bock, doch auf Reisen, das wissen Sie gewiß, darf man dergleichen so genau nicht nehmen, und überdem ist Marcellin seinem Herrn so treu ergeben, daß ihm schon deshalb manches nachgesehen wird.« Ein halb gepfiffnes, halb geseufztes sehr gedehntes So war Kleeborns erste Antwort, dann setzte er nach einer ziemlichen Pause mit etwas verlängertem Gesicht hinzu, »also ist Wißmann nicht da? kommt auch vielleicht heute nicht?« »Verzeihen Sie,« erwiederte Wilkinson[352] abermals, »Sie erwähnten vorhin, daß Sie uns vor dem Hotel aussteigen gesehen haben, nun Sir Charles Landauer folgte dicht hinter meiner Batarde.« »Wie? das also? hm hm,« erwiederte Kleeborn mit steigender aber nicht sehr fröhlicher Verwunderung; »und die Pferde« – »Beim Himmel es sind herrliche Thiere!« fiel Wilkinson ein, »wie Sie gewiß unerachtet der Decken bemerkt haben werden. Vor allem der Lichtbraune, Sir Charles eignes Leibpferd. Das muthige Thier läßt sich aber auch von keinem regieren, ausgenommen von seinem Herrn und unserm Stallmeister. Es stammt in gerader Linie von des Herzogs von Bedford berühmten Hector ab. Orion war sein Vater, der fünfmal in Newmarket den Sieg davon trug; die Mutter war Lord Ashfords Molly, die beim letzten Pferderennen in Epsom« – »Sehen Sie einmal!« Mit diesem Ausruf unterbrach Kleeborn in ziemlicher Verwirrung den plötzlich beredt gewordnen Sekretär, der eben im besten Zuge war ihn auf das umständlichste mit den Stammbäumen und allen Heldenthaten der Pferde seines künftigen Schwiegersohnes[353] bekannt zu machen. »Ey, ey, sehen Sie einmal – nun und Herr Wißmann?« »Sir Charles,« erwiederte Wilkinson, »Sir Charles hat mir aufgetragen Ihnen und der Familie seine glückliche Ankunft zu melden. Durch eine eigenhändige Note von ihm wäre dies freilich besser und schicklicher geschehen. Doch Domingo hat den Schlüssel zu seines Herrn Schreibekassette verlegt, und so sieht dieser sich genöthigt, Sie durch mich zu bitten, daß Sie den ihm aufgezwungnen großen Verstoß gegen die Regel freundlich entschuldigen mögen; gewiß nur die Noth konnte ihn dazu veranlassen, denn die Schreibmaterialien, welche der Wirth herbeibrachte, wurden leider sämmtlich total unbrauchbar befunden.« »Das wundert mich, der Mann ist doch sonst so ordentlich,« erwiederte Kleeborn. »Total unbrauchbar, auf Ehre,« wiederholte Wilkinson.
»Uebrigens,« sezte er hinzu, »übrigens bittet Sir Charles um die Erlaubniß sich Ihnen und den Damen noch heute Abend nach dem Mittagsessen vorstellen zu dürfen. Er wünscht nur zuvor die Reisekleider abzuwerfen und sich von der Ermüdung[354] ein wenig zu erholen. Denn wir sind gewohnt sehr schnell zu reisen und die Wege hier herum sind fürchterlich schlecht.«
Beladen mit Höflichkeitsbezeugungen aller Art verlies der Sekretär endlich das Zimmer und Herr Kleeborn gewann nun Zeit, sich von dem Erstaunen über alles was er vernommen ein wenig zu erholen. Sein Gesicht glich einem Apriltage; in diesem Augenblick glänzte es im hellsten Sonnenschein der Freude, im nächsten schwebten dunkle nahen Sturm verkündende Wolken des Unmuths darüber hin. Leise pfeifend schritt er aus einer Ecke des Zimmers in die andere, wie er immer zu thun pflegte, wenn irgend etwas ihn aus der Fassung gebracht hatte. Alle übrigen im Zimmer schienen ebenfalls mehr oder weniger gespannt zu seyn. Babet und Agathe standen wie versteinert da, denn der Prinz und der Sekretär, Sir Charles und die Bereuter, wogten mit großem Tumult in ihren Köpfen herum. Angelika, die an allem bisher Vorgegangenen wenig Theilnahme bezeigte, schlich sich jezt leise zu Vicktorinen hin, und über die Lehne ihres[355] Stuhls gebeugt, betrachtete sie die geliebte Freundin mit dem Ausdruck inniger und zugleich sorgenvoller Liebe; hingegen Vicktorine selbst, obgleich auffallend bleicher als sonst, saß mit stolz erhabnem Nacken und blitzenden Augen neben der Tante, wie jemand der einem nahen schweren Kampf muthig entgegensieht. Um Anna's feine Lippen schwebte indessen ein fast unmerkliches ein wenig spöttisches Lächeln, während ihr klares Auge jede Bewegung von Vicktorinens Vater verfolgte. Dieser maß noch ein paarmal mit großen Schritten das Zimmer, blieb dann plötzlich vor Vicktorinen stehen als ob er etwas sagen wollte, kehrte eben so plötzlich wieder um, und begann von neuem seine Promenade. Dabei herrschte eine Todtenstille, die niemand der Anwesenden zu unterbrechen wagen mochte.
»Hm, ja,« fing Kleeborn endlich halb für sich, halb zu den andern an, »hm, ja einen Sekretär braucht er als holländischer Konsul in London, obgleich auf Reisen sollte ich meynen – nun die Zeiten haben sich sehr geändert seit ich jung war. Freilich ich bin so nicht gereist, doch wie gesagt, andre[356] Zeiten andre Sitten, und wer einen Rückhalt hat wie dieser junge Mann, der kann – hm.« Nun folgte wieder eine neue Pause und eine neue Promenade, dann blieb der Alte abermals vor seiner Tochter stehen. »Vicktorine,« begann er, »Du hast vernommen wer angekommen ist, wen wir erwarten wollte ich sagen. Darum dächte ich, mein Kind, Du benutztest noch die Zeit vor Tische um dich ein wenig zu putzen.« »Onkelchen, das sollten wir ja wohl auch,« rief Babet mit ihrem hellen Stimmchen dazwischen. »Seid Ihr auch noch da?« fuhr Kleeborn sie an, »das könnt Ihr halten wie Ihr wollt, wer denkt an Euch!« Leise wie eine Maus schlich Babet jetzt über den Teppich weg der Thüre zu, winkte Agathen und beide Mädchen verschwanden. Auch Angelika folgte ihnen, zufolge einem von der Tante erhaltenen Wink sich ebenfalls zu entfernen.
»Fräulein Schwester,« hob Kleeborn jetzt an, indem er sich zu der Tante setzte und ihre Hand ergriff, »liebes Fräulein Schwester, Sie sind eine sehr kluge Dame, das weiß ich, und Sie werden mich[357] daher verstehen wie billig. Dieser junge Mann, den wir vor einer Stunde, freilich mit ziemlich auffallendem Prunk, dort drüben ankommen sahen, ist wie ich nun weiß der Sohn eines der ersten Häuser in Amsterdam, dessen Reichthümer ihn allerdings berechtigen mehr Aufwand zu machen als tausend andere nicht dürfen. Und ich muß es in einiger Hinsicht sogar loben, daß er beflissen ist gerade hier sich recht glänzend zu zeigen. Ihrer bekannten großen Einsicht wird es nicht entgehen wie ich dieses meyne, doch zur Sache. Der alte Wißmann hat vor zehn Jahren, da alle Welt mich verlies, Freunde und Verwandte – ja Fräulein Schwester, Verwandte, auf die ich rechnen zu dürfen wohl befugt war, mein Blut kocht noch wenn ich daran gedenke, doch Sie sind unschuldig daran, Sie können nichts dafür – Genug Fräulein Schwester, der Vater dieses jungen Mannes hat mir damals mehr als das Leben gerettet – selbst du Vicktorine verdankst ihm – doch Basta, es ist gottlob alles vorüber und mit Ehren überstanden. So viel ist indessen gewiß, ohne meinen[358] alten Amsterdammer Freund wären wir alle nicht wo wir sind, und ich selbst vielleicht längst – doch wie gesagt das ist vorbei. Was aber der Vater an mir that will ich dem Sohne vergelten, das steht so fest wie das Wort eines ehrlichen Mannes es stellen kann, und daß es die Pflicht meines einzigen Kindes sey mir dabei zu helfen, wird wohl niemand mir abstreiten – und darum geh, Vicktorine, dich umzukleiden.«
»Ich will es thun, wenn Sie durchaus es verlangen,« erwiederte Vicktorine, mit bewegterer Stimme als dieser Befehl ihres Vaters es zu erfordern schien, »ich will es thun, aber erlauben Sie mir zu bemerken, daß ich die Ueberzeugung habe, gerade so wie ich hier bin jeden Besuch mit Anstand annehmen zu dürfen. Und obgleich ich bereit bin den Sohn eines Freundes, den Sie so hoch stellen, mit aller der Zuvorkommenheit zu empfangen, die mir als Ihre Tochter ziemt, so sehe ich doch nicht recht ein warum ich gerade mit ihm in diesem Punkt eine Ausnahme machen soll.« »Eine Ausnahme!« zürnte Kleeborn. »Ja mein Vater,[359] eine Ausnahme,« erwiederte Vicktorine bescheiden, aber fest. »Ich bitte Sie recht kindlich, vergessen Sie eben so wenig die Vergangenheit, als ich meine Pflicht gegen Sie je vergessen werde. Mein Wort muß mir nicht minder heilig seyn als Ihnen das Ihre, denn ich bin Ihre Tochter, und ich werde dem Sohne Ihres Freundes die Achtung, die ich als solchem ihm schuldig bin, hauptsächlich dadurch beweisen, daß ich ihn keinen Augenblick über mich selbst, über mein Herz, über meine Lage, über meinen unabänderlichen Entschluß in Zweifel lasse, sobald er mich in den Fall setzt, mich gegen ihn erklären zu müssen. Ihnen, mein Vater, ist alles dies kein Geheimniß mehr, daher bitte ich Sie« – »Vicktorine,« schrie Kleeborn, und sprang mit von Wuth entstellten Zügen auf – da trat die Tante beschwichtigend zwischen Vater und Tochter. »Seid Ihr nicht wunderliche Leute!« rief sie lächelnd. »Ich sehe jetzt sehr wohl ein, wovon unter Euch beiden eigentlich die Rede ist; aber denkst Du denn, Vicktorine, daß ein junger Mann von Welt wie dieser, sich gleich in der[360] ersten Stunde wie ein Hochzeitbitter vom Dorfe vor Dich hinstellen und seinen Spruch anheben wird? Und Sie lieber Herr Bruder, Sie sehen es wohl ein, daß Vicktorine noch wie eine kaum vom Tode Genesene betrachtet werden muß. Kranke Kinder werden überdem immer ein wenig verzogen und brauchen hinterher viele Nachsicht. Daher bitte ich, lassen Sie der Zeit doch ihre Rechte, wir werden ja sehen« – »Ja, ja, Sie sprechen sehr vernünftig Fräulein Schwester,« erwiederte Kleeborn, augenscheinlich von ihren Worten beruhigt, »Sie haben recht, die Zeit, die Zeit allein wirkt Wunder, und mit der Zeit giebt sich alles, alles, alles findet sich mit der Zeit.«
Mit diesem seinem liebsten und gewöhnlichsten Trost verlies der alte Herr das Zimmer, und eilte der Börse zu, welche er über die Begebenheiten dieses Vormittages zum erstenmal in seinem Leben fast vergessen hätte.
[361]
Schon war das späte, diesmal ziemlich stumm eingenommene Mittagsmahl im Kleebornschen Hause längst vorüber und der Abend rückte mit starken Schritten der Nacht entgegen. Die lange Reihe der Fenster des ersten Stocks im Hotel d'Angleterre schimmerte in fast blendender Erleuchtung, als würde dort ein großes Fest gefeiert, während Kleeborn in seinem Hause noch immer und mit steigender Ungeduld in dem zum Empfange der Fremden bestimmten Zimmer auf und abgehend, den ihm angekündigten Besuch vergebens erwartete. »So wollte ich doch!« rief er mit dem Fuße stampfend, als die Glocke zehn schlug, doch in diesem Augenblick ward die Thüre aufgerissen, Sir Charles, wie aus dem allerneuesten Modejournal heraus geschnitten, trat ein und die Freude über seine Gegenwart verscheuchte blitzschnell von der Stirne des alten Herrn jede Spur des vorigen Unmuthes.
Ein halbes Stündchen verging beiden unter gegenseitigen Mittheilungen, ehe sie sich dessen versahen. Doch nun ergriff Herr Kleeborn den[362] Arm seines jungen Freundes, um ihn in das Wohnzimmer seiner Familie zu führen. Schon waren sie oben auf dem Vorsaal angelangt, da stürmte der alte Müller hinter ihnen drein die Treppe hinauf, »Herr Kleeborn ein Wort!« rief er athemlos, »eben kommt eine Stafette an Sie; vermuthlich die lange erwartete Nachricht von« – »Ey der Tausend!« rief Kleeborn ganz entzückt, indem er stille stand. »Bester Herr Wißmann,« sprach er nach kurzem Bedenken, »Sie verzeihen mir gewiß; in zehn Minuten bin ich wieder bei Ihnen. Nur hier herein unterdessen, Sie finden hier meine Tochter.« Mit diesen Worten öffnete er eine Thüre, schob ohne sich viel umzusehen den jungen Mann ins Wohnzimmer hinein, und eilte, den Kopf voll von dem ihn unten erwartenden Geschäft, zurück in sein Komtoir.
[363]
Ohnerachtet der möglichst großen, aus der vortheilhaftesten Meinung von sich selbst entspringenden Sicherheit, die ihm eigen war, fühlte Sir Charles sich, wenn gleich vielleicht nicht verlegen, dennoch wenigstens etwas genirt, als er auf so seltsame Weise der ihm bestimmten Braut entgegen geschoben ward. Doch die junge Dame, die er ganz allein im Zimmer antraf, empfing ihn mit so überraschender Freundlichkeit, daß davor jede Anwandlung dieses ihm sonst ganz fremden Gefühls, wie Nebel vor der Sonne zerrann. Die Art, mit der man durch zwei schnell auf einander folgende Knixe seinen ersten Gruß erwiederte, die beiden Grübchen mitten in den Pfirsichwangen des etwas verschämt ihn anlächelnden Gesichtchens, und vollends die zuvorkommende Pantomime, mit der man ihn, ohne ein verständliches Wort hervorbringen zu können, zum Sitzen im Sopha nöthigte; alles dieses war weit mehr, als es bedurfte, um einen jungen Mann seiner Art wieder zum gewohnten Selbstgefühle zu verhelfen. Mit aller graziösen Nachlässigkeit eines ächt englischen Dandys im[364] größten Styl warf er sich daher auf den ersten Wink der Schönen neben ihr in eine Sophaecke hin, und betrachtete sie, ohne sich dabei den mindesten Zwang anzuthun, durch seine Brille vom schildkrotenem Kamme, der auf ihren Scheitel die reiche Fülle der lichtbraunen glänzenden Zöpfe und Locken zusammenhielt, bis zu der Spitze des netten, verlegen spielenden Füßchens, das die Konturen der großen Rosen auf dem Fußteppich nachzuzeichnen versuchte. Die zwischen den frischen, etwas aufgeworfnen Lippen hervorglänzenden Perlzähnchen, die schelmisch-lächelnden Augen, das allerliebste Stumpfnäschen, der schwanenweiße Hals, die runden Aermchen mit den kleinen Händen voller Grübchen, kurz das ganze, wie aus Rosen und Schnee zusammengesetzte, runde und dabei doch zierliche Figürchen, gefiel ihm ausnehmend wohl, und immer besser, je länger er hinsah. Endlich wagte es auch seine Nachbarin, den scheuen Blick, dann und wann zu ihm zu erheben. Freilich lies sie ihn anfangs gleich wieder sinken, doch das gab sich allmählig; sie gewann sogar bald Muth genug[365] um mit naiver Koketterie alle ihre kleinen Künste vor ihm spielen zu lassen, und that alles mögliche, um sich ihm im vortheilhaftesten Lichte zu zeigen. Da sie instinctartig fühlen mochte, daß dieses nicht ohne Erfolg geschah, so waren beide in kurzer Zeit mit sich sowohl, als miteinander, auf das Vollkommenste zufrieden, und vermißten nicht im mindesten die Gegenwart des Herrn Kleeborn, der sie eigentlich einander hätte vorstellen sollen. Freilich drehte sich anfangs das Gespräch nur schneckenartig-langsam um Wege und Wetter und um das Ermüdende einer langen Reise im Winter, doch fühlten beide durchaus keine Langeweile dabei. Als nun vollends die herrlichen Pferde des Sir Charles erwähnt wurden, so gewann auch die Unterhaltung einen lebhafteren Gang, denn man kam auf die natürlichste Weise von der Welt von diesen zu dem allerliebsten Affen, dem interessanten Reisegefährten seines Herrn. Sir Charles erzählte einige lustige Anekdoten, in welchen sein Koko die Hauptrolle spielte; das hübsche Kind mußte über diese Geschichtchen lachen, und da ihr das ganz[366] allerliebst stand, so erzählte Sir Charles immer mehr, und seine Zuhörerin lachte immer herzlicher. Beide dachten gar nicht daran, dieser Unterhaltung müde zu werden, und Sir Charles würde gewiß, wer weiß wie lange, noch da geblieben seyn, ohne daß es ihm eingefallen wäre, fortgehen zu wollen. Doch nach einem halben Stündchen schickte Herr Kleeborn hinauf, lies sein Nichtwiedererscheinen für diesen Abend durch unerwartete wichtige Geschäfte entschuldigen, die ihn bis tief in die Nacht hinein in seinem Komtoir festzuhalten drohten, und dies war nun freilich ein Zeichen zum Aufbruch, dem Sir Charles, wenn gleich ungern, dennoch Folge zu leisten, nicht umhin konnte.
Schön ist sie eigentlich nicht, meine Braut, aber verteufelt hübsch, murmelte er vor sich hin, als er höchst zufrieden, ohne eine Ahnung davon, daß er sich in der Person geirrt haben könne, quer über die Straße hinging, um sich in seine Wohnung zu begeben. Nach englischer Sitte hatte er im Laufe des Gesprächs Herrn Kleeborn stets nur bei seinem Namen genannt und ihn nie als[367] den Vater der jungen Dame, zu der er sprach, näher bezeichnet. In Babets Plan – denn daß es diese und nicht Vicktorine war, die er im Wohnzimmer antraf, hat man gewiß längst errathen – in Babets Plan also, konnte diese Verwechselung freilich nicht liegen, als sie ganz allein im Wohnzimmer blieb, nachdem Anna, Agathe und Vicktorine des langen Wartens müde, sich aus demselben zurückzogen. Es war ihr nur verdrüßlich gewesen, sich so um nichts und wieder nichts geputzt zu haben, deshalb beschloß sie bei sich selbst und ohne ein Wort davon zu sagen, es doch noch ein wenig abzuwarten, ob der Fremde nicht noch kommen sollte, dessen Ankunft am Morgen ihre ganze Neubegier bis zum Peinlichen erregt hatte. Als er nun wirklich da war, und vollends sie für Vicktorinen hielt, was sie sehr bald bemerkte, schwieg sie anfangs, weil sie in der Verlegenheit nicht wußte wie sie sich ihm zu erkennen geben sollte; doch dieses verlegene Schweigen verwandelte sich mit der Zeit in ein absichtliches, da sie das Wohlgefallen entdeckte, mit welchem der junge Mann[368] sie betrachtete. »Hat er mich doch nicht nach meinem Namen gefragt«, dachte sie, und wenn ich ihm nun besser gefalle als Vicktorine, ists meine Schuld? Es wäre doch albern von mir, wenn ich ihn gleich zurückwiese, und am Ende thue ich wohl noch gar Vicktorinen einen Gefallen, denn die scheint ganz etwas anderes im Kopfe zu haben als diesen Sir Charles, den Papa ihr gern zuweisen möchte, wie ich wohl merke.
Voll von der Eroberung, die sie so ganz unverhofft noch am späten Abend gemacht zu haben glaubte, eilte Babet, gleich nachdem Sir Charles fortgegangen war, zu ihrer Schwester, um ihr dies wichtige Ereigniß mitzutheilen; doch Agathe war schon im Einschlafen begriffen, und bezeigte wenig Theilnahme. »Geh' mir,« sprach sie endlich, da Babet gar nicht aufhören wollte davon zu reden, »geh' mir mit deinem Engländer. Wenn es kein Prinz und kein Bereuter ist, so verlange ich gar nichts von ihm zu wissen. Und nimm es mir nicht übel, aber ich kann es von Dir auch nicht loben, daß Du Dich gleich so mit dem wildfremden Manne einläßt,[369] ohne auch nur ein bischen an deinen Theodor zu denken. Ich könnte so nicht seyn, und wenn er sich sechs Brillen übereinander aufsetzte. Und nun gute Nacht.«
In Babets Köpfchen, wie in ihrem Herzen, wogte es indessen viel zu bunt durch einander, als daß sie sich so hätte zufrieden geben können. Sie bedurfte durchaus gleich auf der Stelle einer Vertrauten, und schlich sich also, spät wie es war, zu Vicktorinen, die sie freilich noch wachend fand. Aber zu ihrem großen Schrecken traf sie auch die Tante noch bei ihr an. Indessen faßte sie sich schnell und war obendrein listig genug, ihr Zusammentreffen mit Sir Charles und daß er sie für Vicktorinen angesehen habe, als einen lustigen Scherz jetzt zu erzählen; doch statt des gehofften Beifalls erhielt sie von der Tante nur einen sehr ernsten Verweis über ihren unvorsichtigen Leichtsinn, und wurde noch obendrein gefragt: was sie denn morgen anzufangen gedenke, wenn Sir Charles die wirkliche Vicktorine sehen und so den ihm gespielten Betrug entdecken würde? Babet[370] machte sich ohne Antwort ganz trübselig wieder davon, denn dieses war ihr in der Freude ihres Herzens noch gar nicht eingefallen.
Halb ärgerlich, halb ängstlich, denn der Tante letzte Bemerkung hatte sie schwer getroffen, wollte Babet eben wieder den Weg nach ihrem Zimmer eingeschlagen, da hörte sie auf dem Gange Angelikas Harfentöne durch die stille Nacht. Das Bedürfniß, von dem zu reden, was ihr in diesem Augenblick auf dem Herzen lastete, war zu groß, es trieb sie daher auch noch zu dieser hin, so wenig sie übrigens auch sonst gewohnt war mit der ernsten Angelika nach Mädchenart vertraulich zu verkehren. Im Grunde, dachte sie, ist Angelika doch ein gutes Kind und auch verständig, vielleicht kann sie mir rathen, was ich morgen anfangen soll, um nicht vor allen Leuten gar zu beschämt da zu stehen. Doch die arme Babet war einmal dazu bestimmt, an diesem Abend durchaus keine Theilnahme finden zu können. Das blasse Gesicht auf die Harfe gelehnt, schien Angelika dem raschen Plaudern zwar mit ihrer gewohnten stillen Freundlichkeit zuzuhören; aber es[371] ging beinahe ganz unverständlich an ihr vorüber. Mühsam und vergebens suchte sie ihren schwermüthigen Träumen sich zu entreißen, denen sie in der Einsamkeit der Nacht sich so gerne überließ; sie vermochte es nicht einmal, den Sinn von Babets Worten zu fassen, und antwortete ihr so unpassend und abgebrochen, daß diese die Geduld dabei verlor und endlich fortging, um mit ihrem Kopfkissen, dem einzigen Vertrauten, der ihr noch blieb, sich besser zu berathen.
Babet verband eigentlich mit einer sehr lebendigen Phantasie ein eiskaltes Gemüth, wie sich denn das im Leben oft genug zusammen findet. Noch nie war ein wahrhaft ernster Gedanke in ihr aufgekommen, aber sie hatte in ihrer Pensionsanstalt schon ganze Leihbibliotheken erschöpft. Langeweile und das Bedürfniß einer Abwechselung in ihrem einförmigen Leben hatten damals die Lust, Romane zu lesen, bis zu einer Art von Leidenschaft in ihr gesteigert, und die kleinen Ränke, welche sie anwenden mußte, um diese ihre Lieblingsneigung ganz unbemerkt zu befriedigen, erhöhte ihre Freude beträchtlich[372] daran. So kam sie denn, den Kopf voll von den abentheuerlichsten Geschichten, als ein nun erwachsenes Mädchen, in das glänzende Haus ihres Oheims, und da aus der Sucht, Romane und nichts als Romane lesen zu wollen, gewöhnlich auch die, dergleichen zu spielen, entspringt, so sehnte sich Babet jetzt nur vor allem darnach, recht bald zu erleben, was sie oft mit dem innigsten Antheile gelesen hatte. All' ihr Sinnen und Trachten ging nur darauf hin, als die Heldin einer Liebesgeschichte zu glänzen. Der Student Theodor war zufälliger Weise der Erste, der ihr beim Eintritt in die Welt mehr als gewöhnliche Aufmerksamkeit bezeigte, und was war daher natürlicher, als daß sie sogleich in diesem ihren Helden gefunden zu haben wähnte. Es fiel ihr gar nicht ein, daß der ebenfalls sehr junge Mann, um nicht ganz müssig zu seyn, nach Art der Mehrsten seines Alters, sie während seines Aufenthaltes in ihrer Nähe zur Dame seines Herzens erwählt haben könne; sie dachte weiter gar nicht darüber nach, sondern begann im Gegentheil sogleich, einen Roman mit ihm[373] zu spielen, der, so viel Redens sie davon auch gegen Agathen machte, dennoch nur in ihrem Köpfchen seine Existenz fand. Alles ging vortrefflich, so lange die Ferien dauerten, doch diese zogen vorüber, Theodor kehrte nach Göttingen zurück, und der Roman hatte ein Ende. Babet wußte nicht einmal, ob sie den Geliebten jemals wieder sehen würde, aber er hatte ihr eine noch aufgeregtere Phantasie und eine sehr fühlbare Oede in ihrem Leben hinterlassen, die sie mit jedem Tage mißmuthiger stimmten. Sie suchte zwar noch eine Zeit lang sich mit einer eingebildeten Trauer um den Entfernten hinzuhalten, doch dieses ermüdete sie sehr bald; sie bedurfte eines neuen Gegenstandes, um wieder zu einiger Zufriedenheit zu gelangen, und so war ihr Sir Charles in diesem Augenblick eine höchst willkommene Erscheinung. Auch trugen der ihn umgebende Glanz und die Hoffnung, als Siegerin neben der ihr sonst überall weit vorgezognen Vicktorine in die Schranken zu treten, nicht wenig dazu bei, ihrer Eitelkeit zu schmeicheln, indem zugleich das Fremdartige seiner Umgebungen[374] sowohl, als seiner Persönlichkeit, ihre Phantasie auf alle Weise in Anspruch nahm.
Sir Charles Gestalt eignete sich übrigens ganz vortrefflich dazu, auf ein Mädchen wie Babet den angenehmsten Eindruck zu machen. Man konnte ihn eigentlich einen schönen Mann nennen, obgleich sein ganzes Wesen auf jenen Ueberdruß am Leben hindeutete, den wir in unsern Tagen aus dem frühen, keine Mäßigung kennenden Genuß aller Freuden desselben nur zu oft in der blühendsten Jugendzeit entstehen sehen. Das Erschlaffte in den regelmäßigen Zügen seines wirklich angenehmen Gesichts, das unnatürlich Matte in seiner Haltung, dem er durch angenommene modische Gleichgültigkeit gegen Alles außer sich noch nachzuhelfen strebte, gaben ihm in Babets Augen ein höchst interessantes Ansehen, und machten ihn den Helden aus ihren Romanen vollkommen ähnlich.
In dieser ersten schlaflosen Nacht ihres Lebens dachte sie so lange an ihn und wiederholte sich so lange jedes seiner Worte, jeden seiner Blicke, deren Unbescheidenheit sie nicht gefühlt hatte, bis sie überzeugt[375] war, nicht nur ihn zu lieben, sondern auch auf ihn den tiefsten günstigsten Eindruck gemacht zu haben. Daß er, nicht ohne ihr Zuthun, sie für Vicktorinen gehalten habe, erschien ihr zuletzt in einem so romantischen Lichte, daß sie sich alle Bemerkungen der Tante darüber aus dem Sinne schlug, die sie kurz vorher so ängstlich gemacht hatten. Sie überzeugte sich zuletzt sogar, bei der morgen zu erwartenden Entdeckung in seinen Augen nur gewinnen zu können, und wandte sich nun ihrer Garderobe zu, die sie in Gedanken eine vollständige Revüe passiren lies, um für den kommenden großen Tag das Schicklichste daraus zu wählen, bis sie endlich bei fast anbrechenden Morgen ruhig einschlief, um von Sir Charles und dem neuen Rosa-Kleide zu träumen.
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