[84] Nicht so schnell, Cziko! rief Oswald, den Schooß seines Rockes von den Dornen eines Busches los machend; nimm Rücksicht auf meinen civilisirten Zustand.[84]
Das Kind ging langsamer, hielt sich aber immer in scheuer Entfernung von dem Fremden. Vergebens suchte es Oswald in ein Gespräch zu verwickeln, während er mühsam die Büsche auseinander drückte, durch die der kleine Zigeuner wie eine wilde Katze schlüpfte. So waren sie vielleicht eine Viertelstunde gegangen, als sie plötzlich aus dem dichten Wald in ein Gehölz gelangten, das schon zu dem Parke von Berkow gehören mußte. Reinlich gehaltene Wege, hier und da eine grüne Bank oder eine verwitterte Hermensäule; überall die Spuren ordnender Menschenhand. Dann traten sie auf einen breiteren Fahrweg, der wohl die Fortsetzung desselben Weges sein mochte, von welchem Oswald abgekommen war, und der mit einem eisernen Gitterthor endigte, das unmittelbar auf den Hof des Gutes führte. Cziko blieb stehen, deutete stumm auf das Thor; dann, nachdem er sich vor Oswald mit verschränkten Armen verneigt hatte, sprang er in die Büsche zurück und war im nächsten Augenblicke verschwunden.
Ein geheimnißvoller Anfang, sprach der junge Mann bei sich, während er langsam, fast zögernd auf das Thor zuschritt. Ist es die Nachwirkung der seltsamen Zigeunerwirthschaft, oder die Vorahnung dessen, was mir hier in diesem Schloß der Zauberin begegnen soll – aber mir ist wunderlich zu Muthe. Ich hätte am Ende doch besser gethan, den Wagen, welchen mir gestern der alte Baron anbot, nicht auszuschlagen. Ich wäre dann vielleicht dem Pastor und seiner Primula entgangen, und auf jeden Fall käme ich jetzt, in stattlicher Würde, von den schwerfälligen Braunen gezogen, angefahren, und nicht zu Fuß in bedeutend derangirter Toilette wie ein reisender Handwerksbursch. Ei nun! Kleider machen wohl Leute, aber keine Männer, und Melitta, wenn mich nicht Alles trügt, verkehrt mit Männern lieber, als mit – Leuten.
Er klinkte das unverschlossene Gitterthor auf, und trat in den Hof. Ein mächtiger Neufundländer Hund, der im Grase gelegen hatte, richtete sich langsam empor, als er die Thür in den Angeln kreischen hörte und kam Oswald wedelnd entgegen. Nun, das ist wenigstens ein freundlicher Willkommen! sprach[85] der junge Mann bei sich, während er, das prachtvolle Thier streichelnd, weiter schritt. Rechts blickte er über ein niedriges Stacket in einen blühenden Garten. Mit dem Stacket in einer Linie war die Front des Herrenhauses, eines zweistöckigen schmucklosen Gebäu des, das sich indessen mit seiner altersgrauen Farbe, dem großen steinernen Balcon über der Thür und den zwei gewaltigen Linden davor, recht stattlich ausnahm. Die drei anderen Seiten des geräumigen Platzes waren von den Wirthschaftsgebäuden eingenommen. Ein Stacket und eine Reihe junger Obstbäume war parallel mit dem Wohnhause quer über den Platz gezogen, als Schranke zwischen dem Hofe und dem Rasenplatz vor dem Hause. Oswald blickte, an der Front des letzteren hinschreitend, durch die offenen Fenster in schöne Zimmer. Es war Niemand darin. Er blickte durch die ebenfalls offenstehende Hausthür auf den mit Steinfliesen ausgelegten Flur. Eine große Wanduhr schwatzte in der lautlosen Stille. Auch auf dem Hofe regte sich nichts. Der ganze Platz war wie ausgestorben, nur die Spatzen zwitscherten und lärmten in den Linden, und die Schwalben schossen an den Mauern hin zu ihren Nestern unter dem Dache, die Jungen zu füttern, und schossen ebenso eilig wieder davon.
Es wird Niemand zu Hause sein, dachte Oswald. Du hast den langen Weg vergebens gemacht. Oder kannst Du mir sagen, wo Deine Herrin ist, Neufundländer? Sollen wir einmal im Garten nachsehen?
Der Hund, als ob er es verstanden, was man von ihm wolle, trabte von Oswald fort nach einer Thür, die rechts neben dem Hause in den Garten führte; und blickte, dort stehend, sich nach dem Fremden um.
Also wirklich im Garten?
Oswald drückte die Thür auf. Der Hund lief vor ihm her an Blumenbeeten vorüber in einen schmalen Heckengang bis zu ein paar Stufen, die rechts durch die Hecke auf eine Art Terrasse führten. Dort sah er sich noch einmal nach Oswald um. Dann sprang er die Stufen hinauf. Oswald folgte.
Zwischen hohen blühenden Sträuchen war das Thier verschwunden.[86] Indessen hatte der junge Mann kaum einige Schritte gethan, als sich seinen Blicken ein Bild zeigte, das ihn regungslos an seine Stelle bannte. Er sah auf einen kleinen offenen Platz, der auf beiden Seiten von den hohen Hecken, welche die ganze Terrasse umschlossen, eingerahmt war. In der Mitte schoß ein hochstämmiger, breitästiger Tannenbaum wie eine Lanze machtvoll in die Höhe. An dem Fuße des Baumes auf dem Teppich brauner Nadeln stand ein runder Gartentisch und ein paar Stühle. In einem der Stühle, umflossen von dem weichen, träumerischen Licht des Sommernachmittags, saß Melitta, den Kopf in die eine Hand gestützt, während die andere mechanisch die treue Dogge streichelte, die sich dicht an die Herrin drängte. Sie trug ein weißes Kleid, das in anmuthigen Linien den schlanken Leib umfloß und Busen und Schultern nur zu verhüllen schien, um die schönen Formen desto reizender zu umschreiben. Auf dem Tisch lagen Handschuh, ein breiträndriger Strohhut und ein aufgeschlagenes Buch.
Sie saß so in sich versunken da, daß sie den leichten Schritt Oswald's nicht vernahm, bis er vor ihr stand. Da hob sie schnell den Kopf empor und unterdrückte nur mit Mühe einen Ruf freudigster Ueberraschung, den Mann leibhaftig vor sich zu sehen, mit dem ihre Gedanken soeben beschäftigt gewesen waren. Für einen Augenblick stockte ihr das Blut im Herzen, und dann mit Macht hervorbrechend, übergoß es die bleichen Wangen mit hoher Purpurgluth.
Sieh' da! sagte sie, sich rasch erhebend, und Oswald die Hand entgegenstreckend.
Verzeihen Sie, gnädige Frau, sagte der junge Mann, die schöne zitternde Hand, die jetzt in der seinen ruhte, ehrfurchtsvoll an die Lippen führend, wenn ich unangemeldet –
Aber nicht unerwartet Ihr dolce far niente störe – und so weiter, und so weiter – unterbrach ihn Melitta. Kommen Sie, von Ihnen will ich keine Redensarten hören. Ueberlassen Sie das unsern hohlköpfigen Junkern. Setzen Sie sich und bedanken Sie sich zuvörderst, daß Sie mich überhaupt noch finden. Bemperlein und Julius sind, an Ihrem Kommen verzweifelnd,[87] vor einer halben Stunde auf Besuch in die Nachbarschaft gefahren. So müssen Sie denn mit mir allein vorlieb nehmen. Das ist Ihre gerechte Strafe.
Wenn die Strafe gerecht ist, so ist sie auch auf alle Fälle sehr mild, antwortete Oswald heiter, und ich unterwerfe mich ihr mit der Demuth, die dem reuigen Sünder ziemt.
Sie sehen auch wahrhaftig wie ein reuiger Sünder aus! Aber warum kommen Sie so spät, und –
Und in so derangirter Toilette? Im Ernst, gnädige Frau, ich konnte nicht früher und nicht anders erscheinen. Wenn man, wie ich, den weiten, unbekannten Weg zu Fuß zurücklegt –
Wie kommen Sie aber auch auf diesen närrischen Einfall?
Ich leide sehr an närrischen Einfällen, gnädige Frau.
Da theilen Sie mit mir dasselbe Schicksal. Weiter!
Und wenn man sich unterwegs von einer alten Frau eine Vorlesung über Unsterblichkeit, von einem Landpastor eine Predigt über dasselbe Thema und von dessen geistreicher Gemahlin erzählen lassen soll: was sie den Thieren abgelauscht –
Ach, Sie Unglücklicher! rief Melitta, die Hände zusammenschagend.
Wenn man sich darauf im Walde verirren, am Rand eines Sumpfes einschlafen, bei der Gelegenheit allerlei süßes, närrisches Zeug träumen, beim Erwachen sich von einer Zigeunerin wahrsagen, sich von deren Buben auf den rechten Weg bringen, und bei der An kunft in diesem verzauberten Schloß Niemanden finden soll, der den Fremden zur Chatelaine führt, als diesen liebenswürdigen Hund, der so aufmerksam zuhört, daß man glauben möchte, er verstände unsere Unterhaltung, so werden Sie mir zugeben, daß man mindestens eben so viel Zeit braucht, dies Alles zu thun, als zu erzählen.
Der Hund legte vertraulich den ungeheuren Kopf auf der Herrin Schooß und blinzelte zu ihr empor. Bist mein braver Boncoeur, sagte sie, den Liebling tätschelnd, machst Deinem Namen Ehre. Siehst in Haus und Hof hübsch nach dem Rechten; weißt wohl, daß es außer Dir und dem Baumann doch Niemand thut. – Wissen Sie, daß mich Ihr Zusammentreffen[88] mit der braunen Gräfin, ich meine der Zigeunerin, und der Czika, denn es ist ein Mädchen, wie ich Ihnen zum Ruhme Ihres Scharfsinnes nur sagen muß, sehr interessirt?
Ein Mädchen, der Cziko?
Die Czika, ein Mädchen – verlassen Sie sich darauf; aber wo trafen Sie die Beiden?
Eine Viertelstunde von hier im Walde, bei demselben Zaubersee, an dessen Rande ich eingeschlafen war.
Also doch auf dem Berkower Gebiet – das freut mich.
Sie scheinen sich in der That für die schöne Mutter und die schönere Tochter – ich finde jetzt allerdings, daß das Kind für einen Knaben viel zu schön war – sehr zu interessiren, gnädige Frau. Wie kommt die Zigeunerin zu dem Namen: die braune Gräfin?
Ach! sagte Melitta, das ist eine lange Geschichte und ein Beispiel jener närrischen Einfälle, von denen ich, wie Sie, heimgesucht werde, und die freilich bei mir meistens an das Gebiet der dummen Einfälle streifen. Vor sechs Jahren kam die Isabell zum ersten Male in unsere Gegend. Sie war damals vielleicht zwanzig Jahre – vielleicht, denn genau weiß sie es selbst nicht. Ihr Kind, die Czika, war vier Jahre alt; das wußte sie, denn es war wirklich ihr eigenes Kind und keine gestohlene Prinzessin oder dergleichen.
Woher wissen Sie das?
Aus der frappanten Aehnlichkeit zwischen Mutter und Kind, die Ihnen doch auch aufgefallen sein muß. Beide waren damals bildschön, so schön, wie ich nie wieder etwas gesehen habe. Ich glaube, kein Mensch hätte ungerührt bleiben können bei dem Anblick dieser jugendlichen Mutter mit ihrem prächtigen Kinde, das in seiner wunderlichen Tracht und in seinen üppigen dunklen Locken so gut für einen Knaben wie für ein Mädchen gelten konnte. Ich habe nur auf Murillo's sonnegetränkten, leidenschaftdurchglühten Bildern später etwas Aehnliches gesehen. Ich, die ich die Schwäche habe, mich auf malerische Schönheit verstehen zu wollen, und selbst ein wenig in dieser herrlichen Kunst pfusche, zeichnete und malte damals vom Morgen[89] bis in den Abend Zigeunerköpfe. Ich vergaß nämlich, zu sagen, daß ich die Beiden ein paar Tage lang hier in Berkow festhielt. Zufällig mußte ich damals eine große Gesellschaft geben. Und – jetzt kommt der dumme Einfall – um unserer albernen Sippe einen Possen zu spielen, denn das war doch der eigentliche Grund, kleide ich die Isabell in das prächtigste Kleid, das ich in meiner Garderobe auffinden kann, lasse die Czika von meiner Kammerfrau herausputzen, und präsentire sie der Gesellschaft als Gräfin von Kryvan mit ihrem Töchterchen Czika, die ich im vorigen Jahre in Marienbad kennen gelernt habe und die so eben aus dem fernen Ungarland mich zu besuchen gekommen sei.
Und was sagte die Gesellschaft?
Sie war entzückt. Ich hatte ihr vorher angekündigt, daß Isabella von dem streng nationalen ungarischen Adel sei, der sich das Wort gegeben habe, nie etwas Anderes, wie die Nationalsprache und außerdem nur noch Lateinisch zu sprechen.
Glaubte die Gesellschaft denn das? und versuchten die Herren nicht, eine lateinische Conversation zu beginnen?
Unserer Gesellschaft kann man Alles aufbinden, und was unsere Herren betrifft, so ist lateinisch ihnen spanisch. Isabella, das muß man ihr lassen, füllte ihren Platz auf dem Sopha mit wahrhaft königlichem Anstande aus, und die Griebens, die Trantows, die Bülows überschütteten die Standesgenossin mit Aufmerksamkeiten und bedauerten einmal über das andere ihre Unkenntniß der lateinischen Sprache, die es ihnen unmöglich mache, sich mit der fremden Dame in eine, jedenfalls höchst geistreiche und interessante Conversation einzulassen. Die kleine Czika wanderte von einem Schooß auf den andern, und wurde mit Leckerbissen und Küssen bald erstickt. – Kurz, die Komödie spielte zu meiner größten Zufriedenheit bis zu Ende, und in den nächsten Tagen war die ganze Nachbarschaft voll von der braunen Gräfin, wie man die Freundin Melitta's von Berkow kurzweg zu nennen beliebte. Nun, wie gefällt Ihnen die Geschichte?
Offen gestanden, nur halb, gnädige Frau. Ihrer vornehmen[90] Gesellschaft gönne ich diese Mystification von ganzem Herzen, aber es thut mir weh, wenn ich sehe, wie der Arme und Hülflose, eben weil er arm und hülflos ist, sich zum Spielding der Reichen und Mächtigen hergeben muß.
Melitta sah Oswald voll in die Augen und antwortete, ohne die mindeste Spur von Empfindlichkeit:
Sehen Sie, das ist hübsch, daß Sie so denken; und noch hübscher finde ich es, daß Sie es mir so geradezu sagen. Aber ich habe Ihnen ja von vornherein zu gestanden: es war ein dummer Streich, den ich nachher aufrichtig bereute und dessen böse Folgen ich, soweit ich vermochte, wieder gut zu machen mich bemühte. Denn, hören Sie nur, wie die Sache weiter verlief. Der braunen Gräfin hatte ich natürlich die Sachen geschenkt, die sie und die Czika bei der Komödie getragen. Das arme Weib, das mit dem Plunder nichts anfangen konnte, wollte ihn in der nächsten Stadt verkaufen. Man glaubte, sie habe die Sachen gestohlen, und verlangte, sie solle sich über den ehrlichen Erwerb derselben ausweisen. Sie vermochte es nicht, denn sie hatte meinen Namen und den Namen meines Gutes vergessen, und überdies konnte kein Mensch aus ihrem Kauderwelsch klug werden. Die Herren vom Gericht beschlossen deshalb in ihrer Weisheit, die braune Gräfin als Landstreicherin und Diebin einzusperren, bis sich die Sache auf eine oder die andere Weise aufklären würde. Unglücklicherweise war ich ein paar Tage zuvor in ein benachbartes Bad gereist, und während ich dort die frische Seeluft in vollen Zügen einsog, mußte die Aermste wochenlang in dem dumpfen Gefängnisse schmachten. Ach! und diesen Leuten ist die Freiheit Alles! Sehen Sie, das werde ich mir nie vergeben! – Erst nach meiner Rückkehr erfuhr ich durch einen Zufall das Unglück, welches ich angerichtet hatte. Natürlich that ich sofort die nöthigen Schritte. Ich fuhr selbst nach B. und öffnete den Ker ker meiner armen braunen Gräfin. Aber, wie fand ich sie wieder! Bleich, abgemagert, verhärmt, um so viele Jahre gealtert, als sie Wochen gefangen gesessen hatte. Die kleine Czika sah womöglich noch schlimmer aus. Ich nahm sie mit hierher nach Berkow; ich pflegte sie, ich tröstete[91] sie, ich beschenkte sie, ich that, was ich konnte. Aber die Reue kam hier, wie überall, zu spät. Der kleinen Czika war die Kerkerluft bis in's Herz gedrungen. Sie verfiel, kaum hier angekommen, in ein hitziges Fieber, und ich danke Gott noch heute, daß sie mit dem Leben davon kam. Was hätte ich anfangen sollen, wenn sie gestorben wäre!
Melitta schwieg und in ihrem Auge glänzte etwas, wie eine Thräne. Aber im nächsten Momente lachte sie schon wieder und sagte:
Nun, sie starb ja nicht, sondern wurde wieder munter und frisch wie vorher, und spielte sich mit meinem Julius hier wieder helle Augen und rothe Backen. Die Kinder hatten sich sehr lieb gewonnen, und ich hätte die Kleine gar zu gern hier behalten, sie mit Julius zusammen erziehen zu lassen. Das Kind zeigte die köstlichsten Anlagen, besonders ein überraschendes Talent für Musik. Die braune Gräfin wollte ich zu meiner Kammerfrau machen, oder wozu sie wollte. Ich stellte ihr frei, ihr Leben nach Belieben einzurichten, und bat sie nur, zu bleiben. Aber es war die alte Geschichte von dem Frosch und dem goldenen Stuhl. Ein paar Wochen hielt sie das zahme Leben aus; und eines schönen Morgens war sie verschwunden – sie und die Czika. Später sind sie wiederholt in diese Gegend gekommen, aber hierher zu mir kommen sie nicht mehr. Die Isabell grollt mir entweder noch, oder sie ist eifersüchtig auf mich und fürchtet, ich werde ihr die Czika stehlen. Und doch muß sie einsehen, daß ich es gut mit ihr meine. Die Leute im Dorf haben Befehl, ihr, wenn sie vorspricht, jede Gefälligkeit zu erweisen; der Förster hat den Auftrag, sie unbelästigt im Walde zu lassen, und ich versage mir das Vergnügen, sie aufzusuchen, weil ich fürchte, sie ganz zu verscheuchen. Das ist meine Geschichte von der braunen Gräfin. Sind Sie mir noch bös?
Welches Recht hätte ich dazu?
Nun, Sie machten vorhin ein so finsteres Gesicht, daß ich mich ganz als arme Sünderin fühlte.
Sie belieben zu scherzen. Was kann Ihnen an meinem Urtheil gelegen sein?[92]
Mehr, als Ihre jedenfalls halb erkünstelte Bescheidenheit zu glauben vorgiebt. Eine Frau hält stets große Stücke auf eines Mannes Urtheil, weil sie instinctiv fühlt, daß des Mannes Kopf besser, das heißt nicht schneller, aber gründlicher, sicherer denkt, als ihr leichtsinniges Frauengehirn. Und vor Euch gelehrten Herren haben wir noch einen ganz besonderen Respect. Ihr habt Alle um die Augen und um die Mundwinkel herum so etwas Mystisches, Unergründliches, so etwas –
Oswald mußte laut auflachen.
Ja, lachen Sie nur. Ihnen mag das nicht so erscheinen; aber wir fürchten uns vor Eurem Wissen, auch wenn wir Einen oder den Andern unter Euch, der gutmüthig genug ist, sich dazu herzugeben, zur Zielscheibe unseres Spottes machen. Da ist mein Bemperlein, mein guter, treuer Bemperlein. Nun, er ist wahrhaftig kein Genie, und kennt die Welt gerade so gut, wie ich das Griechische; und dennoch ziehe ich, wenn wir uns streiten, jedesmal den Kürzeren. Das ist doch ärgerlich. Nehme ich dagegen unsere Landjunker. Es sind hübsche, sehr hübsche Männer darunter, die in Landwehrlieutenants-Uniform sich mit ihren blonden Schnurrbärten, sonnengebräunten Gesichtern und hellen blauen Augen prächtig ausnehmen; aber in Civil sehen sie dumm aus. Sie haben das Stupide, Leblose von schönen Pferde- und Hundegesichtern. Der einzige von ihnen, der studirt hat, sieht aus, als wäre er aus einer andern Welt.
Wer ist dieser Phönix?
Baron Oldenburg.
Ein Schatten fiel über Melitta's lebensvolles Antlitz, wie wenn eine Wolke über eine sonnenhelle Landschaft jagt. Sie starrte auf ein paar Augenblicke vor sich hin, wie wenn sie den Faden des Gesprächs verloren hätte. Dann, wie aus einem Traum erwachend:
Ja, was ich sagen wollte – und darum will ich, daß mein Julius studirt. Aber ich schwatze und schwatze und frage nicht einmal, ob Sie nicht hungrig und durstig und müde sind, wozu Sie doch nach Ihren Kreuz-und Querfahrten das vollkommenste Recht haben. Kommen Sie, wir wollen hineingehen[93] und sehen, ob wir nicht Jemand auftreiben können, der uns einige Erfrischungen besorgt. Mich verlangt ebenfalls danach, denn es fällt mir ein, daß ich eigentlich nichts zu Mittag gegessen habe. Sind Sie noch gar nicht in dem Hause gewesen?
Doch, wenigstens in dem Hausflur. Ich fragte eine große Wanduhr, ob ich Frau von Berkow meine Aufwartung machen könne, aber sie antwortete: Schnick-Schnack, Schnick-Schnack! Da ging ich wieder fort!
Melitta hatte sich erhoben und ihren Strohhut aufgesetzt, ohne sich weiter um die Bänder zu kümmern, von denen das eine über den Busen, das andere über den Rücken lief, und sagte lächelnd, während Oswald im Aufstehen das Buch ergriffen und nach dem Titel gesehen hatte:
Für Sie spricht auch wohl jedes Ding seine Sprache?
So ziemlich. Dies Buch zum Beispiel sagt mir: Frau von Berkow könnte mich auch ungelesen lassen, da es so viel bessere Bücher zu lesen giebt.
Ja, du lieber Himmel, wir auf dem Lande lesen, was uns die Leihbibliothekare und die Buchhändler zu schicken belieben. Aber, was haben Sie gegen diese Mystères?
Erstens ärgere ich mich, daß ich auf das Buch stoße, wo ich gehe und stehe. In Grünwald lag es auf jedem Tisch; kaum war ich zwei Tage in Grenwitz, verfolgte es mich auch dahin, und nun muß ich es auch gar bei Ihnen finden. Ich habe es nicht bis über den zweiten Band hinaus bringen können, und Sie sind zu meinem Erstaunen schon im vierten. Wie können Sie sich für diesen Chourineur, diesen Maître d'école, diese Chouette, und wie das Gesindel sonst noch heißt, interessiren? Wahrlich, doch kaum so viel, wie für Bestien in der Menagerie. Denn diese sind doch wenigstens Gottes Geschöpfe, während jene nur die Ausgeburten der wüsten Phantasie eines verbrannten Dichtergehirns sind.
Sie mögen recht haben, sagte Melitta, während sie jetzt von der Terrasse in den Garten hinabstiegen. Es ist vielleicht ein Unglück, daß solche Bücher geschrieben werden, und ein noch größeres Unglück, daß wir, und besonders wir Frauen, in unserer[94] Erziehung und Bildung so verwahrlost sind, um an diesen Büchern doch eine Art von Geschmack zu finden. Uebrigens nehme ich Alles, was Sue von jenem Gesindel erzählt, auf Treu und Glauben hin, wie die Berichte eines überseeischen Reisenden von den Wundern, die er zu Wasser und zu Land erlebte, um so mehr, als er die Sphären der Gesellschaft, die ich kenne, zum Theil sehr wahr, sehr treu schildert.
Ist etwa Rudolphe, Grand Duc régnant de Gerolstein, auch nach dem Leben?
Das weiß ich nicht, aber so viel weiß ich, daß Geschichten, wie die des Marquis d'Harville und seiner Frau so oder ähnlich alle Tage im Leben vorkommen.
Oswald antwortete nicht; es fiel ihm ein, was er über das Verhältniß Melitta's zu ihrem Gemahl gehört hatte, wie Herr von Berkow nun schon seit sieben Jahren in unheilbarem Wahnsinn lag. Eine Ahnung der trauervollen Scenen bis zum Hereinbrechen der furchtbaren Katastrophe überkam ihn; es that ihm weh, daß unversehens an den Vorhang eines so dunkeln Familiendrama's gerührt hatte. Aber zugleich erfaßte ihn eine unendliche Theilnahme für die reizende Frau, die hier in dieser grünen Wildniß die schönsten Jahre ihres Lebens einsam vertrauern sollte. Was hilft ihr Jugend, Schönheit und Reichthum ohne Liebe! und wird sie wohl so geliebt, wie sie geliebt zu werden verdient, und sie geliebt zu werden wünscht, sie, durch deren sanfte, schmachtende Augen man in unergründliche Tiefen von Zärtlichkeit und Leidenschaft blickt?
Während Oswald so das Schicksal der schönen Frau beklagte, fühlte er, wie ein Quell schmerzlich süßer Gefühle warm aus seinem Herzen hervorbrach, und es bald bis zum Zerspringen füllte. Mit tiefen Athemzügen sog er die weiche, blumenduftgetränkte, warme Luft des üppig blühenden Gartens ein. Wollüstige Schatten erfüllten die lauschigen Boskets; träumerisch lag der Nachmittagssonnenschein auf den grünen Rasenplätzen; in den dichten Kronen der Bäume jubelten die Vögel, Schmetterlinge wiegten sich über den sonnentrunkenen Blumenwäldern der Beete.[95]
Langsam wandelten die schlanken Gestalten durch das grüne Revier, oft still stehend, hier einen Rosenbusch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke prangte als seine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen zuzuschauen, das sich lustig von Ast zu Ast und von Zweig zu Zweig schwang. Immer mehr überkam Oswald das Gefühl, als wandele er in einem herrlichen Traum; als träume er nur diesen Sonnenschein, diesen Blumenduft, diesen Vogelgesang; als träume er nur Melitta's süße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen – und auch Melitta war es, als ob sie heute mit ganz anderen Augen sehe, mit ganz anderen Ohren höre. Der fremde Mann, den sie durch ihre Besitzung führte, war ihr so vertraut, als kenne sie ihn schon seit vielen, vielen Jahren, als habe sie ihn immer gekannt; und was sie seit Jahren tagtäglich gesehen, erschien ihr jetzt beinahe fremd. Ihr Herz, das seit Jahren nur mit oberflächlichen Neigungen, mit leeren Coquetterien hingehalten war, schmachtete nach einer wahren, tiefen Leidenschaft; und sie fand die halb erfurchtsvollen, halb kühnen, aber immer aufrichtig bewundernden, zärtlich liebkosenden Blicke, mit denen der junge Mann an ihr hing und sie wie mit einem unsichtbaren Zaubernetz, dessen Maschen sich dichter und immer dichter woben, umspann, viel zu süß, als daß sie dem, der ihr dies süße Glück gewährte, nicht von Herzen hätte dankbar sein sollen.
Sie fühlte sich unsäglich glücklich, und dennoch ernster gestimmt, als es wohl sonst ihre Gewohnheit war. Der Sturm der Leidenschaft, der in ihrer Seele langsam heraufzog, warf schon seine dunkeln Schatten über ihr sonnenhelles Gemüth, und sein erster Anhauch zerriß den leichten Schleier, den die Zeit mühsam über so manches düstre Bild vergangener Tage gewebt hatte. Während Oswald den Bildungsgang, den er für Julius am geeignetsten hielt, entwarf, dabei auf sein eigenes Leben zu sprechen kam, und die schöne Frau, gleichsam als ein Zeichen seiner Liebe und Verehrung, so manchen Blick in das tiefgeheimste Leben seiner Seele thun ließ, fühlte sie sich mehr wie einmal auf das sonderbarste ergriffen. Manche Gedanken, die der junge Mann in seiner lebhaften Weise mit gefälliger Beredtsamkeit[96] vortrug, hatte sie, oft fast in denselben Worten, schon früher einmal gehört von einem Manne, der ihr sehr theuer gewesen war, dessen dämonische Natur ihren regen Geist angelockt und gefesselt, und dessen rauhe Schroffheit ihren weichen Sinn abgestoßen und beleidigt hatte. Hier fand sie die Rosen wieder, an deren üppigem Duft sie sich damals berauscht, aber ohne die Dornen; hier fand sie, was sie dort so schmerzlich vermißt hatte: Schönheit der Formen, Grazie der Bewegung und Anmuth der Rede.
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