28.

[62] Sympathieengewalt verlachst du und der Berührung

Mächtigen Zauber, der rasch schlummernde Kräfte bewegt?

Nennst nur Wahn die geheime Verwandtschaft ähnlicher Seelen?

Unglückseliger, ach, hast du denn nimmer geliebt?

Beug' ich mich still zum schwellenden Mund der Geliebten, o sprich, was

Zieht mich mit süßer Gewalt hin zu dem seligen Kuß?

Rede, woher der elektrische Druck, wenn die Hand sich der Hand naht,

Und was fesselt den Arm um die Umschlungene fest?

Schaff' ich die Glorie selbst, die mit rosigem Glanz mir das Daseyn

Kränzt, wenn holder ihr Blick lächelt und näher sie weilt?

Bin ich es selbst, der den Geist aufschwingt und mit tieferm Gefühl das

Herz mir begabt, wenn sie hold in dem Liede mir schwebt?

Warum wähl' ich zum Ruhen so gern die Stelle, wo sie saß,

Finde den Pfad, den sie wandelte, reizend allein?

Pflücke so gern von dem Strauche, wo sie sich Blüthen gepflückt hat,

Nippe so gern, wo sie nippt', an dem Rande des Kelchs?

Sprich, was bebt mir dahin durch's Herz, wenn ihr seidnes Gewand mich

Streift, was lodert in mir, wenn mich ihr Athem berührt?

Warum trübt im Spiele der Lust mein Auge sich plötzlich,

Wenn ihr trauriger Blick weinend zur Erde sich senkt?[63]

Warum flieht aus der Brust mir die düstere Nacht, wenn hold rings

Ihr um den rosigen Mund lächelt der Morgen der Lust?

Ach, wir weilten gewiß in schöneren Welten zuvor schon,

Und der Erinnrung Trost blieb dem verbanneten Geist;

Was wir fühlen, wir fühlten es einst, wir fühlen es ewig,

Jegliche Wonne sie würzt schöner die kommende Zeit.

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 4, Leipzig 1819–1820, S. 62-64.
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