877. Das Pferd in der Wiege.

[412] Mündlich. Memminger Mundart, durch H. Daar.


Wenn man auf der Straße von Augsburg her nach Memmingen kommt, so erblickt man gleich an einem der ersten Häuser ein in der Wiege[412] liegendes Pferd angemalt. Fragt man einen schlichten Memmingerbürger nach der Bedeutung dieses Gemäldes, so erhält man etwa folgende Auskunft: »A früherer Besitzer von dem Haus ischt a maul der Moining gwest, sei Frau sei gstorba. Sie isch aber nit recht gstorba gwest, sondern blos scheintodt. Zur ghörige Zeit aber, am zwoita oder dritta Tag, haut ma sie in alle Ehra begraba. Die Frau wär au nomma me us ihrem Grab rauskomma bis an jüngste Tag. Non haut aber dr Todtagräber gwißt, daß ma ihr etlich schöne, werthvolle Ring mit ins Grab gẽ haut, und dau haut r denkt, die brächtet ihm mehr Nutza, als der todta Frau.« – Er ist also spät in dr Nacht naus und haut's Grab göffnet. Iz aber denk a Mensch sein Schrecka! Wie r de Deckel weg thuat, wird d' Frau lebendig, regt sie und staut auf. – Daß dr Todtagräber d' Laterna vergeßa haut, isch koin Wunder; – d' Frau aber haut sie gnomma und isch mit r hoim.

Wie sie an ihrer Glocka g'litta haut, isch z'erst d'Magd ans Fenster komma. Uf ihr Frauga: »wer läut't?« antwortets drunta: »Mach auf, d'Frau ists.« – Die moint nit anderst, als as sei a Gspenscht, weckt da Herra und verzält m Allz. Der hälts au für unmöglich und sait: »Eher liegt mein Pferd in der Wiege, als daß meine Frau da drunten ist.« – »Wie ma aber gschaut haut, dau ischts denn doch d' Frau gwest und haut allz verzält und haut no manchs Jaur glebt, bis sie wirklich gstorba ischt und zum Andenka an dia Begebenheit ist an dem Haus das Pferd in dr Wiega angmault bis uf da heutiga Dag.«

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 412-413.
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