31. Heinrich Findelkind von Kempten.

[33] Nach dem Volksbuch: Historisches Schatzkästlein für Bayern. München 1832. I., S. 21. Vgl. Hormayr goldene Chronik S. 128.


Der Mayr von Kempten, von seinem Abte geliebt, und durch diese Gunst, durch rastlosen Fleiß und Segen von Oben bereichert, hatte neun Söhne. Dazu wurde ihm ein zehnter Knabe bei Nachtszeit vor die Thüre seines Hauses gelegt. Die Hausfrau und Ehewirthin murrte: es seien der Kinder ohnehin schon genug. Aber der Hausherr erbarmte sich des armen Wurmes, seiner schönen Gestalt und rührenden Unschuld, und so hatte er nun zehn Kinder und zog sie alle glücklich auf. Aber er hatte Bürgschaft gethan für einen Freund, dem war das Glück untreu. Betrüger brachten ihn um einen großen Theil des Seinigen. Meeresstürme begruben mehrere seiner Schiffe in den Abgrund. – »Bürger muß man würgen,« – sagt ein altes, aber nicht gutes Sprichwort, und so erging es auch dem armen Mayr von Kempten. Er verdarb gänzlich. Mit sich und der Welt zerfallen, wurde der fröhliche Mann ein Menschenfeind und selbst den eigenen Kindern abhold. Er schlug sie und trieb sie aus dem Hause, daß sie dienten und ihm aus dem Brod kamen. Der zehnte, der arme Heinrich Findelkind, war am schlimmsten daran. Aber er lief doch lieber in die unbekannte große, weite Welt hinaus, als daß er sich zu Hause todtschlagen ließ. Da fanden an der Heerstraße zwei Priester, die nach Rom zogen, den weinenden Knaben, trösteten ihn, gaben ihm Brod; mit ihnen ging er über den Arlberg. Drüben wohnte ein rauher und streitbarer, aber frommer Ritter. Man hieß ihn nur den Jackl über Rhein. Der gab den Priestern reichlich Almosen und fragte: »Wo wollt Ihr mit dem Knaben hin?« Sie erwiederten: »Er ist zu uns gelaufen auf[33] dem Feld.« Darauf der Ritter: »Laßt ihn mir, daß er meine Schweine hüte.« Die Priester antworteten: »Er kann thun, was er will,« und Heinrich Findelkind wurde Knecht und Schweinehirt beim Jackl über Rhein, erhielt des Jahrs zwei Gulden Lohn, ging fleißig jeden Sonntag mit dem Ritter in die Kirche und trug ihm das Schwert nach. Wie sie da, dem fernen Geläute nach, den Berg hinabsteigen, brachte man ihnen oft viele Leichen entgegen von unglücklichen Pilgern, die des Winters auf dem Arlberg in Schneegestöber oder unter Lawinen zu Grund gegangen. Raubvögel und Raben hatten ihnen die Augen ausgehackt, die Kehlen abgefressen, und sie auf mannigfache Weise verunstaltet. Das erbarmte den Heinrich Findelkind so sehr, daß er bitterlich weinte und ein heiliger Eifer in ihn drang, solches Unglück zu verhüten. In vollen zehn Jahren hatte er fünf Gulden in Allem ausgegeben und also noch fünfzehn Gulden übrig von seinem Verdienst mit dem Hirtenstab. Da trat er eines hohen Festtages vor die Kirchthüre mit dem Ausrufe: Ob Jemand die fünfzehn Gulden nehmen wollte und damit einen Anfang machen auf dem Arlberge, daß die armen Pilger nicht also verdürben. Aber die Leute lachten vielmehr des thörichten Beginnens eines Betteljungen und Niemand wollte die erste Hand anlegen. Da rief Heinrich Findelkind von Kempten zu Gott dem Allmächtigen und zu St. Christoph dem starken Nothhelfer, und rettete gleich den ersten Winter sieben Menschen das Leben und ein paar Jahre darauf über fünfzig Menschen. Darauf stiftete er eine eigene Bruderschaft St. Christophs auf dem Arlberg, und zog für diese edle Bruderschaft bettelnd durch alle Länder und erhielt reiche Gaben. Die Kirchenfürsten von Salzburg, Chiemsee, Freising, Passau, Regensburg, Augsburg und Würzburg gaben ihm reichen Ablaß. Das Bruderschaftsbuch nennt unter den vorzüglichsten Wohlthätern der Stiftung unter andern auch die Landgrafen von Leuchtenberg und Grafen von Montfort und Ortenburg und viele andere Ritter. Herzog Leopold der Stolze von Oesterreich bezeigte im Dezember 1386, nachdem im Juli vorher sein Vater bei Sempach wider die verachteten und verspotteten Schweizerbauern mit dem Kern seines stolzen Adels gefallen, es sei der arme Knecht Heinrich von Kempten, in seiner Jugend ein Findelkind, mit großer Andacht und Begierde vor ihn gekommen, daß er wollte gern ein Haus bauen auf dem Arlberg und in dieser Wildniß wohnen und sitzen, vorzüglich damit die armen Pilger und Kaufleute nicht ferner so elend zu Grunde gingen. Es seien ja viel gute Dinge angefangen worden von einfältigen Leuten. Darum befehle er[34] allen seinen Hauptleuten und Richtern, ihn dabei zu schützen und zu schirmen. Des armen Hirtenknaben und Findelkindes von Kempten edles Werk begann und bestand durch mehrere Jahrhunderte. Es erhielt Tausenden das Leben und sicherte einen für den Handel wichtigen Straßenzug.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 33-35.
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