Siebenundzwanzigstes Capitel

[238] Die Pferde zogen im Galopp an, der leichte Holsteiner-Wagen rasselte über den etwas holprigen Damm des Hofes. Im Nu lag das Schloß mit seinen noch immer lichterhellten Fenstern, die dunklen Scheunen und Ställe, die kleinen Häuslerwohnungen hinter ihnen, und sie befanden sich draußen zwischen den nickenden Kornfeldern und den nebelverhüllten Wiesen. Die kurze Sommernacht ging zu Ende. Im Osten verkündete ein hellerer Streifen den neuen Tag; die Dämmerung breitete über Alles gleichmäßig ihren grauen Schleier. Gerade vor ihnen nach Norden wetterleuchtete es von Zeit zu Zeit aus den trüben, dichten Dunstmassen. Alles war noch still auf den weiten Feldern, selbst die Lerche, die Tagverkünderin, säumte noch. Oswald hatte sich in eine Ecke zurückgelehnt, und sah träumend in die Dämmerung hinaus, nur manchmal, wenn der Dampf von des Barons Cigarre an ihm vorbeifuhr, wandte sich sein Blick auf diesen, der den Hut etwas in den Nacken gesetzt, den Kragen seines Rockes in die Höhe geschlagen, die langen Beine von sich streckend, in Nachdenken versunken schien. So mochten sie wohl eine Viertelstunde lang schweigend neben einander gesessen haben, als der Baron plötzlich sagte:

Sie rauchen ja nicht?[238]

Nein.

Darf ich Ihnen eine Cigarre anbieten?

Ich danke: ich bin kein Raucher!

Das ist wunderbar.

Weshalb?

Weil ich nicht begreifen kann, wie es ein Mensch im neunzehnten Jahrhundert aushalten kann, ohne Tabak oder Opium zu rauchen, Haschisch zu kauen oder sonst auf irgend eine Weise das katzenjämmerliche Gefühl seiner elenden Existenz in etwas abzuschwächen. Und gerade von Ihnen begreife ich es am wenigsten.

Warum gerade von mir?

Weil, wenn mich nicht Alles täuscht, Sie vor Sehnsucht nach der blauen Blume tödtlich erkrankt sind, und in dieser unbefriedigten Sehnsucht auch eines schönen Tages sterben werden. Sie erinnern sich doch der blauen Blume in Novalis' Erzählung? der Blume, nach der Heinrich von Ofterdingen's armes Herz verschmachtete? Die blaue Blume! Wissen Sie, was das ist? das ist die Blume, die noch keines Sterblichen Auge erschaute, und deren Duft doch die ganze Welt erfüllt. Nicht alle Creatur ist fein genug organisirt, diesen Duft zu empfinden; aber die Nachtigall ist von ihm berauscht, wenn sie beim Mondenschein oder in der Dämmerung des Morgens singt und klagt und schluchzt, und all die närrischen Menschen waren es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und aus dieser Krankheit ist keine Rettung – keine, als der Tod. Wer nur einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine ruhige Stunde mehr in diesem Leben. Als wäre er ein verruchter Mörder, als hätte er den Herrn von seiner Schwelle gestoßen, so treibt es ihn weiter, und immer weiter, wie sehr ihn auch seine wunden Füße schmerzen und es ihn verlangt, das müde Haupt endlich einmal zur Ruhe zu legen. Wohl bittet er, von Durst gequält, in dieser[239] oder jener Hütte um einen Labetrunk, aber er giebt den leeren Krug ohne Dank zurück; denn es schwamm eine Fliege in dem Wasser, oder das Gefäß, und wäre es von Asbest, war nicht reinlich, und so oder so – Erquickung hatte er sich nicht getrunken. Erquickung! Wo ist das Auge, in das wir einmal geschaut haben, um nie wieder in ein anderes, glänzenderes, feurigeres schauen zu wollen; wo ist der Busen, an dem wir einmal ruhten, um nie wieder das Pochen eines anderen, wärmeren, liebedurchglühteren Herzen hören zu wollen? wo? ich frage Sie, wo?

Der Baron schwieg; Oswald fühlte sich auf die seltsamste Weise bewegt. Was der sonderbare Mann an seiner Seite in einem fast elegischen Tone, der auffallend mit seiner sonstigen herben, rauhen Weise contrastirte, wie träumend, wie mit sich selbst redend, sprach, das waren so ganz seine eigenen Gedanken, die er oft und oft, als Knabe schon, und immer wieder im Leben gehabt, daß ihm fast ein Grauen ankam vor dieser geistigen Doppelgängerei. Er fand keine Antwort auf eine Frage, die er selbst aufgeworfen zu haben schien.

Es hat mir immer viel zu denken gegeben, hub der Baron wieder an, daß der Mensch sich selbst, seine Existenz erst mehr oder weniger vergessen muß, bevor er in den Zustand kommt, den wir in Ermangelung eines andern Wortes mit glücklich bezeichnen, und daß wir ihn um so glücklicher nennen müssen, je tiefer diese Vergessenheit ist. The best of life is but intoxication, sagt Lord Byron; ja wohl! die Liebe, die Romeo- und Julieliebe, für die man in den Tod geht, wie zu einem heitern Fest, ist auch nur ein Rausch! Schlafen ist besser als wachen, sagt die Weisheit der Inder; das Beste von Allem aber ist der Tod.

Und doch tödten sich im Verhältniß so wenig Menschen – warf Oswald ein.

Ja, das ist merkwürdig genug, sagte der Baron, besonders heut' zu Tage, wo die Meisten sich selbst vor den Hamlet-Träumen, die uns in jenem ewigen Schlafe kommen möchten, nicht mehr fürchten.[240]

Sollte dies nicht ein Beweis dafür sein, daß es mit dem vielgeklagten Unglück dieser Leute so sehr arg nicht sein kann?

Vielleicht; vielleicht beweist es aber auch nur, wie schwer es dem Menschen wird, die letzte Hoffnung schwinden zu lassen. Warum schleppt sich der verirrte Wanderer mechanisch weiter durch den tiefen Schnee? warum späht der arme Schiffbrüchige auf Salas y Gomez ein halbes Jahrhundert über die öde Wasserwüste nach dem rettenden Segel? warum zerschellt sich der auf Lebenszeit Eingekerkerte nicht den Kopf an der Wand seines Kerkers? warum erhängt sich der arme Schelm, der morgen früh hingerichtet werden soll, nicht heute Nacht schon in seinen Ketten? – weil ihr Unglück so groß nicht ist? Pah, glauben Sie doch das nicht – einzig und allein, weil noch immer ein schwacher Schimmer von Hoffnung, von Rettung durch die Hölle ihrer Leiden dämmert, wie dort der blasse Streifen im Osten. Wenn auch dieser matte Schimmer einmal verlöschte, dann, ja dann muß die alte Mutter Nacht ihr armes, verirrtes Kind wiedernehmen, die milde, gute, liebevolle Todesnacht.

Nach einer kurzen Pause, während welcher der Baron mächtige Dampfwolken aus seiner Cigarre geblasen hatte, fuhr er in etwas ruhigerem Tone fort:

Ich bin ein paar Jahre älter als Sie, und das Geschick verstattete mir, in kürzerer Zeit ein größeres Stück vom Leben zu sehen, als es sonst wohl dem Menschen gegeben ist. Ich habe das, wovon der graue Freund dem jungen Wolfgang in Leipzig eine möglichst große Portion wünschte: Erfahrung. Ich könnte, müßte wenigstens mittlerweile erfahren haben, daß für mich und meinesgleichen keine Hoffnung mehr im Leben ist, und dennoch, trotzdem daß ich sage: ich habe keine Hoffnung mehr, hoffe ich im Stillen doch immer auf ein mögliches Glück, wie der Schwindsüchtige auf Genesung. Nehmen Sie zum Beispiel eine Gesellschaft, wie die, aus der wir eben kommen. Ich weiß, wie hohl die Freuden dieser Menschen sind; ich weiß, wie kummervolle Gesichter, welch' erbärmliche Armensündermienen sich hinter den lachenden Gesellschaftsmasken verstecken – ich weiß,[241] daß dieses hübsche Mädchen in zehn Jahren eine unglückliche Frau oder eine Idiotin ist, daß dieser prächtige Junge, der den Kopf so hoch trägt und aussieht, als ob er sämmtliche zwölf Arbeiten des Herkules an einem Tage verrichten könne, ein plumper Landjunker sein wird, der gegen die Bauern das jus primae noctis geltend macht und nebenbei seine Frau womöglich prügelt – das weiß ich, und weiß noch mehr, und habe es tausend- und aber tausendmal im Leben gesehen, und doch bin ich noch so wenig blasirt, daß diese trügerische Fata Morgana eine zauberische Wirkung auf mich hat, bin so wenig ernüchtert, daß jede hübsche Mädchenblume die Hoffnung in mir erweckt, ich könnte wirklich einmal im Leben lieben oder geliebt werden, daß jede jugendlich schöne männliche Erscheinung mich wieder an Freundschaft glauben macht. Hätten Sie mir solchen Unsinn zugetraut?

Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so denken, so fühlen könnten.

Und darin hatten Sie vollkommen Recht, sagte der Baron; ich denke und fühle so auch nur, wenn ich, wie jetzt, complet betrunken bin. – Was war das?

Ein greller Schrei tönte aus geringer Entfernung durch den stillen Morgen zu ihnen herüber, – und noch einmal, schriller, verzweifelnder, wie wenn ein Weib – denn es war eines Weibes Stimme, das Messer in des Mörders Hand blinken sieht. Vor ihnen in geringer Entfernung lag ein Stück Waldland; der Weg führte daran herum, das Geschrei mußte von der andern Seite kommen, die jetzt noch durch ein paar einzeln stehende Eichen und durch dichtes Unterholz verdeckt war.

Zu, Karl! zu! schrie der Baron.

Der Kutscher hieb kräftig in die Pferde. Die edlen Thiere, wie voll Entsetzen über eine so unwürdige Behandlung, stürmten mit einer Schnelligkeit dahin, die den Insassen des Wagens leicht hätte gefährlich werden können. Im Nu war die Waldecke erreicht. Sobald sie einen Blick auf die andere Seite werfen konnten, bot sich ihnen das befremdendste Schauspiel dar. – Ein seltsam gekleidetes, braunes Weib, um deren bläulich[242] schwarze Haare ein Stück rothes Zeug turbanartig gewunden war, lief kreischend her hinter drei Reitern, die ihre Rosse zur größten Eile spornend, im nächsten Augenblick schon in einer neuen Biegung des Weges hinter den Bäumen verschwunden waren. Als der Wagen des Barons herandonnerte, sprang das Weib auf die Seite, und rief mit gellender Stimme, die Hände flehend erhebend: Mein Kind – mein Kind! sie haben mir mein Kind geraubt!

Nur mit Mühe konnte der Kutscher die Pferde zum Stehen bringen. Oswald, der in dem Weibe sofort die braune Gräfin erkannt hatte, war vom Wagen herabgesprungen.

Rette mein Kind, Herr! rette mein Kind! schrie die Zigeunerin, sich vor ihm niederwerfend und seine Kniee umklammernd.

Der Baron lachte.

Eine ungeheuer romantische Situation, Herr Doctor, rief er vom Wagen herab. Morgendämmerung, Wälderrauschen, Zigeuner, des Königs Hochstraße, – wahrhaftig: reiner Eichendorff! Unterdessen, daß Sie die schöne Beraubte trösten, will ich den Räubern nachsetzen, die übrigens nur Schafe in Wolfskleidern, das heißt ein paar unserer hohlköpfigen Junker sein werden, die das Ganze für einen genialen Spaß halten.

Der auf dem Schimmel war der junge Herr von Nadelitz, sagte der Kutscher, der die wilden Pferde kaum halten konnte, über die Schulter gewandt.

Zu! rief der Baron, wir wollen die Junker Mores lehren! Der Wagen donnerte weiter.

Die Zigeunerin hatte sich wieder erhoben. Sie sah dem Wagen nach, der in rasender Schnelligkeit auf dem höckrigen Waldweg dahinfuhr und jetzt hinter der vorspringenden Ecke verschwand. Ein seltsames Lächeln flog über ihr Gesicht, während sie, in athemloser Aufmerksamkeit lauschend, dastand. Dann, als ihr scharfes Ohr das Rollen des Wagens nicht mehr vernahm, kreuzte sie die nackten Arme über der vollen Brust, deren unruhiges Wogen einzig von dem Sturm, der eben noch ihren ganzen Organismus erschüttert hatte, zeugte, und starrte,[243] in tiefes Nachdenken versunken, düster vor sich nieder. Plötzlich hob sie den Kopf und sagte, die großen glänzenden Augen auf Oswald heftend:

Kennst Du den schwarzen Mann, der mir die Czika wiederbringt?

Ja, Isabell.

Ist er Dein Freund?

Nein.

Aber er wird es einst sein?

Vielleicht.

Ist er gut?

Ich halte ihn dafür.

Gedenkst Du noch des Nachmittags am Sumpfesrand, Herr?

Ja, Isabell.

Kannst Du die Stelle wiederfinden?

Ich glaube, ja; – weshalb?

Willst Du, wenn wiederum der volle Mond, wie heute Nacht, am Himmel steht, den schwarzen Mann an diese Stelle führen? O, sage: ja! bei Deiner Liebe zu der schönen, guten Frau, bei den Gebeinen Deiner Mutter beschwöre ich Dich, sage: ja!

Die Zigeunerin hatte sich abermals vor Oswald auf die Kniee geworfen, und blickte, die Hände über den Busen kreuzend, flehend zu ihm empor.

Steh' auf, Isabell; sagte der junge Mann: ich will Deinen Wunsch erfüllen, wenn ich kann.

Die Zigeunerin ergriff seine Hände, die er nach ihr ausstreckte, sie vom Boden zu heben, und küßte sie mit leidenschaftlicher Dankbarkeit. Dann sprang sie empor, eilte über die Breite des Weges dem Walde zu, und war im nächsten Augenblicke schon in dem dichten Gestrüpp, durch das sie mit der Kraft und Schnelligkeit des Hirsches sprang, verschwunden.

Ehe sich Oswald von dem sprachlosen Erstaunen, in welches ihn das räthselhafte Betragen der braunen Gräfin versetzt hatte, erholen konnte, vernahm er schon das Rollen des Wagens, der[244] in derselben Eile, mit der er sich vorhin entfernt hatte, zurückkam. Aber bevor das Fuhrwerk die vorspringende Waldecke, hinter der es verschwunden war, erreicht hatte, hielt es plötzlich, und um die Büsche herum kam der Baron, im bloßen Kopf, die kleine Czika auf dem Arm tragend.

Wir haben gejagt, wir haben gefangen! rief er schon von Weitem. Die feigen Wölfe ließen, sobald sie sahen, daß sie verfolgt wurden, die schöne Beute fahren, und machten, daß sie davon kamen. – So, Du kleiner Ganymed, nun sieh' zu, ob Dich Deine Füße wieder tragen –

Der Baron ließ das Kind aus seinen Armen auf den Boden gleiten. Aber wo ist denn die Mutter geblieben, oder wer sonst das braune Weib war? fragte er, erstaunt, Oswald allein zu finden.

Oswald theilte ihm in kurzen Worten mit, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte.

Nun, das ist nicht übel, sagte der Baron; ein Sache wird immer romantischer. Vollmond, Sumpfesrand, ein schlaues ägyptisches Weib und zwei gute deutsche Jungen, die sich nasführen lassen! – was sollen wir denn mit der Czika, wie Sie die kleine Prinzessin nennen – denn ich wette, es ist ein gestohlenes Königskind – unterdessen anfangen?

Wenn wir sie nicht auf der offenen Landstraße zurücklassen wollen, werden wir uns wohl entschließen müssen, sie mit uns zu nehmen.

Aber das Kind wird nicht mit uns gehen wollen. Höre, kleine Czika, willst Du mit mir gehen?

Ja, Herr, sagte das Kind, das bis jetzt, ohne eine Spur von Besorgniß, Furcht oder Angst zu verrathen, ruhig da gestanden hatte.

Hm! sagte der Baron, da komme ich ja zu einem Adoptivkinde, ich weiß nicht wie.

Er war mit einem Male sehr ernst geworden. Er streichelte der Czika die blauschwarzen seidenen Locken von der feinen Stirn und betrachtete sie lange unverwand.

Wie schön das Kind ist! murmelte er; wie wunderschön![245] Und wie groß es geworden ist! – komm mit mir, kleine Czika, Du sollst es gut, sehr gut bei mir haben; ich will Dich mehr lieben, als Deine Mutter, die Dich so schnöde verlassen, Dich je geliebt hat.

Mutter verläßt die Czika nicht; sagte das Kind, ruhig zum Baron emporblickend; Mutter ist, wo Czika ist; Mutter ist überall.

Sich von den Männern abwendend, legte es die Händchen an den Mund; und in den stillen Wald hinein gellte ein Schrei, dem Ruf des jungen, hungrigen Falken täuschend ähnlich.

Das Kind neigte den Kopf und lauschte; der Baron und Oswald hielten unwillkürlich den Athem an.

Da tönte aus dem Walde, aber offenbar schon aus größerer Entfernung, die Antwort: der helle, wilde Schrei des alten Falken, wenn er aus seiner luftigen Höhe, tief unter sich, die sichere Beute erspäht hat.

Siehst Du, Herr, sagte das Kind; Mutter verläßt die Czika nicht; wenn Du die Czika mit Dir nehmen willst, die Czika will mit Dir gehen.

Nun denn, so komm, Du junge Falkenbrut! sagte der Baron, das Kind bei der Hand ergreifend. Kommen Sie, Doctor! Ich glaube, daß Karl den Riemen, der vorhin riß, wohl wieder zusammengeflickt haben wird. Da kommt er schon. Alles in Ordnung, Karl?

Ja, Herr!

Die Herren stiegen ein, und nahmen das Kind zwischen sich.

Fort! rief der Baron; scharfen Trab!

Bald kamen sie aus dem Walde auf die weite Haide, die sich zwischen Faschwitz nach Grenwitz hinzieht, dieselbe Haide, auf der Oswald die alte Frau aus dem Dorfe getroffen hatte. – Es war noch eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Am östlichen Himmel legte sich ein Purpurstreifen über den andern. Die Luft wehte vom Meer kühl her über das feuchte Moor.

Die kleine Czika hatte sich dicht an den Baron geschmiegt und war fest eingeschlafen.[246]

Wie leicht das Kind gekleidet ist, sagte dieser; es wird sich erkälten in der scharfen Morgenluft.

Er richtete sich in die Höhe, zog seinen Ueberrock aus, hüllte die Kleine hinein, nahm sie auf den Schooß, und legte ihren Kopf an seine Brust.

So, so! sagte er gütig, so so! und dann zu Oswald, der in Nachdenken über den räthselhaften Charakter des Mannes an seiner Seite versunken, schweigend dagesessen hatte: Ich komme Ihnen ein ganz klein wenig toll vor; nicht wahr, Doctor?

Nein, sagte dieser, den Kopf emporhebend; nicht im mindesten.

Das kommt, weil Sie an derselben Krankheit laboriren.

Was Andere vor Erstaunen sprachlos macht, erscheint uns ganz natürlich; und was die guten Leute und schlechten Musikanten für ganz selbstverständlich halten, kommt uns oft geradezu fabelhaft vor. Ihnen wird es wohl nicht unglaublich erscheinen, wenn ich Ihnen sage, daß mir dieses Kind hier nun schon zum dritten Male im Leben begegnet, und daß ich so abergläubisch bin, in dieser dreimaligen Begegnung viel mehr zu sehen, als einen bloßen Zufall, wie ich denn überhaupt mit Wallenstein der Meinung bin, daß es keinen Zufall giebt.

Und wo und wann glauben Sie die Czika gesehen zu haben?

Das erste Mal vor vier Jahren in England. Ich ritt mit einem paar meiner englischen Freunde in dem abgelegensten Theile eines Parks. Als wir im Galopp um eine Ecke auf die Landstraße biegen, steht ein Kind da – ein braunes Kind mit großen, glänzenden, schwarzen Augen – und hebt die Händchen bittend empor. Ich achtete seiner, in lebhaftem Gespräch begriffen, kaum. Als wir ein paar hundert Schritte weiter geritten sind, packt es mich plötzlich wie mit Geisterhand. Ich kann die Empfindung, die mich überkam, nicht beschreiben. Mir war, als hätte ich, an diesem holden, hülflosen Geschöpf gleichgültig vorüberreitend, einen Frevel begangen, der mich zu dem erbärmlichsten aller Menschen machte. Ich warf mein Pferd[247] herum und jagte, wie wahnsinnig, nach dem Orte zurück. Das Kind war verschwunden. Ich rief nach ihm; ich stieg ab; ich durchsuchte die nächsten Gebüsche; die Freunde halfen, trotzdem sie über meine Tollheit, wie sie es nannten, lachten. Vergebens.

Das zweite Mal sah ich das Kind in Aegypten. Es sind jetzt gerade zwei Jahre. Wir, das heißt, eine kleine Caravane von Nilfahrern, die sich zufällig zusammengefunden hatten, durchzogen, auf Eseln reitend, die engen, winkligen Straßen Asyuts. Neben einer offenen Thür, durch die wir auf den stillen, schattigen Hof einer Moschee blickten, stand in der Nische der Mauer ein Kind, älter wie das Kind aus dem Park, und jünger wie das, welches hier in meinen Armen ruht, aber dasselbe braune Kind mit den blauschwarzen Locken und den leuchtenden Gazellenaugen. Wieder streckte es die Händchen bittend nach den Vorübergehenden aus, und rief den Ruf, den Sie überall in Aegypten hören: Backschisch, Howadji, Almosen, o Kaufleute! Ich sah das Kind, und sah es auch wieder nicht, denn ich war in einer jener verzweifelten Stimmungen, wie sie mich manchmal überkommen, wo ich Ohren und Augen offen habe, und dennoch weder sehe noch höre. Als wir um eine Ecke in die nächste Straße biegen, erfaßt mich genau dasselbe Gefühl, wie damals im englischen Park, ich springe vom Esel herab, laufe, was ich kann, nach der Stelle zurück. – Die Nische war leer. Die Thür zum Hofe der Moschee stand, wie gesagt, offen. Der Hof hatte auf der andern Seite eine zweite, ebenfalls nicht verschlossene Thür, die auf eine der Hauptstraßen führte, in der sich um diese Stunde – es war in der Abenddämmerung – Menschen, Kameele und Esel durcheinander drängten. Das Kind war und blieb verschwunden, und mit schwerem Herzen kehrte ich zu meiner Gesellschaft zurück, die sich mein Davonlaufen menschenfreundlichst durch die Annahme, ich sei urplötzlich toll geworden, erklärt hatte. – Halten Sie es für möglich, daß dieses Kind, das ich zuerst im englischen Nebel und das zweite Mal unter dem warmen Himmel Aegyptens[248] gesehen habe, mir jetzt in dem deutschen Buchenwalde zum dritten Male begegnet?

Und wäre es nicht dasselbe Kind, und – offen gestanden, ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, daß es dasselbe ist; antwortete Oswald; es müßte Ihnen dasselbe sein. Ich glaube an den Weltgeist, den ewig gleichen, der sich hinter den Dingen verbirgt, den ewig wechselnden; ich glaube, daß jene Lerche, die dort aus dem Haidekraut aufsteigt, und singend zum Himmel schwebt, dieselbe Lerche ist, zu der ich als Kind entzückt emporschaute, bis sie den scharfen Augen im blauen Raum verloren war: ich glaube, daß alle Helden Brüder sind und daß jeder Unglückliche eben derselbe Nächste ist, den, wie uns selbst zu lieben, Vernunft und Herz gleich gebieterisch von uns heischen. – Ob dieses Kind dasselbe ist, nach dem Sie nun schon zweimal vergeblich suchten – darauf kommt es nicht an; wohl aber darauf, daß Sie nach ihm suchten, daß der Ruf des armen verlassenen Geschöpfes jedesmal durch das Erz, mit dem Sie geflissentlich ihre Brust umpanzern, bis zu Ihrem Herzen drang. – Verzeihen Sie einem Manne, den Sie an Erfahrung und an Geist so weit überragen, diese Sprache, zu der ihn nichts berechtigt, als die Hochachtung, die er, halb gegen seinen Willen, vor Ihnen empfindet. Und verstatten Sie mir noch das eine Wort! Wenn Sie sich entschließen könnten, dies Kind zu lieben, so wäre es für Sie ein Geschenk, köstlicher und reicher, als Aladins Wunderlampe. Liebe ist allenthalben, außer in der Hölle, lautet ein tiefsinniges Wort Wolframs von Eschenbach; das heißt: wo keine Liebe ist, da ist die Hölle. Die Liebe ist der Duft der blauen Blume, der, wie Sie vorhin sagten, die ganze Welt erfüllt, und in jedem Wesen, das Sie von ganzem Herzen lieben, haben Sie die blaue Blume gefunden, nach der Sie Ihr Leben lang vergeblich suchten.

Ein unsäglich wehmüthiges Lächeln umspielte des Barons Lippen, während Oswald diese Worte sprach.

Sie lösen so doch das Räthsel nicht, sagte er leise und traurig, denn eben die Bedingung, daß wir von ganzem Herzen lieben müssen, wollen wir die Qual los werden, die uns das[249] Leben zur Hölle macht, können wir ja nicht erfüllen. Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? Wir Alle sind so abgehetzt und müde, daß wir weder die Kraft noch den Muth haben, die zu einer wahren, ernsten Liebe gehören, zu jener Liebe, die nicht ruht und rastet, bis sie jeden Gedanken unseres Geistes, jedes Gefühl unseres Herzens, jeden Blutstropfen unserer Adern sich zu eigen gemacht hat. Wenn Sie noch jung und gut und gläubig genug zu einer solchen Liebe sind – wohl Ihnen! Von mir kann ich nur wiederholen, was ich vorhin schon sagte: ich habe es aufgegeben, die blaue Blume zu finden, die wunderholde Blume, die nur dem Glücklichen blüht, der noch mit ganzem Herzen lieben kann. – Doch hier sind wir vor dem Thore von Grenwitz, und wir müssen ein Gespräch abbrechen, daß ich in allernächster Zeit und Ihnen fortsetzen zu können hoffe und wünsche. Leben Sie wohl, und erkundigen Sie sich recht bald persönlich nach dem Befinden des kleinen Wesens, das ja Ihr Schützling fast noch mehr ist, als der meine.

Der Wagen entfernte sich rasch. Oswald schaute ihm noch lange nach; dann schritt er, gesenkten Hauptes, über die Brücke und über den Hof dem Schlosse zu. Die Sonne war aufgegangen und badete die grauen Mauern in Frührothlicht; in dem thaufrischen Garten jubelten die Vögel, – aber für Oswald lag ein grauer Schleier über dem köstlichen Morgen, denn in seinem Ohr klangen die Worte des Barons: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz?

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 238-250.
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